Wer glaubt, die von der Globalisierung beschleunigte, weltweite Ausbreitung des Corona-Virus wecke möglicherweise auch unter den Verfechtern der Ideologie der grenzenlosen Weltoffenheit Zweifel am Dogma eines möglichst ungehinderten globalen Austauschs von Kapital, Gütern und Arbeitskräften, sieht sich bei den Mitgliedern des Rats für Migration (RfM), eines schlechteren belehrt. Beim RfM handelt es sich um einem Zusammenschluß von 160 deutschen Hochschullehrern, die auf die eine oder andere Weise Migrationsforschung betreiben. Seine beiden Vorsitzenden, Yasemin Karaksoglu und Paul Mecheril, haben auf der Homepage dieses eingetragenen Vereins, der von der Freudenberg-Stiftung gefördert wird, unter dem Titel „Sars-CoV 2 und die (un-)gleiche Vulnerabilität von Menschen“ eine Stellungnahme veröffentlicht, die sich für eine neue, universalistische Weltordnung ausspricht.
Diesem aus Sicht der beiden RfM-Vorsitzenden höchst erfreulichen Universalisierungsschub steht ihrer Meinung nach bedauerlicherweise entgegen, dass das Corona-Virus zwar als großer Gleichmacher jeden befallen kann, die Corona-Pandemie aber nicht alle Länder und alle Bevölkerungsschichten in gleicher Weise treffe. Je nachdem, in welchen Ländern die gefährdeten Menschen lebten und welchen Bevölkerungsgruppen sie angehörten, seien sie „in einem Ausmaß unterschiedlich durch das Virus verletzbar, bedroht und angreifbar, die auf die Unvergleichbarkeit ihrer Lebensumstände verweist.“ Gemeint ist hier wohl eher die Ungleichheit, nicht die Unvergleichbarkeit von Lebensumständen, deren Ungleichheit im Übrigen allein dadurch festgestellt werden kann, dass sie miteinander verglichen werden.
Von dieser Begriffs-Verwirrung abgesehen liefern die beiden Vorsitzenden, von denen die eine (Karakasoglu) Professorin für interkulturelle Bildung an der Universität Bremen und der andere (Mecheril) Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Bielefeld ist, keinerlei wissenschaftlichen oder sonstigen Belege für ihre Behauptung. Aus New York wird inzwischen zwar berichtet, dass die Zahl der Infizierten und Verstorbenen in den unteren, von Schwarzen und Latinos geprägten Bevölkerungsschichten deutlich höher ist als in den mittleren und oberen, in denen die Weißen dominieren. Ob die Zahlen, gemessen an den jeweiligen Anteilen an der Bevölkerung, aber signifikant höher sind, ist bislang noch nicht bekannt und kann wohl erst festgestellt werden, wenn die Pandemie vorüber ist. Dann erst lässt sich überhaupt seriös empirisch ermitteln, welche Länder und welche Bevölkerungsgruppen in welchem Ausmaß von Sars-CoV-2 getroffen und geschädigt worden und was die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Gründe für seine Ausbreitung und mögliche Unterschiede in seiner Ausbreitung und Wirkung sind.
Nun kann man durchaus vermuten, dass die miserablen Lebensumstände in vielen wirtschaftlich unterentwickelten Regionen dieser Welt im Falle einer viralen Pandemie die in den dortigen Elendsvierteln lebenden Menschen wahrscheinlich höheren Risiken aussetzen als beispielsweise ihre herrschenden Eliten in deren Wohnvierteln oder auch ganze Bevölkerungen in den wirtschaftlich entwickelten Ländern dieser Welt. Die Ursachen für derlei Schieflagen sind allerdings keineswegs allein dem „globalen Norden“ anzulasten, wie es die beiden RfM-Vorsitzenden mit moralisch erhobenem Zeigefinger tun. Dieser habe von Brutalität und Erbarmungslosigkeit geprägte (welt)gesellschaftliche Ordnungen geschaffen, die in der derzeitigen Corona-Pandemie nicht nur ganze Länder und bestimmte Bevölkerungsschichten benachteiligten, sondern den privilegierten Ländern und Bevölkerungsschichten auch noch erlaubten, „den erzwungen Lockdown als willkommene Entschleunigung des überhektischen Alltags zu erleben.“
In den Fokus rücken nach diesem Ausflug in die Dritte Welt in der RfM-Stellungnahme nun die „Sammelstellen und Lager, in denen Geflüchtete in (deutschen) Städten und auf dem Land, in menschenverachtender Weise nicht zuletzt an den sogenannten Europäischen Außengrenzen festgehalten werden“, dann aber auch Pflegeheime, Gefängnisse und Psychiatrien, alles Orte, an denen „die (welt)gesellschaftlich Unerwünschten und Überflüssigen“ untergebracht seien. Sie alle unterlägen einer „spezifischen und spezifisch erhöhten Vulnerabilität“ und lebten, im Unterschied zu allen anderen Bevölkerungsgruppen, „in Sichtweite auf das Sterben“.
Inzwischen vorliegende und einigermaßen gesicherte Erkenntnisse der Virologen und Epidemiologen, dass Sars-CoV-2 vor allem ältere Infizierte sowie Infizierte mit bestimmten Vorerkrankungen schwer erkranken und sterben lässt, jüngere Menschen und vor allem Kinder hingegen nur wenig mit schweren Erkrankungen oder gar dem Tod bedroht, scheint die beiden RfM-Vorsitzenden in ihrer hypermoralischen Phillipika gegen die wirtschaftlich entwickelten Länder und deren Bürger nicht weiter zu interessieren. Sonst müssten sie sich ja fragen, ob aufgrund der deutlich jüngeren Alterspyramiden etwa in den Ländern der Dritten Welt die Bedrohungslagen möglicherweise geringer sein könnten als im demographisch überalterten „globalen Norden“. Auch die Unterkünfte für Asylbewerber in Deutschland sind deutlich stärker von jungen Personen und Kindern als von alten bewohnt. Die engen Raumverhältnisse erhöhen vermutlich zwar das Ansteckungsrisiko, was aber nicht zwingend zu einer höheren Mortalitätsrate als zum Beispiel in einem Wohnblock, der überwiegend von Rentnern bewohnt wird, führen muss. Die Faktoren, die die Ausbreitung und deren Folgen beeinflussen, sind ohnehin sehr komplex und keineswegs monokausal.
Wie schon gesagt: Die kausalen Zusammenhänge empirisch zu durchleuchten und die daraus sich ergebenden Folgen der Corona-Pandemie aufzuklären sind zusammen mit der Erarbeitung praktikabler Ratschläge, wie sich von der Pandemie besonders betroffene Länder und Bevölkerungsgruppen in Zukunft besser vor ähnlichen Gefahren schützen können, eine Angelegenheit nicht nur der naturwissenschaftlichen, sondern auch der sozialwissenschaftlichen Forschung. Darum geht es den Vorsitzenden des RfM aber offenkundig nicht. Ihr Interesse gilt nicht der vorurteilsfreien wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern dem „Einsatz für eine andere ökonomische, ökologische, soziale (Welt-)Ordnung, in der die allgemeine Gleichheit des Menschen in Strukturen und Praktiken globaler Solidarität konkret wird.“ Gefordert wird eine „Entgrenzung der Demokratie“ in Gestalt einer „weltumspannenden Verantwortungsgemeinschaft“, mit denen alle nationalen Eigeninteressen überwunden werden sollen. Ein neuer Garten Eden, aus dem die Menschen im „kapitalistischen Anthropozän“ vertrieben worden sind, und in den sie nun laut dem RfM dank Sars-CoV-2 wieder zurückkehren könnten.
Es mag beruhigen, dass eine solche Stellungnahme aus der Wissenschaft zur Corona-Pandemie angesichts des derzeitigen Problem- und Entscheidungsdrucks, unter dem die Politik steht, nur wenig Aussicht hat, dort Gehör zu finden. Ändern könnte sich dies allerdings, sollten unsere grünen und linken Bannerträger des Universalismus im Bund und in den Ländern noch mehr Einfluss gewinnen. Höchst beunruhigend ist mit Blick auf das deutsche Wissenschaftssystem allerdings jetzt schon, dass sich ein Zusammenschluss von Hochschullehrern aus unterschiedlichen (sozial-)wissenschaftlichen Disziplinen zu einer Pandemie in der Art einer durchgeknallten religiösen Sekte äußert.