„Liebe Demokratie. Wir müssen reden.“ So oder so ähnlich ließe sich das vorherrschende Lebensgefühl in der Beziehung Deutschlands zu seiner Herrschaftsform beschreiben. Das Gute ist aber: Die Krise der Demokratie dürfte einer der wenigen Punkte sein, bei denen im ansonsten gespaltenen Deutschland Einigkeit herrscht. Doch während die einen vor allem die AfD – bzw. eine diffuse Angst vor Rechts – als Gefahr für die Demokratie sehen, herrschen auf der anderen Seite vor allem Bedenken angesichts des dystopisch anmutenden Umbaus zu einer totalitären Orwell’schen 1984-Gesellschaft vor.
Eins gleich vorneweg: Beide Bedenken sind nicht gleichermaßen in der Realität begründet. Man mag mit der AfD nicht in allen Belangen übereinstimmen und einige ihrer Mitglieder lieber niemals in der Regierungsverantwortung sehen, dennoch sind es vor allem die von der linken Seite des Spektrums vorangetriebenen Zensurmaßnahmen, die drohen, der Meinungsfreiheit – einem Grundstein der Demokratie – den Garaus zu bereiten.
Andererseits wäre es naiv zu glauben, dass die Demokratie mit einem einfachen Wahlsieg einer (liberal-)konservativen Partei wieder zu alter Vitalität zurückkehren würde. Zu tief sitzen die Verfallserscheinungen einer Gesellschaftsordnung, deren Bewohner diese mittlerweile vor allem durch Lippenbekenntnisse am Leben erhalten wollen. Es ist kein Zufall, dass die moderne Massendemokratie zu einem jener politischen Schlagworte geworden ist, die die verschiedensten Seiten des politischen Diskurses zwar für sich beanspruchen möchten, dabei aber keine genauere Vorstellung davon haben, worin deren konkreter Wert noch liegt.
Von Privilegien, Rechten und Pflichten
Denn wie bei vielen Erscheinungen der Moderne ist auch bei der Demokratie erst einmal die Rede von Privilegien und Rechten, die man für sich beanspruchen möchte. Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass die moderne Demokratie eine Erfindung des 19. Jahrhunderts ist, denn spätestens seit den freien Reichsstädten Italiens und des heiligen römischen Reiches im Spätmittelalter gab es im Abendland demokratisch regierte Republiken. Neu ist vor allem die Erscheinung der parlamentarischen Massendemokratie und es ist vor allem deren Selbsterhaltungstrieb, der das Argument motiviert, es handle sich dabei um die beste aller möglichen Demokratieformen, da sie die größte Menge Menschen am demokratischen Prozess teilnehmen lässt.
Überhaupt ist es die Quantität der am demokratischen Prozess Beteiligten vielmehr als die Qualität des demokratischen Prozesses, die bereits seit Jahrzehnten als größte Errungenschaft vorgeschoben wird, sodass die einzigen Verbesserungsvorschläge von progressiver Seite eigentlich immer nur auf eine Erweiterung der Teilnehmer auf noch weitere Teile der Bevölkerung (zum Beispiel durch Senkung des Wahlalters) hinauslaufen.
Der moderne Demokratieteilnehmer verteidigt vehement seine Rechte, vergisst dabei aber, dass solche Rechte, wenn sie nicht immer wieder errungen und erstritten, sondern lediglich verliehen werden, auch wieder entzogen werden können. Genau das passiert aber seit geraumer Zeit. Möglich ist dies nur, weil die Masse der Wähler zwar ein Recht auf Stimmabgabe beansprucht, ansonsten aber in immer geringerem Maße gesellschaftlich partizipiert. Diese Partizipation des Bürgers würde die Wahrnehmung bestimmter Verpflichtungen innerhalb des Staates bedeuten, wie zum Beispiel die ehrenamtliche Übernahme bestimmter Ämter, oder auch die Wehrpflicht, mit denen die Entmachtung des Bürgers durch eine bürokratisch organisierte Oligarchie verhindert oder zumindest gebremst werden kann.
Der Niedergang politischer Partizipation
Die Demokratie der griechischen Antike wird von modernen Ahistorikern zugleich bewundert und belächelt. Bewundert, weil sie als der Ursprung der Demokratie gilt, belächelt, weil die Demokratie nur den freien, männlichen Landbesitzern Athens vorbehalten war. Allerdings wäre sie andernfalls nicht möglich gewesen, da die Erfüllung der politischen Verantwortungen die an der Demokratie beteiligten Bürger vollständig beanspruchte. Nur wer seinen Hausstand in Ordnung hatte, konnte die Zeit aufbringen, sich dem demokratischen Entscheidungsprozess zu widmen.
Die moderne Massendemokratie aber erwartet (oder gibt es zumindest vor), dass alle Menschen berufstätig sind und nach getaner Arbeit – bei der die Pflege des eigenen Haushalts durch die emanzipierte Doppelbeschäftigung notgedrungen vernachlässigt wurde – sich am Abend auch noch politisch bilden, um als verantwortungsvolle Demokraten am Entscheidungsprozess teilzunehmen.
Nicht nur, dass dies bereits die ehrenamtliche Vollzeitbeschäftigung mit der Politik (wie im antiken Griechenland) verunmöglicht, auch die Verlockung der einfachen Information über die politischen Geschehnisse mittels vermeintlich „zuverlässiger Quellen“ – man denke an die jahrzehntelange, quasi-religiöse Anbetung der Tagesschau als Volksinformationsquelle – wird fast unwiderstehlich gemacht. Der Aufwand sich in einer immer hektischeren Nachrichtenwelt bewusst zu informieren, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen und damit womöglich dem vorgekauten Narrativ zu widersprechen, ist für die allermeisten Menschen im beruflichen und familiären Alltag kaum zu stemmen.
Solche Entwicklungen sind aber nicht zufällig, denn das Vermeiden unangenehmer demokratischer Pflichten im Zuge der Wohlstandsmehrung prägte auch schon den Niedergang der antiken Demokratie. An die Stelle des beteiligten Bürgers, dem natürlichen „Stakeholder“ der demokratischen Gesellschaft, ist schon längst der Berufspolitiker getreten, dessen persönliche Interessen der Wohlstandsmehrung vollkommen losgelöst sind von seiner politischen Bilanz. Der Politiker von heute kann ein Land in Grund und Boden wirtschaften und sich dabei dennoch eine goldene Nase verdienen.
Rechtes Tabuthema Postdemokratie
All diese Prozesse können nicht durch den Sieg einer bestimmten Partei umgekehrt werden, sie sind Resultate unserer modernen globalen Gesellschaft, die dringlich die Frage aufwerfen, wie das mit der Demokratie eigentlich noch vernünftig funktionieren kann und soll.
Die Gestaltung dieser spät- oder sogar post-demokratischen Gesellschaft ist eine dringende Frage, deren Beantwortung allerdings von den herrschenden linken Kräften monopolisiert wird. Während man zwar einerseits die Demokratie vor der rechten Gefahr zu schützen vorgibt, werden gleichzeitig bereits offene Zukunftspläne für eine post-demokratische Gesellschaft, in der auch keine Wahlen mehr notwendig sein werden, geschmiedet.
Den rechten oder konservativen Kräften bleibt im vorherrschenden Narrativ nur das mantraartige Beharren auf der Verteidigung der alten demokratischen Verhältnisse, da jegliche Abweichung von diesem Narrativ mit einer automatischen gesellschaftlichen Ächtung einherginge. Mit anderen Worten: Linke rufen „Demokratie“ und planen offen deren Abschaffung, während Rechte dazu verdammt sind, die kränkelnde Demokratie in ihrem maroden Zustand zu verteidigen, da sie ansonsten als Anti-Demokraten und Staatsfeinde geächtet würden.
Während der Schlachtruf der Demokratie in Zeiten des Kalten Krieges noch auf weite Teile der Welt eine Faszination ausübte, klingt er vielerorts mittlerweile nur noch wie eine hohle Phrase. Und man muss zugeben: Nicht zu Unrecht, denn mit der Verklärung der modernen Massendemokratie als einer tatsächlichen Volksherrschaft ist niemandem mit aufrichtigem Interesse an der Demokratie gedient.
Als die Demokratie innenpolitisch die Flucht in die endlose Emanzipationsspirale immer weiterer Minderheiten angetreten hat, wurde sie auch zum außenpolitischen Exportgut Nummer 1 eines Westens, der mit dem Ende der Kolonialzeit zunehmend aufhörte, die Welt an seinen tatsächlich wohlstandsstiftenden Errungenschaften teilhaben zu lassen. Als der Glaube an die Überlegenheit und Rechtschaffenheit der eigenen Herrschaft schwand, blieben nur Abziehbilder diffuser Werte übrig, die militärisch unterlegenen Gesellschaften zwangsweise übergestülpt wurden und – wie im Fall von Afghanistan – sofort wieder abgelegt wurden, sobald der Westen sich umdrehte.
Förderung partizipativer Strukturen
Dem liegt ein grundlegendes Missverständnis zugrunde, denn Demokratie kann nicht verordnet werden, sondern nur – wenn überhaupt – naturwüchsig entstehen, wenn eine entsprechende gesellschaftliche Partizipation zumindest bestimmter gesellschaftlicher Schichten vorhanden ist. Es mögen Zeiten kommen, in denen dies wieder möglich wird, aber die Tendenz ist momentan gegenläufig und zwar weltweit.
Das mögen wir bedauern, ja uns sogar idealistisch wünschen, dass es wieder anders wäre. Aber das allein ändert die Tatsachen noch nicht. Darum müssen nicht alle demokratischen Werte aufgegeben werden, aber anstatt auf das tote Pferd der Demokratie des vorigen Jahrtausends zu pochen, wäre es sinnvoller, über die Gestaltung der zukünftigen Welt nachzudenken. Denn nicht jede undemokratische Gesellschaft ist deshalb gleich eine totalitäre Dystopie. Wer aber im Überschwang bestimmte Grundvoraussetzungen der Demokratie, wie zum Beispiel die freie Meinungsäußerung, ad acta legt, verzichtet damit auf jene Grundbausteine, die in Zukunft wieder zu einem höheren Ausmaß gesellschaftlicher Partizipation und zu einer neuen, gesünderen Form der Demokratie führen könnten.
Das Durchbrechen des linken Narrativs des Demokratieschutzes – bei gleichzeitiger Abschaffung der Demokratie – ist eine der obersten Prioritäten der politischen Rechten. Die Gestaltung der zukünftigen Gesellschaft darf nicht länger durch die politische Linke monopolisiert werden, da ihre Vorstellung der Post-Demokratie unweigerlich sozialistische Züge annimmt. Es ist die Aufgabe der politischen Rechten, dem einen menschenwürdigen und konstruktiven Gegenentwurf entgegenzusetzen, einen Entwurf, der eben auch Raum für eine potenzielle Gesundung und ein Wiedererstarken partizipativer Strukturen beinhaltet.
Dazu wird es aber mehr als nur Wahlen bedürfen. Der atomisierte Mensch, der durch die Abgabe eines Wahlzettels alle vier Jahre dem Wahn anheimfällt, er würde die Stoßrichtung der Gesellschaft maßgeblich beeinflussen, muss erst wieder geerdet werden in Familie, Gemeinschaft und der Realität, bevor er daran gehen kann, wieder gesamtgesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Das Beste, was er sich in diesem Prozess wünschen kann, ist wohlmeinende Herrschaft und keine therapeutische Tyrannei, die ihn zu einem ideologischen Sklaven der menschenverachtenden Vision der modernen Linken machen möchte.