Deutschland, aber auch Europa fiebert im Kataklysmos der Veränderung, im Sturm grundsätzlichen Weltwandels und in den Paroxysmen der Ideologien, die als Lumpensammler abgelegter Ideen auftreten. Ob Europa wieder Taktgeber der Welt wird oder in die Bedeutungslosigkeit stürzt, entscheidet sich jetzt. Nicht die Opposition der Populisten, sondern die „alternativlose“ Politik des Establishments spaltet die Gesellschaft, weil grundlegende Interessen nicht mehr vertreten, sondern in ihrer Berechtigung in Frage gestellt werden. In Frankreich zeichnet sich ein Aufstand der Mittelschicht ab. Postsozialismus und Neoliberalismus haben versagt und besitzen außerhalb von Pädagogik keine Antworten mehr auf die drängende Frage, wie Europa zukunftsfähig wird. Nach dem Scheitern von Sozialismus und Liberalismus ist es nun am Konservatismus, Antworten zu geben.
Überwachungskapitalismus
Die Globalisierung hat mit der Finanzialisierung des Kapitalismus, den Bedeutungsgewinn der durch das Internet ermöglichten Kommunikation und einem absoluten Wertanstieg von Information als Handelsware und politischer Waffe die Welt nach dem Ende des Kommunismus gründlich umgestaltet. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff sieht das Zeitalter des Überwachungskapitalismus anbrechen. Sie spricht von der „Verfinsterung des digitalen Traums und dessen rapide Mutation zu einem ganz und gar neuen gefräßigen kommerziell orientierten Projekt“.
Trifft die Bezeichnung Kapitalismus noch zu, oder muss man vom Überwachungsfeudalismus oder Überwachungsimperialismus sprechen? So wie der Feudalismus aus freien Bauern durch Landnahme Leibeigene schuf, reicht die digitale Landnahme in jeden Haushalt und auf jedes Konto und macht aus freien Bürgern Dateneigene. Deutsche Politiker sprechen nicht mehr von Bürgern, sondern nur noch von Menschen. Die Bürgerrechte, sucht man den „Menschen“ einzureden, müssen der Digitalisierung weichen, sie seien nicht mehr zeitgemäß, wie Meinungsfreiheit auch nur gelten soll, wenn man die richtige Meinung vertritt.
Progressive Konservative dürfen nicht hinnehmen, dass das Leben der Bürger, ihre Hoffnungen, Sehnsüchte und Träume, ihre Wünsche, aber auch ihre Schwächen, ihre Schutzlosigkeit und Manipulierbarkeit zum Rohstoff mächtiger Monopolisten wird. Nicht allein kommerzielle Interessen werden verfolgt, sondern es geht auch um Macht, Überwachung und Indoktrination. Insofern vereint der Überwachungskapitalismus sowohl Momente des Feudalismus als auch des Imperialismus und richtet sich in seiner Totalität gegen die Demokratie, gegen den Bürger und dessen noch verbriefte Rechte. Progressiver Konservatismus hat, der digitalen Versklavung der Bürger mit einem modernen, vom Bürger ausgehenden Konzept von Digitalisierung entgegenzutreten.
Bürgerrechte mit Menschenrechten aushebeln
Ein geschicktes Manöver grüner Ideologen besteht darin, durch eine einseitige Interpretation der Menschenrechte die Bürgerrechte auszuhebeln. Unter dem Vorwand der Menschenrechte wird im UN-Migrationspakt die Presse- und Meinungsfreiheit eingeschränkt, die geltende Rechtsordnung verändert und eine Zwei-Klassengesellschaft geschaffen. Progressiver Konservatismus hingegen verteidigt das Rechte der Bürger auf Selbstbestimmung über ihre Daten, auf Presse-und Meinungsfreiheit, auf umfassende Bildung, auf Heimat, auf soziale Einbindung, auf Tradition, Kultur, Brauchtum und Solidarität. Gerade zum Schutz der freien Bürgergesellschaft, der Mehrheitsrechte, die letztlich der juristische Ausdruck für Kultur, Identität und Heimat sind, gegen die auf ihre Kosten stattfindende Ausweitung der Minderheitenrechte müssen die Konservativen kämpfen. Denn der Konservatismus steht in der Verantwortung für die bürgerliche Demokratie, er wird aktiv, kämpferisch und progressiv sein oder er wird nicht sein.
Progressiver Konservatismus als Anwalt der Mitte
Progressiver Konservatismus steht als Anwalt der Mitte zwischen den Grünen und der AfD, wenn er versagt, wird sich die Auseinandersetzung zwischen Grünen einerseits und AfD andererseits radikalisieren und die Mitte wird sich politisch verflüchtigen, weil sie ohne eigenen Interessenvertreter sich für eine Richtung zu entscheiden haben wird. Auch wenn Medien, die sich eine grüne Republik wünschen, versuchen, die Grünen als Kraft der Mitte und als die neuen Konservativen hinzustellen, widerspricht das völlig den Tatsachen. Die Grünen machen Politik für den Radfahrer, nicht für den Pendler, die von ihnen inspirierte Energiewende, die zutiefst asozial ist, belastet die Familien und schafft eine neue Armut: Die Energiearmut, die Windräder, an denen ihre Klientel prächtig verdient, wurden zu Vögelexekutionsautomaten, wo die Grünen doch angeblich für die Biene und den Vogel einzutreten behaupteten, und zerstören zudem die Landschaft. Wer Robert Habeck gelesen hat, weiß, dass dem Vorsitzenden der Grünen die Vorstellung von deutscher Kultur, von Kultur fremd ist, wer den Gedanken Winfried Kretschmanns folgt, erkennt, dass für die Grünen Heimat nichts anderes bedeutet, als ihre Auflösung in einer multikulturellen Utopie, die sich schon heute als Dystopie herausstellt. Die Grünen sind nicht konservativ, sie sind allenfalls reaktionär, weil ihr Menschenbild vom unmündigen Objekt sozialer Pädagogik ausgeht.
Die CDU hat in einem informellen Bündnis mit den Grünen auf Bundesebene und in Koalitionen mit ihnen auf Landesebene grüne Inhalte durchgesetzt. Die Wähler wissen inzwischen nicht mehr, wofür CDU und SPD stehen – und die Parteien selbst auch nicht.
Der Vorzug, dass der Konservatismus keine Ideologie, sondern eine Haltung ist, gereicht ihm in Zeiten des Umbruchs zum Nachteil, weil von ihm erwartet wird, eine politischen Idee zu entwickeln. Vorstellungen, die unter Konservatismus gern ein konkretes Verhalten zur Gewichtung neuer politischer Projekte, ein Messen des unerprobten Neuen am funktionierendem Alten, des Fortschritts am Bestehenden, klingen wie ein freundliches „Ruhe sanft.“ Der melancholische Konservatismus wird sich nur dann als progressiver Konservatismus neu erfinden, wenn er begreift, dass sich in den letzten dreißig Jahren ein Establishment herausgebildet hat, das auf der Grundlage neoliberaler und grüner Ideologien eine Politik verfolgt, die den Interessen der meisten Bürger widerspricht und aus dem er ausgeschlossen ist.
Konservative müssen die schmerzliche Lektion lernen, dass sie nicht zum neuen Establishment gehören, für das die Soziologin Nancy Frazer mit Blick auf die USA folgende Definition vorschlug: „Die US-amerikanische Form des progressiven Neoliberalismus beruht auf dem Bündnis ›neuer sozialer Bewegungen‹ (Feminismus, Antirassismus, LGBTQ) mit Vertretern hoch technisierter, ›symbolischer‹ und dienstleistungsbasierter Wirtschaftssektoren (Wall Street, Silicon Valley, Medien- und Kulturindustrie etc.).“ Aus ihrer Sicht führte die neoliberale Politik Clintons und Obamas „zu einer Verschlechterung der Lebensverhältnisse aller Arbeitnehmer, besonders aber der Beschäftigten in der industriellen Produktion.“ Zur gesellschaftsauflösenden Ausweitung der Minderheitenrechte stellte sie fest, dass dieses neue Establishment die Emanzipation gleichsetzt „mit dem gesellschaftlichen Aufstieg der ›Begabten‹ unter den Frauen, Minderheiten und Homosexuellen“ und dass es „die The-winner-takes-all-Hierarchie nicht mehr abschaffen“ will.
Verlierer oder „gesellschaftlich Abgehängte“ sind diejenigen, die Waren produzieren, das Handwerk, der Mittelstand, der zudem in Deutschland durch eine ausufernde Staatsquote finanziell ausgeblutet wird, Familien, aber auch die Menschen, die in Armut leben, Verlierer sind circa 80 % der Gesellschaft. Die Ausweitung der Minderheitenrechte gehen einher mit der Abschaffung der Mehrheit durch ihre Auflösung in Sondergruppen von „besorgten Bürgern“, „Bürgern, die schon länger hier leben“, „Wutbürgern“, „Angstbürgern“, „alten weißen Männern“, „Populisten“, „Rechten“, „Islamophoben“, „Homophoben“, „Heterodominanten“, „Familisten“.
Progressive Konservative kämpfen für die Rechte der 80 % der Gesellschaft, auf ihr Recht, so zu sein, wie sie sind, in ihren Dörfern, in ihren Städten, in ihrem Freundeskreis und in ihrer Kultur so zu leben, wie sie es bisher getan haben. Sie kämpfen für eine Freiheit, die das frei sein von etwas mit dem frei sein für etwas verbindet. Die Aufgabe des progressiven Konservatismus besteht im Durchbruch zum Realismus, nicht nur in der politischen Theorie, sondern auch in der politischen Praxis.
Durchbruch zum Realismus
Die Deutschen sehnen sich so sehr danach, gut zu sein und verschaffen sich nur allzu gern erhabene Gefühle. Sie möchten so gern geliebt werden und neigen deshalb zum Strebertum. Kritische Rationalität verwechseln sie mit Herzenskälte. Die Realität blenden sie aus, bevor die Wirklichkeitserkenntnis auf das Wunschbild trifft. Am liebsten brillieren sie in der Politischen Theologie. Diese Haltung ist besonders ausgeprägt im vermögenden Mittelstand, in den gentrifizierten Stadtbezirken, in denen in der Regel weder „Flüchtlingsunterkünfte”, noch Erstaufnahmeeinrichtungen errichtet werden, in der Schicht, die ihre Kinder auf Privatschulen schickt, die gegen „Abschottung“ wettern kann, weil sie sich selbst bereits abgeschottet hat. Die Realität des Verdrängungswettbewerbes außerhalb ihrer Viertel nimmt sie nicht mehr wahr. Sie hat sich nie um arme deutsche Kinder gekümmert und kein Steuersparmodell war ihr zu schäbig, während sie die Armut von Deutschen mit dem Verweis, dass Deutschland ein reiches Land wäre, weglächelte. Diese Schicht bildet soziologisch die soziale Basis der Grünen. Diese Schicht bildet eine mächtige Minderheit, weil sie besonders in den alten und neuen Medien, in der Bildung und der Kultur tätig ist.
In Zeiten des Umbruchs müssen Konservative etwas unternehmen, was ihnen eigentlich widerstrebt, sie müssen eine Vorstellung gesellschaftlicher Entwicklung, die nicht nach einem Wort von Franz Kafka den Tatsachen hinter her läuft wie ein Anfänger im Schlittschuhlaufen, der obendrein noch an einer Stelle übt, an der es verboten ist, konzipieren.
Es wird auf sie allein ankommen. Auf die Sozialdemokraten können sie nicht zählen, denn die verkennen den Charakter der sozialen Frage, die im Aufstiegsversprechen und in einer Art Garantie, dass es den Bürgern nicht schlechter und ihren Kindern einmal besser gehen wird, besteht.
Während die Sozialdemokratie buchstäblich den Boden unter den Füßen verloren hat, zerstört sich der Liberalismus durch die Verwechslung von Freiheit mit Verwahrlosung mit dem Ergebnis, dass der Mensch seiner Bindungen entblößt zum Spielball fremder Interessen, zur manipulierbaren und beherrschbaren Monade wird.
Die Verfreiheitlichung der Freiheit durch den Neoliberalismus kippt in den Überwachungskapitalismus. Das Individuum, das sich als Bürger nicht mehr auf die Bürgerrechte berufen kann, sondern sich zu willkürlich gesetzten moralischen Normen zu verhalten hat, entfremdet sich selbst.
Progressive Konservative haben als Erben des Liberalismus auf Seiten der Demokratie zu stehen, denn im Schutz von Lebensverhältnissen, die immer an konkreten Orten existieren und stets ein soziales Geflecht aus Teilhabe, Heimat, Tradition und auch gegenseitiger Fürsorge bestand von jeher das Anliegen der Konservativen. Da Heimat auch Förderung im Sinne sozialen Aufstiegs und Schutzes ermöglicht, verbinden sich konservative, liberale und sozialdemokratische Themen in diesem Punkt. Konservative haben lernend vom klassischen sozialdemokratischen und liberalen Denken zum Schutz des freien Marktes Marktliberalität und Staatsinterventionismus sinnvoll vom Standpunkte des Bürgers als Markteilnehmer auszubalancieren, wenn man nicht den freien Markt zur neoliberalen Fiktion werden lassen will, denn es wird keine Freiheit ohne Gerechtigkeit geben und keine Gerechtigkeit ohne Freiheit.
Globalisierung am Ende
Die Globalisierung ist an ihr Ende gekommen. Knallharte Hegemonialkämpfe finden zwischen Mächten statt, die nationalstaatlich basiert sind. Ausgehend von de Gaulles Europa der Vaterländer kann ein in der Welt sich behauptendes Europa nur auf der Stärke seiner Nationen beruhen, die wiederum Resultat ihrer Eigenheiten sind.
Gerade die Digitalisierung ermöglicht weitgehende räumliche Dezentralisierung. Der Schlüssel zum Erfolg liegt also darin, Heimat stark zu machen. Die Modernität des Konzepts von Heimat erweist sich darin, dass diese Vorstellung sich eben nicht vor der Welt verschließt, sondern in der Sicherheit der eigenen Lebensverhältnisse, aus der Heimat heraus in die Welt hineinwirkt.
Vor allem aber müssen progressive Konservative lernen zu kämpfen, sie müssen wissen, dass ihre Gegner in den Kategorien des Klassenkampfes denken. Der Vorsitzende der Grünen Partei, Robert Habeck, proklamierte in peinlichem Pathos: „Wenn wir realistisch sein wollen, müssen wir radikal werden. Wenn wir kämpfen, müssen wir bereit sein, alles zu verlieren. Nur so werden wir gewinnen.“ Er spaltet in bester Klassenkämpfermanier die Gesellschaft in zwei Teile und droht: „Alle Parteien werden sich entscheiden müssen, auf welcher Seite sie stehen.“ Progressive Konservative stehen auf der anderen, auf der Seite der demokratischen Bürgergesellschaft. Ihr politischer Gegner sind die Grünen.
Wenn die Konservativen diese Lehre nicht begreifen, wird ihr Niedergang sich rasant vollziehen, weil sie die Aufgabe nicht annehmen, die ihnen historisch zukommt.
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