Aus Sicht der EU-Kommission und des EU-Parlaments sollte die gestrige Reise des polnischen Premierministers Mateusz Morawiecki so etwas wie ein Gang nach Canossa sein, denn Polen sitzt schon seit längerer Zeit auf der Anklagebank des Brüsseler Establishments. Ebenso wie Ungarn wirft man der noch jungen Demokratie Verstöße gegen die „europäischen Werte” vor. Konkret geht es um die Unabhängigkeit der polnischen Justiz, die von der konservativen Regierungsmehrheit unter der Führung der Partei PiS, in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz, in Frage gestellt würde.
Aber eigentlich ist eben nur eigentlich. Jedes Mitglied der EU hat seine eigene Geschichte und damit spezielle Erfahrungen. Noch vor etwas über dreißig Jahren litten die Polen unter einer harten, kommunistischen Diktatur. Mehrfach haben die Menschen dort versucht, das unter sowjetischer Oberhoheit regierende System abzuschütteln. Nach Volksaufständen in den fünfziger und siebziger Jahren fand dieser Widerstand seinen Höhepunkt mit der Gründung der unabhängigen Gewerkschaft „Solidarność“ im Jahre 1980. Aus der Streikbewegung der Hafenarbeiter von Danzig wurde eine landesweite Bewegung, deren Hauptforderungen freie Wahlen sowie Presse- und Meinungsfreiheit waren. Das Regime konnte seinen Bestand nur durch die Verhängung des Kriegsrechts sichern. Tausende Menschen landeten in Gefängnissen, verloren ihre Arbeit, die Führer des Aufstandes verschwanden aus der Öffentlichkeit. Für viele Historiker ist heute Konsens, dass die damaligen Vorgänge in Polen das Fanal für die Bürgerrechtsbewegung wurde, die schließlich nur ein Jahrzehnt später die kommunistische Diktatur, auch in der Sowjetunion selbst und in den anderen Ostblockstaaten zum Zusammenbruch brachte.
Als die konservative PiS-Partei, nach ihrer Amtsübernahme 2015, mit ihrer extrem antikommunistischen Haltung und auch ihrem Bekenntnis zum Katholizismus als gesellschaftliche Grundlage begann, ihre Vorstellungen umzusetzen, regte sich besonders unter liberalen und linken polnischen Intellektuellen, aber auch im Westen Europas Unmut.
Im Medienbereich wurden nun besonders die elektronischen Medien mit Nähe zur katholischen Kirche gefördert. Gleichzeitig begann man erst das Personal in den staatlichen Fern-TV- und Radioanstalten zu ersetzen. Jenseits der Proteste fand diese Maßnahme großen Zuspruch in der polnischen Mehrheitsbevölkerung. Der Beweis dafür sind die unverändert hohen Zustimmungsraten für die regierenden Konservativen.
Polens Premier Mateusz Morawiecki betonte die Souveränität seines Landes und das Recht auf eine eigene nationale Verfassung, die nicht durch Bestimmungen von außen aufgehoben werden könne. Den westlichen Europäern wäre etwas mehr Einfühlungsvermögen für das Land zu wünschen, das über Jahrzehnte unter Fremdbestimmung und Diktatur zu leiden hatte – wozu auch die deutsche Besatzung zwischen 1939 und 1945 zählt.
Wenn jetzt dieser Kulturwandel von außen und durch finanzielle Erpressung herbeigeführt werden soll, so stellt dies selbst eine Verletzung der ethischen Prinzipien des freien Europa dar. Das polnische Volk ist ein sehr stolzes.
Von jetzt mehren sich die Stimmen, die sich für einen Austritt, also einer Art „PolExit“, aus der EU aussprechen. Das Land selbst würde dadurch wirtschaftlich schwer getroffen. Aber auch an der deutschen Wirtschaft, die in Polen stark engagiert ist, würde dies nicht ohne Schmerzen vorbeigehen.