Tichys Einblick
Kein Fahrrad ist sicher

Polizei meldet weniger Diebstähle – aber die Realität sieht anders aus

Die Polizei hat im letzten Jahr weniger Fahrraddiebstähle erfasst. Aber das heißt nicht, dass sich die Beamten für ihre Ermittlungsarbeit feiern sollten. Denn die Dunkelziffer ist um einiges größer. Und das hängt zum Teil mit der „Arbeit" der Polizei zusammen.

picture alliance / CHROMORANGE | Michael Bihlmayer

Jeder, der Robert Habeck und seinen Grünen gerecht werden möchte, indem er mit dem Fahrrad zu einem Termin fährt, könnte betroffen sein: Ohne Befürchtungen verlässt man die Wohnung. Aber dann ist der Fahrradständer, an dem tags zuvor noch das eigene Fahrrad angeschlossen stand, leer. Irritiert läuft man die Straße auf und ab und zweifelt an seinem Gedächtnis: Könnte das Fahrrad nicht doch an einem anderen Ort stehen? Aber nein. Das Fahrrad ist weg. Geklaut. Und wahrscheinlich schon auf dem Weg ins Ausland.

Einen solchen Moment erleben in Deutschland viele Menschen. Zumindest ist das das Bild, das in Gesprächen mit Freunden und Kollegen entsteht: Fast jeder war entweder schon mal selbst betroffen oder kennt jemanden, dem bereits ein Fahrrad gestohlen wurde. Da wirkt die offizielle Zahl der polizeilichen Kriminalitätsstatistik unglaubwürdig: Demnach wurden im letzten Jahr 264.000 Fahrraddiebstähle erfasst. Insgesamt zählt Statista in Deutschland 84 Millionen Fahrräder.

Allerdings dürfte die Dunkelziffer der gestohlenen Fahrräder höher liegen. Immerhin zeigen viele Menschen Fahrraddiebstähle nicht an, weil die Chance, dass die Polizei die Diebe ermittelt, gering ist: Laut der bundesweiten Polizeistatistik konnte die Polizei rund 9 Prozent der erfassten Fälle aufklären. So weit, so schlecht. In den einzelnen Bundesländern sehen die Aufklärungsquoten noch ernüchternder aus, beispielsweise in Hamburg: Dort wurden 2023 knapp 13.500 Fahrraddiebstähle erfasst, aber nur 530 aufgeklärt: Sprich: Nicht einmal in vier von hundert Fällen hat die Polizei Hamburg die Täter eines Fahrraddiebstahls ausfindig gemacht. Hamburg ist mit seiner Lage an der Elbe aber auch exzellent gelegen, um gestohlene Fahrräder schnell ins Ausland zu verschiffen.

Kriminalstatistik
Immer mehr Fälle von Ladendiebstahl in Deutschland
Dass die Polizei so wenige Fahrrad-Diebstähle aufklärt, hängt laut der Polizeigewerkschaft damit zusammen, dass die wenigsten Radfahrer einen „Fahrradpass“ haben. In einem solchen Pass, für den die Polizei – ganz modern – eine App anbietet, kann ein Fahrradbesitzer Daten und Merkmale seines Zweirads erfassen: Dazu zählen beispielsweise Marke und Modell, Rahmennummer, Hersteller, Farbe oder die Codierung des Rads. Die Gewerkschaft der Polizei informiert auf ihrer Internetseite, dass jeder, der einen solchen Pass besitzt, „wesentlich bessere Chancen hat, sein Fahrrad wiederzubekommen“. Denn das, was die Polizei bei einem angezeigten Fahrraddiebstahl hauptsächlich macht, ist, eine Fahndung zu schreiben.

Das ergab eine TE-Anfrage an Pressestellen der Polizei in verschiedenen Städten Deutschlands. In Berlin schreiben die Beamten entwendete Fahrräder sogar nur dann zu einer Fahndung aus, wenn der Eigentümer im Besitz eines solchen Fahrradpasses inklusive Individualnummer ist, wie Sarah Braut im Auftrag der Polizei Berlin gegenüber TE schreibt. Dass gerade Berlin diese Anforderungen an einen Fahrradpass stellt, könnte daran liegen, dass in der Hauptstadt die meisten Fahrräder gestohlen werden und die Beamten kaum hinterherkommen: Letztes Jahr waren es nach offiziellen Zahlen knapp 26.000 Räder und E-Bikes. Das sind mehr als 70 gestohlene Räder pro Tag. Die Polizei Berlin spart sich also eine Menge Arbeit, wenn sie nicht für sämtliche dieser Diebstähle eine Fahndung schreiben muss.

Der Fahrradpass dient im Laufe der „Strafverfolgung“ dazu, gefundene Fahrräder zuzuordnen. Aber um ein gestohlenes Rad zu finden, bräuchte die Polizei erstmal Hinweise. Und die gibt es selten. In einer Fußgängerzone oder an einem vielgenutzten Fahrradständer, ist es nicht sehr aufschlussreich, Spuren zu sichern. Und Zeugen gibt es selten: Immerhin ist es für Außenstehende im Vorbeigehen meist nicht zu erkennen, ob jemand nun sein eigenes Fahrrad aufschließt oder sich an einem fremden Rad zu schaffen macht. Zumal die Diebe meist geschickt und schnell arbeiten, beispielsweise wenn sie ihre Tricks anwenden, um Zahlenschlösser zu knacken. So kommt es dazu, dass angeschlossene Fahrräder sogar am helllichten Tage vor einer viel besuchten Bibliothek gestohlen werden.

Eine Art Fahrradpass inklusive Kaufbeleg und Bild des Fahrrads kann aber trotzdem hilfreich sein. Vielleicht nicht, um sein Fahrrad wiederzubekommen, aber zumindest, um den „Wiederbeschaffungswert“ des Fahrrads von der Versicherung zu erhalten, sofern man eine entsprechende Fahrradversicherung abgeschlossen hat. In manchen Fällen von Fahrradraub greift sogar die Hausratversicherung: wenn ein Fahrrad aus einem geschlossenen Raum wie einer Garage oder einem Keller gestohlen wurde zum Beispiel. Außerdem ist laut Gesamtverband der Versicherer (GDV) in knapp der Hälfte der insgesamt rund 27 Millionen abgeschlossenen Hausratversicherungen in Deutschland eine „Fahrradklausel“ eingeschlossen. Mit dieser Klausel ist ein Fahrrad auch gegen Diebstahl auf der Straße versichert, sofern es durch ein verkehrsübliches Schloss gesichert war.

Studie der UdV
Der Radfahrer ist der größte Feind des Radfahrers
Aber nur etwas mehr als die Hälfte der Fahrräder, die im vergangenen Jahr bei der Polizei angezeigt wurden, waren versichert, nämlich 150.000. Das waren genau so viele wie im Jahr 2022, wie der GDV schreibt. Gut die Hälfte der Betroffenen von Fahrraddiebstählen haben also weder gute Aussichten, ihr Fahrrad wiederzusehen, noch Geld von der Versicherung zu erhalten. Daher sparen sich viele die Zeit, einen umfangreichen Ermittlungsbogen auszufüllen. Und sie sparen sich den Weg zum Briefkasten. Denn in einigen Städten, wie zum Beispiel in Lübeck, ist es nach wie vor nötig, den Ermittlungsbogen auszudrucken und per Post an die örtliche Polizeidienststelle zu versenden. Digital nimmt die Dienststelle den Bogen nicht entgegen. Auf die müßige Arbeit des Anzeigenstellers folgt dann wenige Wochen später ein maschinell erstelltes Schreiben, in dem die Polizei mitteilt, dass sie die Strafverfolgung eingestellt hat. Diese „Strafverfolgung“ – also das Schreiben einer Fahndung und dann das Versenden eines automatisch verfassten Briefs – genügt anscheinend, um das Legalitätsprinzip zu erfüllen, nach dem die Polizei Straftaten zu verfolgen hat, sofern der Verdacht einer Straftat besteht.

Dementsprechend ist verständlich, dass viele Betroffene Fahrraddiebstähle nicht zur Anzeige bringen. Das hat jedoch zum Nachteil, dass die Fälle dann nicht in den Polizeistatistiken auftauchen und das Problem der Fahrradhehlerei geschmälert wird: Im Interview mit Moz.de sagt Polizeihauptkommissar Michael Beyer, dass viele der gestohlenen Räder in Länder des ehemaligen Jugoslawiens gebracht werden: also nach Serbien, Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Mazedonien. „Die Täter handeln ähnlich wie beim Kfz-Diebstahl teilweise auf Bestellung. Dabei geht es meist um hochwertige Marken und E-Bikes, die ja heute teilweise zwischen 500 Euro und mehreren tausend Euro kosten“, sagt der Experte für Hehlerei.

Diese Einschätzung deckt sich auch mit den Statistiken der GDV: Vor allem hochwertige Modelle und E-Bikes geraten ins Visier der Fahrraddiebe. Hat ein Fahrraddiebstahl 2013 die Versicherungen noch durchschnittlich 450 Euro gekostet, kostete er letztes Jahr 1.100 Euro. So haben sich die Entschädigungsleistungen der Versicherer innerhalb von zehn Jahren verdoppelt und liegen nun bei insgesamt 160 Millionen Euro, obwohl rein quantitativ nicht mehr Diebstähle angezeigt wurden. Es ist also davon auszugehen, dass es sich für Diebe heutzutage sehr viel mehr lohnt, Fahrräder zu stehlen, als noch vor zehn Jahren.

Aber wer nun denkt, sein Fahrrad sei sicher, wenn es alt, klapprig und von keiner besonderen Marke ist, täuscht sich. Auch mit diesen Rädern können Hehler etwas anfangen: Solche Räder zerlegen sie oft in Einzelteile und verkaufen diese zum Beispiel über Internetportale.

Noch etwas spricht dagegen, dass die offiziellen Zahlen und Statistiken der Polizei die Lage der Fahrraddiebstähle vollständig abbilden: In fast allen anderen Bereichen der Diebstahldelikte sind im Vergleich zum Vorjahr deutliche Zunahmen zu verzeichnen: Taschen- und Ladendiebstähle, Einbrüche in Wohnungen, Diebstähle von Autos und Gegenständen in oder an Autos haben allesamt zugenommen, sodass die Diebstahlkriminalität von 2022 bis 2023 insgesamt um mehr als 10 Prozent auf fast 2 Millionen Fälle gestiegen ist. Davon klärte die Polizei nicht einmal ein Drittel auf.

Entsprechend hielt sich auch die Zahl der Tatverdächtigen, die die Polizei ermittelt hat, in Grenzen. Von den rund 424.000 Tatverdächtigen, die die Polizei erfasst hat, waren knapp die Hälfte (44 Prozent) Nicht-Deutsche. Jedenfalls ergibt es kaum einen Sinn, dass die Fahrraddiebstähle weniger werden, während sämtliche andere Diebstahldelikte in die Höhe gehen. Es ist wohl wahrscheinlicher, dass die meisten Opfer von Fahrraddiebstählen schlichtweg keinen Sinn darin sehen, eine Anzeige zu erstatten, weil sie keine Aussicht darauf haben, ihr Fahrrad je wiederzusehen oder für den Verlust entschädigt zu werden.

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