Am 15. Januar 2022 gab der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, ein Interview, das mediale Wellen schlug mit Schlagzeilen wie: „Haldenwang: neue Staatsfeinde bei Corona-Protesten“ oder „Verfassungsschutz erkennt/wittert/sieht neue Szene von Staatsfeinden“. Hat Corona mit dem „Staatsfeind“ einen neuen politischen Kampfbegriff hervorgebracht? Eine Wortgeschichte.
Die alte Bundesrepublik kannte keine „Staatsfeinde“, sondern nur „Verfassungsfeinde“ bzw. „verfassungsfeindliche Organisationen“. In der DDR hingegen galten Regimegegner als „Staatsfeinde“, und das Strafgesetzbuch (§ 106 „Staatsfeindliche Hetze“) verbot regimekritische Äußerungen:
„Wer die verfassungsmäßigen Grundlagen der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung der Deutschen Demokratischen Republik angreift oder gegen sie aufwiegelt […], wird mit Freiheitsstrafe von einem bis zu acht Jahren bestraft.“ (Fassung von 1979)
Ist der neue „Staatsfeind“ des deutschen Verfassungsschutzes ein Erbe der DDR? Sprachlich nicht; denn die Wortzusammensetzungen (Komposita) Staats-feind bzw. staats-feindlich sind im politischen Sprachgebrauch seit dem 19. Jahrhundert belegt: Schon das 1871 gegründete Deutsche [Kaiser]Reich bekämpfte unter Reichskanzler Bismarck sogenannte Staats- bzw. Reichsfeinde, vor allem den politischen Katholizismus und die Sozialdemokratie.
Mit dem „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ (Sozialistengesetz) ließ Bismarck 1878 Vereine, Versammlungen und Druckschriften verbieten, „welche durch sozialdemokratische, sozialistische und kommunistische Bestrebungen den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung bezwecken“. Am 25. Januar 1890 wurde das Sozialistengesetz vom Reichstag nicht mehr verlängert, zwei Monate später trat Bismarck als Reichskanzler zurück. In seinen Memoiren spricht er rückblickend von Abgeordneten. die „für reichsfeindliche Zwecke arbeiten“, „staatsfeindlichen Agitatoren“ und „von mir Jahrzehnte lang als Reichsfeinde bekämpften Elemente[n]“.
Im Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (das 1976 in der DDR erschien) wird Staatsfeind definiert als „jemand, der die bestehende Ordnung und die Sicherheit eines Staates gefährdet“; staatsfeindlich bedeutet „staatsgefährdend“ und wird mit folgendem Beispiel erläutert: „Er wurde unter dem Verdacht der staatsfeindlichen Tätigkeit / wegen staatsfeindlicher Umtriebe verhaftet“.
Das Grundwort „Feind“ in beiden Komposita bezeichnet eine extreme Gegnerschaft, die eine Bedrohung darstellt und bekämpft werden muss, notfalls mit Gewalt. Staatsfeind ist ein schlagendes Wortargument, das jemanden außerhalb eines politischen Diskussionsrahmens stellt: Mit Feinden diskutiert man nicht, das gilt für Staatsfeinde ebenso wie für Volks- oder Klassenfeinde.
Eine Regierung, die den politischen Gegner als „Feind“ bezeichnet (Staatsfeind, Reichsfeind, Volksfeind, Klassenfeind und Ähnliches) muss sich mit ihm nicht mehr argumentativ auseinandersetzen. Das spart politische Arbeit, ist aber nicht immer erfolgreich: Die – für Bismarck – staats- und reichsfeindliche SPD wurde bei den Reichstagswahlen 1890 stärkste Fraktion und blieb es, über das Kaiserreich hinaus, in der Weimarer Republik bis 1932, als die Nationalsozialisten die relative Mehrheit erzielten. Nach deren Machtergreifung wurde die SPD am 22. Juni 1933 verboten – als „staats- und volksfeindliche Organisation“.