Am 18. Juni haben Innenministerin Nancy Faeser (SPD) und Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang (CDU-Mitglied) den 408 Seiten starken Verfassungsschutzbericht 2023 vorgestellt. Man muss sich die 1 Stunde und 5 Minuten währende „Präsentation“ vor der Bundespressekonferenz samt Journalistennachfragen eigentlich nicht antun. Denn Faeser und Haldenwang kommen nicht heraus aus ihrem Framing.
Die Prioritätensetzung des Verfassungsschutzes wurde schon im schriftlichen Vorwort deutlich: „Rechtsextremismus ist nach wie vor die größte Gefahr für unsere freiheitliche Demokratie und die Menschen, die in ihr leben“, heißt es dort. Das würden beispielsweise, so Faeser und Haldenwang, die „Reichsbürger und Selbstverwalter“ sowie die „Vertreibungsphantasien“ des „Vernetzungstreffens“ rechter Kreis Ende November 2023 in Potsdam belegen.
Leider hat kein Journalist nachgefragt, was Faeser und Haldenwang – vorher und/oder nachher – über „Potsdam“ wussten und welch fragwürdige Rolle dabei das staatlich finanzierte sog. „Recherchemagazin“ Correctiv gespielt hat.
Es geht also um die „Demokratie“, wie Faeser und Haldenwang sie definieren. Dass Demokratie auch mit dem Schutz des „demos“, also des Volkes, vor Kriminalität zu haben könnte? Dass 42 Prozent der laut Polizeilicher Kriminalstatistik (PKS 2023) Tatverdächtigen keinen deutschen Pass haben, dass der Schutz des „Demos“ vor überwiegend importierter Messerkriminalität zu tun haben könnte, hat ja nichts mit Schutz der Demokratie zu tun. Oder?
Ein paar Details aus dem „Bericht“
- Der Bericht verzeichnet für das vergangene Jahr 25.660 (2022: 20.967) Straftaten mit rechtsextremistischem Hintergrund. Der Großteil davon waren Propagandadelikte (15.081 Straftaten). 1.148 der Straftaten gelten als Gewaltdelikte.
- Auch die Gewalt von Linksextremisten ist um mehr als 20 Prozent gestiegen. Demnach wurden im vergangenen Jahr 4.248 (2022: 3.847) Straftaten mit linksextremistischem Hintergrund erfasst, darunter 727 (2022: 602) Gewalttaten.
- Immer häufiger geraten Beamte ins Visier linker Gewalttäter: „Die Zahl der linksextremistisch motivierten Gewalttaten gegen die Polizei und Sicherheitsbehörden hat gegenüber dem Vorjahr um 64,7 Prozent zugenommen“, heißt es im Bericht. In zwei Fällen versuchten linke Täter sogar Polizisten zu töten.
- „Bei 1.044 der Straftaten mit ausländisch-ideologischer extremistischer Motivation konnte ein antisemitischer Hintergrund festgestellt werden (2022: 58)“, schreiben die Verfassungsschützer. „Zu diesen Straftaten zählen 65 Gewalttaten (2022: 12) und 441 Volksverhetzungsdelikte (2022: 24).“ TE-Anmerkung: Immerhin werden antisemitische Straftaten jetzt nicht mehr wie früher dem rechten Spektrum zugerechnet. Wörtlich: „Islamisten, palästinensische Extremisten, türkische Rechtsextremisten, deutsche und türkische Linksextremisten treten aus ganz unterschiedlicher Motivation als Mobilisierungstreiber in Erscheinung, organisieren propalästinensische Versammlungen oder nehmen an diesen teil und verbreiten Hass, Hetze, Propaganda oder Falschinformationen in den sozialen Medien.“
Die „Höhepunkte“
Auf Nachfrage von Journalisten verraten Faeser und Haldenwang ungewollt, wie sie denken. Hier konnten sie – wie sonst während der ganzen Einführung in den Bericht – keine Statements ablesen.
Haldenwang wurde ganz zum Ende der Veranstaltung auf verschiedene muslimische Demonstrationen zur Einführung eines Scharia-Kalifats in Deutschlands angesprochen. Haldenwangs dürre, aber doch alarmierende Antwort war: Ein Kalifat sei „eine denkbare Staatsform“ wie Kommunismus, Sozialismus, Monarchie. Siehe Minute 1:02 des Youtube-Mitschnitts. Wir schieben die Frage nach: Warum rechnet Haldenwang die von Tausenden von muslimischen Demonstranten erhobene Forderung nach einem Kalifat in Deutschland nicht zu der von ihm im Jahr 2021 selbst erfundenen „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ hinzu? Nein, hatte Haldenwang rund 20 Minuten zuvor in anderem Zusammenhang gesagt, die Forderung nach Einrichtung eines Kalifats in Deutschland sei nicht strafbar.
Faeser kann auch nicht aus ihrer Haut. Angesprochen auf zahlreiche namhafte Verfassungsrechtler (Rupert Scholz, Volker Boehme-Neßler) und auf Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubickis (FDP) Einschätzung („Faeser ist eine Gefahr für die Demokratie“) antwortet sie schnoddrig: Das ist eine „absurde Einschätzung“ und „Unsinn“.
Ein wenig Nachhilfe für die Verfassungsministerin
Faeser mag ja Juristin sein. Für Artikel 5 (2) des Grundgesetzes („Meinungsfreiheit“) scheint sie wenig Gespür zu haben. Deshalb hier eine wenig Nachhilfe:
- Der Osnabrücker Verfassungsrechtler Prof. Volker Boehme-Neßler attestiert Faeser und Haldenwang verbale und mentale Grenzverschiebungen. Zum Beispiel wenn eine Art Straftatbestand einer angeblichen „Verächtlichmachung des Staates“ erfunden werde.
- Ähnlich kritisch der Augsburger Verfassungsrechtler Prof. Josef Franz Lindner: Dieser hält die Faeser- und Haldenwang-Begriffe für „unbestimmt“ und „schwammig“. Er sieht die Gefahr, dass pointierte Meinungsäußerungen als „Delegitimierung“ des Staates gewertet werden könnten. Lindner sagt: Der Staat habe in Fragen der Meinungsfreiheit keine Deutungshoheit.
- Noch weiterreichende Kritik übt der Verfassungsrechtler und vormalige sächsische Verfassungsrichter Prof. Dr. Christoph Degenhart am 24. Mai 2024 in einem FAZ-Gastbeitrag: Er sieht durch die „Ampel“-Politik die Freiheiten aus Artikel 5 gefährdet. Denn, so Degenhart, der Staat lege mittlerweile bestimmte Meinungskorridore fest. Der Korridor des Sagbaren werde verengt, auch durch Leitmedien wie die Öffentlich-Rechtlichen und staatlich geförderten NGOs. Einen direkten Angriff auf die Meinungsfreiheit bedeute die vom Verfassungsschutz in Anspruch genommene Befugnis, auch gegen „staatswohlgefährdende“ Meinungsäußerungen unterhalb der Strafbarkeitsschwelle, also legale, vom Grundgesetz gedeckte Meinungsäußerungen vorzugehen. Dies stehe in eklatantem Widerspruch zur Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, das überspitzt-ironische, satirische, abwertende oder polemische Äußerungen sowie extremistische Äußerungen unter die Freiheit der Meinungsäußerung fasse. Sogar der Spielraum für Satire werde immer enger.
- Nehmen wir konkret den von Degenhart zitierten einstimmigen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 28. November 2011. Dort steht: „Vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst sind zum einen Meinungen … Sie fallen stets in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, ohne dass es dabei darauf ankäme, ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, oder ob sie als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden …. Sie verlieren diesen Schutz auch dann nicht, wenn sie scharf und überzogen geäußert werden …. Der Meinungsäußernde ist insbesondere auch nicht gehalten, die der Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen zu teilen, da das Grundgesetz zwar auf die Werteloyalität baut, diese aber nicht erzwingt.“
Mit anderen Worten: Was die „Ampel“-Administration und was Haldenwang bereits seit Merkel-Zeiten betreiben, ist die Delegitimierung des Grundgesetzes Artikel 5, nämlich der Meinungsfreiheit. So verkehrt sich der im Jahr 2021 erfundene Begriff der „Delegitimierung des Staates“ gegen die Erfinder dieses schwammigen Begriffs. Frage also: Wann wird das alles zum Verdachts- und Beobachtungsfall des Verfassungsschutzes?
Haldenwang wird bald Zeit haben, darüber nachzudenken. Denn es dürfte für ihn der letzte Auftritt bei der Vorstellung eines Verfassungsschutzberichtes gewesen sein. Dem Vernehmen nach soll er wohl im Spätsommer – um einige Monate zu früh – in den Ruhestand verabschiedet werden.