Tichys Einblick
R21 diskutiert Wende in der Migrationspolitik

Während Merkel sich selbst lobt, sagen zwei CDU-Politiker: Goodbye, Mutti

Eine Veranstaltung der Denkfabrik R21 in Berlin verspricht eine Zeitenwende in der Migrationspolitik. Wie viel davon politische Realität wird, ist offen. Auf der Veranstaltung wurde deutlich: Andere Länder haben den Kurswechsel längst hinter sich.

picture alliance/dpa | Christoph Soeder

Seit ihrer Gründung im Jahr 2022 nimmt sich die liberal-konservative Denkfabrik R21 immer wieder Themen vor, die ihren Veranstaltungen in Berlin Aufmerksamkeit garantieren. Jedes Mal geht es um den Rückblick auf die Entwicklung während der vergangenen Jahre – auf den oft naiven Umgang mit der Wokeness, den Islamismus, den deutschen Energie-Sonderweg, die Ära Merkel als Ganzes – und eine Neuausrichtung auf das, was der Mainzer Historiker und R21-Mitgründer Andreas Rödder „bürgerliche Reformpolitik“ nennt.

Als die Organisation in der vergangenen Woche nach Berlin in Nähe des Checkpoint Charlie lud, stand die Migrationspolitik auf dem Programm – Rückschau auf die Zeit sowohl der Unionskanzlerin als auch der Ampel – und die Frage, wie sich Asyl- und Einwanderungspraxis so sortieren lassen, dass sich für beides wieder eine Mehrheit in der Bevölkerung findet. Titel der Tagung: „Konsequenz und klare Regeln: Für eine Zeitenwende in der Migrations- und Integrationspolitik“. Der Begriff ‚Zeitenwende‘ kündigte schon an, dass es um einen Abschied von der Vergangenheit gehen sollte, die die meisten Funktionäre der SPD und der Grünen auch heute noch als alternativlos betrachten, genauso wie die Vertreter der etablierten Medien. Und sogar einige CDU-Vertreter. Dazu gleich mehr.

Zwei Dinge konnten die Macher von R21 allerdings nicht einkalkulieren, als sie die Veranstaltung planten: erstens den Ampel-Bruch. Ihre Konferenz fällt also in die Frühphase des Bundestagswahlkampfs, in ihren Auftritten auf dem Podium formulieren CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann und der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion Thorsten Frei deshalb etwas deutlicher als im Berliner Normalpolitikbetrieb üblich.

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Zweitens will es die Hauptstadt-Terminplanung, dass am gleichen Abend, an dem Linnemann, Frei und andere sich von den Einwanderungs-Illusionen des Jahres 2015 verabschieden, nur reichlich zwei Kilometer Luftlinie entfernt Angela Merkel auf der Bühne des Deutschen Theaters am Spreeufer sitzt, um ihren 700-seitigen Rechenschaftsbericht unter dem Titel „Freiheit“ vorzustellen.

Selbstverständlich sieht die frühere Langzeitvorsitzende der CDU in der Migrationsfrage und auch sonst im Rückblick nichts, was sie damals als Kanzlerin hätte anders machen sollen. In einem Begleitinterview zu ihrem Buch erklärt sie die Integration von Migranten zur „Bringschuld“ der Deutschen, in einem anderen meint sie, Zurückweisungen an der Grenze dürfte es nach wie vor nicht geben.

Den Mangel an Unterbringungsmöglichkeiten, die Überforderung der Kommunen, den weit überproportionalen Anteil von Migranten bei Messerkriminalität und anderen Gewalttaten – all das klammert die Kanzlerin im Ruhestand nach ihrer bewährten Methode von vornherein aus. Stattdessen zitiert sie im Deutschen Theater einen berühmten Satz aus dieser Zeit, der sich auch in „Freiheit“ wiederfindet: „Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Dafür erntet sie warmen Applaus. Ihre Botschaft lautet zusammengefasst: Alles war gut. Nicht nur in der Migrationsfrage, aber dort ganz besonders.

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Das, was Linnemann und Frei in der Kontrast- und Parallelveranstaltung am Checkpoint Charlie zur künftigen CDU-Migrationspolitik erklären, lässt sich unter der Überschrift zusammenfassen: Goodbye, Mutti.

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Folgt man ihren Ausführungen, dann soll von Merkels Politik der offenen Grenzen nichts mehr übrigbleiben. Der CDU-General spricht sich nicht nur für Grenzkontrollen und Zurückweisungen aus, sondern auch für die Auslagerung von Asylverfahren in Staaten außerhalb der EU. Und er sieht eine grundsätzliche Überlastung des Landes: „In den letzten Jahren sind zwei, drei Millionen Migranten gekommen. Das ist einfach zu viel.“ Er hoffe, „dass Europa aufwacht“ in der Migrationsfrage – was wohl heißen soll, dass eine neue Bundesregierung sich mit Ländern wie Italien, Frankreich, Schweden und anderen schnell auf härtere EU-weite Regeln einigen könnte, um nicht Asylberechtigte gar nicht erst in das Schengengebiet einreisen zu lassen.

Auch in der Integrationspolitik muss es seiner Meinung nach eine echte Politikwende geben. Die Verharmlosung des politischen Islam, die Zahlung von staatlichem Geld an alle möglichen Islamverbände, „das hat sich in die völlig falsche Richtung entwickelt“. Er überlegt sogar laut, ob es nicht an der Zeit wäre, das Programm „Demokratie leben“, mit dem die grüne Familienministerin Lisa Paus ein links-migrationsbegeistertes Organisationsvorfeld beregnet, für Sport- und andere bürgernahe Vereine umzuwidmen.

Dass linke Parteien, NGOs und Medien solche Wortmeldungen als ‚rechts‘ und ‚populistisch‘ etikettieren, weiß Linnemann, will sich davon aber nicht abschrecken lassen. „Zu unseren Wurzeln“, erklärt er auf dem Podium von R21, „gehört auch die Konservative. Dazu stehen wir, auch wenn uns mancher dafür in die rechte Ecke rücken will.“ Den Begriff ‚konservativ‘ entsorgte Merkel bekanntlich mit ähnlich spitzen Fingern wie weiland das Deutschlandfähnchen, das sie im Adenauer-Haus ihrem damaligen Generalsekretär Hermann Gröhe aus der Hand nahm.

Vor Linnemann wiederholte der Erste Geschäftsführer der Unionsfraktion Thorsten Frei bei R21 seine in einem FAZ-Beitrag veröffentlichte Forderung, das deutsche Individualrecht auf Asyl durch eine institutionelle Garantie zu ersetzen. Gleichzeitig sollten Migranten von Sozialleistungen wie dem Bürgergeld grundsätzlich ausgeschlossen werden. Für diese These, sagt Frei, habe er parteiintern viel Zustimmung erhalten. „Und diejenigen in der CDU, die das nicht unterstützen, haben sich diesmal sehr zurückgehalten.“

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Sein zentrales Argument lautet, für die Migrationspraxis der EU habe der Asylartikel im deutschen Grundgesetz ohnehin kaum noch eine praktische Bedeutung; es gälten vielmehr fast durchweg EU-Recht und höchstrichterliche Urteile auf europäischer Ebene. Also liege die Chance darin, nach einem Regierungswechsel in Berlin zu einer neuen Einigung unter den Staaten zu kommen. Auf die Frage, ob denn das seiner Meinung nach ohne eine Verfassungsänderung ginge, vor allem, was die Reduzierung von Sozialleistungen angehe, antwort er: „Wahrscheinlich nicht.“ Aber er sei zuversichtlich, dass es zu diesem Schritt kommt. An dieser Stelle betritt ganz kurz ein Elefant den Raum, um gleich wieder zu verschwinden. Denn eine Zweidrittelmehrheit für einen solchen Akt kommt im Bundestag aller Wahrscheinlichkeit auch nach der Wahl im Februar nicht ohne die AfD zustande.

Die eigentliche Überraschung der R21-Konferenz erschließt sich erst auf den zweiten Blick: Die Ausführungen des Rechtsprofessors Daniel Thym zeigen, wie stark sich auch im akademischen Bereich die Diskussion der Gegenwart von der des Jahres 2015 unterscheidet. Thym, heute Leiter des Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht der Universität Konstanz, gehörte vor sieben Jahren zu den Juristen, die Merkels Entscheidung rechtfertigten, die Grenzkontrolle praktisch aufzugeben, und erst einmal jeden ins Land zu lassen.

Schon damals stand zwar im Grundgesetz, das Asylrecht gelte erstens nur für politisch Verfolgte, und zweitens für keinen, der über einen sicheren Drittstaat einreist. Thyms Argument lautete damals, das Europarecht überlagere eben die deutsche Verfassung. Heute sieht er die Lage deutlich anders. Er meint in der Podiumsdiskussion, es sei illusorisch, „die Migrationsfrage an der deutschen Grenze regeln zu wollen“, also einfach zurückzuweisen, meint damit aber etwas Ähnliches wie Frei: Die eigentliche Entscheidung müsse an der EU-Außengrenze oder sogar schon früher fallen.

Und er nennt noch einen anderen Punkt: Das Konglomerat von Regeln und Urteilen zur Einwanderung sei inzwischen viel zu kompliziert und praktisch kaum noch handhabbar: „Wir müssen überlegen, ob es nicht Zeit ist, das Migrationsrecht radikal zu vereinfachen.“ Er nennt ein Beispiel: „Als ich angefangen habe, zum Thema Asylrecht zu forschen, war die Abschiebehaft in 200 Worten geregelt. Heute sind es 2000.“ Jeder Gerichtsentscheidung dazu habe die Anforderungen noch weiter nach oben geschraubt. Ganz nebenbei sagt er einen Satz, der die radikale Abkehr von 2015 bedeutet: Man müsse auch überlegen, „ob wirklich weiter jeder in die EU kommen kann, der an der Außengrenze ‚Asyl‘ sagt.“

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Ein anderer Forscher, der allerdings schon seit Jahren zu den Kritikern der maximalistischen deutschen Asylpraxis gehört, plädiert ebenfalls für einen gründlichen Kurswechsel: Ruud Koopmanns, Professor für Soziologie und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität Berlin. Er hält die Durchführung von Asylverfahren in Staaten außerhalb der EU nicht nur für möglich, sondern für unausweichlich. Das von Grünen, SPD und NGOs gern angeführte Argument, der abgebrochene Versuch der britischen Regierung, Verfahren nach Ruanda auszulagern, habe das Scheitern dieses Modells bewiesen, lässt er nicht gelten. „Der Ruanda-Pakt ist deshalb schiefgegangen, weil er schlecht verhandelt war.“ Für die EU-Länder, glaubt er, gebe es gute Möglichkeiten, mit Ländern wie Albanien und Moldawien entsprechende Vereinbarungen zu schließen.

Es kommt auch ein Ex-Politiker zu Wort, der dafür sorgt, dass die Debatte nicht nur um Deutschland kreist: Der deutsch-dänische Politiker Simon Faber, bis 2010 Mitglied des dänischen Parlaments, dann bis 2016 Oberbürgermeister von Flensburg. Die Debatten, die Deutschlands Parteien jetzt zur Migrationspolitik führten, meint Faber mit leisem Spott, „sind etwa auf dem Stand, den wir in Dänemark in den Neunzigern hatten“. Die regierenden dänischen Sozialdemokraten setzen die mittlerweile härteste Migrationspolitik in Europa um – und zwar im weitgehenden politischen Konsens.

Der erste Unterschied zu Deutschland sei, dass andere Parteien die rechte Dansk Folkeparti, die Dänische Volkspartei, nicht mehr mit politischer Isolation gestraft hätten. Und zweitens habe die sozialdemokratische Partei eine Wende in der Migrationsfrage vollzogen, „nachdem sie vorher Wahl um Wahl verloren hatten“. Faber schildert die Bedingungen im nördlichen Nachbarland: strikte Begrenzung des Familiennachzugs, nur minimale Leistungen für abgelehnte Asylbewerber, außerdem eine sehr restriktive Einbürgerungspraxis. Und das alles durchgesetzt von einer Partei der linken Mitte.

Es sieht so aus, als würden an diesem Tag die Gegenwart und Zukunft bei R21 sitzen, und die Vergangenheit reichlich 2,4 Kilometer entfernt auf der Theaterbühne. Ganz so einfach verhält es sich nicht. In der Union selbst und auch unter ihren Wählern begeistern sich auch heute noch viele für Merkels Methode, politische Fragen zu moralisieren, und Unangenehmes einfach auszuklammern.

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Und die Denkfabrik R21 gilt zwar als CDU-nah. Aber sie stellt keine Unterabteilung des Adenauer-Hauses dar. Das macht zum einen freimütige öffentliche Debatten erst möglich. Zum anderen kann das, was Mandatsträger und Wissenschaftler dort diskutieren, vielleicht zur CDU-Realität werden, vielleicht aber auch auf halbem Weg in den Berliner Mühlen steckenbleiben. Zumal die Union nach dem 23. Februar mindestens einen Koalitionspartner braucht, womöglich sogar zwei.

R21-Gründer Rödder saß bis 2023 der CDU-Programmkommission vor, gab den Posten aber ab, nachdem ihn Parteifreunde für seine Überlegung, Unionsinhalte gegebenenfalls auch mit AfD-Stimmen durchzusetzen, mit heftiger Kritik überschütteten. Die Co-Vorsitzende Kristina Schröder, ehemals Bundesfamilienministerin unter Merkel, würde gern wieder zurück in die aktive Politik.

Aber auch das muss noch nicht heißen, dass sie in einem Kabinett Merz ohne weiteres einspeisen kann, was eine Denkfabrik produziert. Der Hauptverbündete der Politiker und Wissenschaftler, die eine Zeitenwende in der Migrationspolitik fordern, heißt: Realität. Die unterscheidet sich schon heute in vielen europäischen Ländern von der deutschen. Allerdings: Im politischen Berlin gehört das Realitätsprinzip oft nicht zu den stärksten Alliierten, die jemand ins Feld führen kann. Selbst dann nicht, wenn die Mehrheit draußen längst eine Wende in der Einwanderungspolitik will.

„Wenn eine neue Regierung aber keine deutliche Trendumkehr bewirken und sich von der Ampel nicht grundsätzlich unterscheiden würde“, meint R21-Chef Rödder, „dann würde das nicht nur zu einem Problem für die Union bedeuten, sondern auch für die Demokratie“ – weil sich dann noch mehr Bürger abwenden.

Eins jedenfalls gilt als sicher: 2025 muss sich die Union entscheiden, in welche Richtung sie gehen will.


Mehr zu dem Thema lesen Sie in der Dezember-Printausgabe von Tichys Einblick, die am 14.12.2024 erscheint.

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