Heute ging die wahrscheinlich längste konstituierende Sitzung eines deutschen Parlaments zu Ende. Sie dauerte in Thüringen von Donnerstag bis Samstag. Die Umstände der Sitzung von Donnerstag wurden schon erläutert. Positiv ist anzumerken, dass ein Vorschlag des Parlamentarischen Geschäftsführers der CDU-Fraktion nicht umgesetzt wurde. Andreas Bühl wollte den Alterspräsidenten Jürgen Treutler durch das zweitälteste Mitglied des Thüringer Landtags ersetzen. Der folgte diesem Ansinnen nicht, womit die Frage nicht geklärt werden musste, wie das umgesetzt werden sollte. Rechtlich war gleichzeitig unklar, ob es sich überhaupt um einen Antrag gehandelt hat. Oder war es nur ein Zwischenruf des kurzzeitig indisponierten Bühls? Wir wissen es nicht. Es wird ein Rätsel bleiben, genau wie diese Mischung aus rechtlicher Beurteilung und politischer Opportunität, die diese konstituierende Sitzung zum Desaster werden ließ.
„Originäres Recht des Parlamentarismus“
Immerhin dämmerte den kreativen Juristen dann doch das Problem, wie man das hätte durchsetzen wollen. Treutler und Braga, Parlamentarischer Geschäftsführer der AfD-Fraktion, haben „die Stille“ ausgesessen: „Nach langen Sekunden der Schritt zurück: Die Fraktionen forderten, dass Treutler die Sitzung fortsetze.“ Womit das selbst erfundene „originäre Recht des Parlamentarismus“ nicht angewandt wurde. Der für seine Reduzierung der Politik auf das Freund-Feind-Verhältnis berühmt gewordene Staatsrechtler Carl Schmitt hätte an dem Begriff „autoritär-populistische Blockade“ seine Freude gehabt. Das Recht dient nur noch dem Zweck, dem Feind zu schaden. Das hätte Schmitt vollumfänglich begrüßt, um das einmal in indisponiertem Deutsch zu formulieren.
Vater und Sohn
Am Ende einigte man sich am Donnerstag, den Konflikt mit Hilfe eines Antrages der CDU-Fraktion an den Verfassungsgerichtshof aufzulösen. Ob sich die Richter ebenfalls dem Kampf des Verfassungsblogs gegen die „autoritär-populistische Blockade“ verschrieben haben, soll zu ihren Gunsten nicht angenommen werden. Dessen Mitglieder werden zwar von den politischen Parteien im Landtag bestimmt, bisher ohne Berücksichtigung der AfD, aber richterliche Unabhängigkeit findet bekanntlich im Kopf statt. Verstehen sich die Richter als Kämpfer gegen oder für irgendwas, oder wollen sie die Legitimation des demokratischen Verfassungsstaates erhalten? Letzteres ist immer möglich, wobei der Richter Jörg Geibert darüber mit seinem Sohn Lennart Geibert am sonntäglichen Mittagstisch diskutieren kann. Der Rechtsanwalt und frühere CDU-Innenminister in Thüringen trifft dann auf einen gerade erst in den Landtag gewählten CDU-Abgeordneten. Der in der Wählerschaft umstrittene CDU-Vorsitzende Mario Voigt hat seinem Prozessbevollmächtigten zwar schon einen Tag vor dem Beginn der konstituierenden Sitzung eine Prozessvollmacht ausgestellt, was aber niemanden beunruhigen sollte. Der kluge Mann baut vor. Aber warum Andreas Brühl diese erst einen Tag später ausstellte, ist unter Umständen dem nachgewiesenen Chaos dieser Landtagssitzung geschuldet, oder Brühl war schon einen Tag vorher indisponiert. Das müssen Historiker klären.
Auf jeden Fall hat der Weimarer Verfassungsgerichtshof in den wenigen Stunden zwischen Antrag und Beschluss eine beeindruckende Leistung vollbracht. Die Richter mussten nicht nur den Sachverhalt diskutieren, sondern haben den Beschluss auch auf 36 Seiten ausformuliert. Erfahrene Juristen finden das sicherlich genauso bemerkenswert wie der Autor dieser Zeilen. Ob der Richter Geibert auch noch die Zeit fand, mit seinem Sohn über diesen aufregenden Tag zu reden, ist nicht bekannt. Jeder Vater hätte dafür Verständnis. Dafür hatte der einstimmig gefasste Beschluss ein Ergebnis: Er gab dem Alterspräsidenten einen Fahrplan mit, wie die Fortsetzung dieser konstituierenden Sitzung zu verlaufen hat. Daran hat sich Treutler gehalten. Zudem musste der Gerichtshof diese Entscheidung begründen. Die juristischen Details werden sicherlich noch in der Fachwelt ausführlich diskutiert werden, der Tenor dieser Entscheidung lässt sich aber so zusammenfassen: Entgegen dem Wortlaut und der bisherigen Praxis kann jeder neue Landtag seine Geschäftsordnung schon vor seiner vollzogenen Konstituierung verändern. Dem Grundsatz der Diskontinuität steht kein Gewohnheitsrecht entgegen. Die Richter mussten sich allerdings nicht damit beschäftigen, ob das beim vom Verfassungsblog erfundenen „originären Recht des Parlamentarismus“ anders zu beurteilen wäre. Es genügt in Zukunft die Mehrheit im Landtag, um eine Geschäftsordnung auf deren politische Bedürfnisse abzustellen.
Bräuche und Konventionen
Inhaltlich hat sich der Landtag mit Billigung des Verfassungsgerichtshofes von einer Konvention verabschiedet. Bisher stellte immer die stärkste Fraktion den Parlamentspräsidenten. Wie das bei solchen jahrzehntealten Konventionen ist, werden die Begründungen im Laufe der Zeit meistens vergessen. Sie entzogen die Besetzung dieses Amtes den parteipolitischen Kalkülen der jeweiligen Parlamentsmehrheit. Der Parlamentspräsident brauchte das Vertrauen der Mehrheit der Abgeordneten. Braga zitierte heute den früheren CDU-Vorsitzenden Mike Mohring, der mit dem Ablauf der vergangenen Legislaturperiode aus dem Landtag ausgeschieden ist. Das Vorschlagsrecht für den Präsidenten des Thüringer Landtags liege bei der stärksten Landtagsfraktion, so Mohring im November 2018 nach einer gescheiterten Wahl eines CDU-Kandidaten für das Amt des Landtagspräsidenten. Es sei ein „gemeinhin akzeptierter Brauch in allen Parlamenten“, dass der vorgeschlagene Kandidat auch gewählt werde. Für Mohring „untergräbt es die parlamentarischen Spielregeln“, wenn sich die damalige „Linkskoalition … ein Auswahlrecht anmaße, welche Abgeordneten die CDU-Fraktion vorschlagen dürfe.“ Dieser Brauch hat seit heute keine Bedeutung mehr, die die Parteien als Selbstverpflichtung empfinden. Das Amt des Landtagspräsidenten wird zur zusätzlichen personalpolitischen Spielmasse bei Bildung einer Koalition. Schließlich kann man Bräuche nicht wieder einführen, wenn es einem gerade wieder passt. Sie funktionieren nur so lange, wie sich alle daran halten.
Carl Schmitt hätte ihn für sentimentales Gerede gehalten. Er war immer ein Anhänger der politischen Selbstermächtigung mit juristischen Mitteln.