Tichys Einblick
"Waffengebrauch" gegen Demonstranten

Wer von den Medien abgeschirmt wird – und wer nicht

Nachdem ein baden-württembergischer SPD-Oberbürgermeister den Teilnehmern von Corona-Demos mit dem polizeilichen Einsatz von Waffen gedroht hat, bildet sich um ihn ein politmedialer Schutzschirm. Wie war das in einem anderen Fall, der ein paar Jahre zurückliegt?

© Getty Images

In einem Interview mit dem Mannheimer Morgen vom Januar 2016 anlässlich der von der damaligen Bundesregierung verursachten, illegalen Grenzübertritte von mehr als einer Million Asylbewerbern hat die damalige Vorsitzende der Alternative für Deutschland (AfD), Frauke Petry, unter anderem gesagt, Polizisten müssten solche Grenzübertritte verhindern und dabei „notfalls auch von der Schusswaffe Gebrauch machen. So steht es im Gesetz.“ Damit hat sie bei den etablierten Parteien und Medien einen tagelangen, einhelligen Sturm der Entrüstung (neudeutsch: Shitstorm) ausgelöst. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann etwa qualifizierte Petrys Aussage als „schlichtweg menschenverachtend und unerträglich und widerwärtig“. Ihre Partei zähle daher nicht „zum Spektrum der demokratischen Parteien“.

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Die Gedenkstättenstiftung Point Alpha warf der AfD darüber hinaus eine „Logik der DDR-Grenzsicherer“ vor. „Wer heute allen Ernstes wieder den Schusswaffengebrauch an unseren Grenzen ins Spiel bringt, hat aus der jüngeren deutschen Geschichte nichts gelernt“, erklärte sie. Petrys politmediale Kritiker folgten damit der von dem Philosophen Hermann Lübbe beschriebenen Praxis eines im Totalitarismus wurzelnden Politischen Moralismus, zu der unter anderem das „Umschalten vom Argument gegen Ansichten und Absichten des Gegners auf das Argument der Bezweiflung seiner moralischen Integrität“ gehört. „Statt der Meinung des Gegners zu widersprechen, drückt man Empörung darüber aus, daß er es sich gestattet, eine solche Meinung zu haben und zu äußern“ – so Lübbe.

Ziemlich genau sechs Jahre später hat nun der Oberbürgermeister der baden-württembergischen Gemeinde Ostfildern namens Christof Bolay (SPD) erneut einen polizeilichen Waffengebrauch bei kollektiven Zuwiderhandlungen gegen geltendes Recht öffentlich ins Spiel gebracht, dieses Mal allerdings nicht gegen illegal einreisende Asylbewerber, sondern gegen die Teilnehmer von Corona-Demos, die sich nicht an amtliche Vorgaben und Verbote halten. In einer von ihm erlassenen Allgemeinverfügung wird die auch in Ostfildern um sich greifende Teilnahme an Spaziergängen gegen die praktizierte Corona-Politik an allen Wochentagen kategorisch untersagt. Um diesem Verbot Nachdruck zu verleihen, wird den Spaziergängern in der Verfügung außerdem „die Anwendung unmittelbaren Zwangs, also die Einwirkung auf Personen durch einfache körperliche Gewalt, Hilfsmittel der körperlichen Gewalt oder Waffengebrauch angedroht“.

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Wie schon Petry sieht sich nun auch der Ostfildener OB mit einem Shitstorm konfrontiert, in dem ihm vorgeworfen wird, er wolle gesetzeswidrig auf Spaziergänger schießen lassen. Anders als bei Petry vollzieht er sich allerdings nur in den sozialen Medien. Laut Stuttgarter Nachrichten vom 1. Februar wird ihm dort unter anderem vorgeworfen, er sei ein „Diktator“ oder „skrupelloser Verbrecher“. Manche der Entrüsteten sprechen gar von „einer Kriegserklärung gegen das Volk und die Demokratie“, andere ergehen sich in dunklen Gewaltandrohungen gegen seine Person, was die Stuttgarter Nachrichten zu der Headline veranlasst: Christof Bolay erhält Morddrohungen. Auch Bolays Kritiker im Internet folgen damit der von Lübbe beschriebenen Empörungslogik eines wieder um sich greifenden politischen Moralismus. Anders als bei Petry springen die klassischen Medien Bolay, zusammen mit der zuständigen Polizeidirektion Reutlingen, dieses Mal aber ausdrücklich bei. Über die Presse lässt diese rechtlich klarstellen: „Der Einsatz der Schusswaffe zur Durchsetzung eines Versammlungsverbots ist ausgeschlossen.“

Die Stuttgarter Nachrichten ergänzen dementsprechend: „Formal und juristisch ist das Vorgehen Bolays korrekt, denn die umstrittene Formulierung in der Verfügung entspricht dem baden-württembergischen Polizeigesetz.“ Bolay habe daher in seiner mit der Polizei vorab abgestimmten Verfügung nur deutlich gemacht, „welche Bandbreite an Einsatzmitteln der Polizei allgemein – für verschiedenste Einsatzlagen – per Gesetz zur Verfügung stehen“. Von derlei amtlichen und medialen Klarstellungen bezüglich der Bandbreite polizeilicher Einsatzmittel bei illegalen Grenzübertritten ist im Falle Petrys hingegen nichts bekannt. Hier blieb es bei der öffentlich zelebrierten Empörung über eine Meinungsäußerung, die nicht ins Weltbild des politmedialen Mainstreams passte.

Was lehrt uns der Vergleich dieser beiden Verweise auf den gesetzlich vorgesehenen polizeilichen Einsatz von Waffen als Ultima Ratio gegen gewaltsame kollektive Verstöße wider geltendes Recht über die Praxis des Politischen Moralismus unserer etablierten Parteien und Medien? Im Fall von Frauke Petry wurde die unbedachte Äußerung der Co-Vorsitzenden einer Partei, die über keinerlei Einfluss auf das Verhalten von Polizeibehörden verfügte, offenkundig dazu missbraucht, eine politische Gegnerin, die den staatlich herbeigeführten sowie gutgeheißenen permanenten Rechtsbruch an den deutschen Außengrenzen anprangerte, maximal moralisch zu desavouieren und als Paria abzustempeln. Die politmediale Keule der moralischen Empörung kam uneingeschränkt und mit voller Wucht zum Einsatz.

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Im Fall von Christof Bolay, der als OB im Unterschied zu Petry sehr wohl einen Einfluss auf das Verhalten von Polizeikräften hat, bauten dieselben politmedialen Kräfte dagegen umgehend eine Art Cordon Sanitaire (Schutzschirm) um ihn auf, nachdem sich in den sozialen Medien auch über ihn ein Shitstorm entlud. Die Keule der moralischen Empörung kommt gegen Bolay noch nicht einmal dosiert zum Einsatz. Stattdessen wird seine Gewaltandrohung gegen Impfgegner unter Verweis auf geltendes Recht als legitim gerechtfertigt.

Wer angesichts einer solchen politmedialen Doppelmoral behauptet, die um sich greifende Verrohung der öffentlichen Auseinandersetzung spiele sich allein in den sozialen Medien ab, verkennt entweder die Verantwortung der etablierten Parteien und Medien für diese Verrohung oder will sie gezielt vertuschen. Ihr Einfluss auf die öffentliche Meinung und damit das Ansehen einzelner Personen, Parteien oder auch sozialen Bewegungen ist nach wie vor weit stärker als alle sämtlichen Shitstorms im Internet.

Das wissen nicht zuletzt auch diejenigen Mitbürger, die mittels der sozialen Medien versuchen, all den Dingen öffentlich Gehör zu verschaffen, die in den klassischen, zusehends staatsnäher gewordenen Medien wenig oder gar kein Gehör finden. Umso zorniger reagieren sie daher auch, wenn diese Medien bei der Beurteilung ähnlicher oder gar gleicher Sachverhalte unterschiedliche Maßstäbe anlegen, je nachdem, welchen Interessen und Absichten sie dienen könnten. Ihr um sich greifender Ansehens- und Vertrauensverlust in weiten Teilen der Bevölkerung, die den von Lübbe diagnostizierten, seit Jahren voranschreitenden „Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft“ auf Seiten der etablierten Parteien und Medien aufmerksam verfolgen, ist von daher weitestgehend hausgemacht.

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