„Yet there is a sense of malaise in Europe. A life dedicated to prosperity and pleasure no longer seems so assured.“ So schrieb mir gerade ein englischer Freund nach Rückkehr von seinem letzten Besuch auf dem Kontinent. „A sense of malaise“ – eine ebenso elegante wie treffende Formulierung, der Nutzen eines Studiums in Cambridge zeigt sich deutlich. Allerdings scheint dieses Gefühl nicht auf Europa beschränkt zu sein, in den USA ist es womöglich noch ausgeprägter.
Wir leben in einem Zeitenwandel, den wir alle schlicht verpennt haben. Mit dem Fall der Mauer war nicht nur der Ost/West – Konflikt, sondern auch das schablonenhafte Kommunismus/Kapitalismus und links/rechts – Denken obsolet geworden. Keiner hat es gemerkt, alle machten weiter wie bisher. Die „Sieger“ eroberten die Welt, wurden grenzenlos übermütig und haben den Bogen komplett überspannt. Natürlich taugt der Kommunismus/Sozialismus nichts, aber muss man deshalb gleich das Kind mit dem Bade ausschütten? Die Staaten verschrotten, Grenzen auflösen und eigene Utopien des kosmopolitisch-fundamentalliberalen Weltbürgers an die Stelle der kommunistischen Internationalen setzen? Dabei aber zugleich die Bürokratie ins Uferlose wachsen lassen, weil das nun einmal die notwendige Folge ist, wenn man – egal welche – illusionistischen Utopien umsetzen will?
Europa als sinnvolles Projekt, in welchem die unterschiedlichen Staaten „In Vielfalt geeint“ („In varietate concordia“) sein sollten, mutiert zum Projekt weitestgehender Gleichschaltung. Als neues und sehr viel passenderes Motto der EU schlage ich vor: „In Einfalt zerstritten“.
Und die Presse als Korrektiv, „4. Gewalt im Staat“ , wie sie oft genannt wird, gibt ebenfalls ein trauriges Bild ab, sowohl in Europa wie auch in den USA. Viele – allzu viele – Presseorgane, versuchen sich gar nicht mehr als objektive Berichterstatter, sondern als Erzieher der unmündigen Bürger. Zumeist dem Mainstream verhaftet, fehlt der kritische Diskurs, was den Frust vieler Bürger, die kein Sprachrohr mehr haben, verschärft hat.
Zeitenwandel verschlafen
Die tabloids in England sind nicht besser, sie trieben als vermeintliches Sprachrohr des kleinen Mannes die Politik z. B. in der Brexit-Frage vor sich her und haben jede noch so falsche Behauptung oder Zahl über die Kosten der EU und die Gewinne des glorreichen Austritts gerne und oft verbreitet. Stets schrieben sie gegen die „eggheads“ aus „Oxbridge“ an, die aus ihrem Elfenbeinturm heraus die Sorgen der Armen oder „jams“ (just about managing) nicht verstanden. Das sind diejenigen, die ihre einfachen Jobs an die Billigkonkurrenz aus asiatischen oder osteuropäischen Ländern verloren haben und die sich „definitly pissed off“ fühlten, wenn irgendwelche liberalen Vordenker das als win-win-Situation für alle darstellten. Sie hatten dadurch nichts gewonnen, im Gegenteil – zählten sie nichts? Es fühlten sich aber auch die in ländlicheren Gegenden Lebenden angesprochen, die London nur noch grauslich verrottet und schmutzig finden, wobei diese durchweg sogar höher gebildet sind, aber diese Form von Internationalität als nicht wünschenswert ablehnen.
Nirgendwo in Europa sieht es wirklich anders oder besser aus, wenngleich der Schreck über Trump und Brexit allen in die Glieder gefahren ist. Das hat erst einmal gebremst.
Dennoch sind wir am Ende des Regenbogens angekommen. Keine der eingebauten Sicherungen hat funktioniert. Unser System, gebaut für eine andere Zeit, versagt. Es führt vor allem dazu, dass viele Menschen sich unterdrückt fühlen. Sie bemerken enttäuscht, dass man in einer Demokratie genau so beherrscht und fremdbestimmt wird wie in vielen anderen Staatsformen. Es ist schlicht Unfug, in der Demokratie eine Form der Selbstbestimmung zu sehen, denn die Mehrheit bestimmt nun einmal über mich. Genau deshalb wurden ja auch als Gegengewicht die Menschenrechte und der Rechtsstaat erfunden. Diese wären überflüssig, würde jeder über sich selbst bestimmen. Allerdings ist dieser Grundrechtsschutz so löchrig wie ein Schweizer Käse.
Es ist also etwas faul im Staate. Hilft es, dagegen anzuschreiben?
So ist keiner da, der es ändern könnte.
Wie konnte es dazu kommen?
Holen wir die Problematik doch einfach mal von den olympischen Höhen staatstheoretischer Überlegungen und Weltanschauungen in simple Bodennähe. Politische Parteien sind Dienstleistungsunternehmen, der Bürger Konsument und zwar der Dienstleistung „Staatsmanagement“. Es ist eine etwas spezielle Dienstleistung, denn nicht jeder Empfänger von Serviceleistungen weist eine ausreichende Dankbarkeit auf. So wird der Servicewert von Abbruchverfügungen, Entzug der Fahrerlaubnis, Bußgeldbescheiden u. ä. oft nicht ausreichend geschätzt. In diesen wie in anderen Fällen ist auch die Qualitätssicherung nicht ganz trivial, kann man doch z. B. einen Strafgefangenen nach Vollzug kaum fragen: „Wie waren Sie mit Ihrer Unterbringung zufrieden? Wie beurteilen Sie Verpflegung sowie Freizeit – und Wellnessangebote? Würden Sie unser Komplettpaket „Staatliche Betreuung“ an Freunde und Verwandte weiterempfehlen? Und dürfen wir uns auf eine neue Buchung freuen? Für Rabattangebote bitte klicken Sie hier.“
In der Wirtschaftswissenschaft nennt man das „Asymmetrische Information“, was als eine der Hauptursachen von Marktversagen gilt. Hoppla – da haben wir doch schon einmal einen sinnvollen Erklärungsansatz. Marktversagen des politischen Marktes, das trifft es ziemlich gut.
Marktversagen im Politikmarkt
Die meisten Bürger können eben nicht abschätzen, ob der Euro oder die Euro-Rettungspolitik sinnvoll waren. Man hat ihnen beigebracht, die Atomkraft mehr zu fürchten als den Besuch der Schwiegermutter und dass man niemanden nie nicht keine Grenzen setzen darf. Schon kleinen Kindern nicht, mit denen muss man alles aushandeln, was man isst, was man wie spielt – Grenzen in jeder Form sind böse. Keiner kennt sich so ganz genau mit Kinderpsychologe aus und kann überprüfen, ob das wirklich richtig ist, aber egal. Gleiches gilt für die Funktionsweise von Integration oder von Grenzsicherungen, für Wirtschaft, Gesundheitswesen, Außenpolitik usw. Muss er ja eigentlich auch nicht, denn unsere Zivilisation basiert auf Arbeitsteilung, nur so wurde Fortschritt überhaupt möglich. Keiner kann alles wissen, dafür gibt es Fachleute. Aber dann kann und muss der Bürger als Konsument auch keine ausreichenden Informationen haben, um eine vernünftige politische Entscheidung treffen zu können, es muss zum Marktversagen kommen!
So kann das doch schon vom Ansatz her nichts werden. Wie aber könnte das Marktversagen korrigiert werden?
Anne Kann ist freie Publizistin.