Tichys Einblick
Verantwortlich für Verantwortungslosigkeit:

Politiker versagen, Rücktritt ausgeschlossen

Welche und wie viele Fehler dürfen Politiker heute machen? Offenbar ziemlich schlimme und ziemlich viele. Denn es geht nicht mehr darum, Probleme zu lösen, sondern den medialen Anschein zu erwecken, Probleme zu lösen.

IMAGO/photothek

Ganz Deutschland reibt sich die Augen, Pannen häufen sich in einem Ausmaß und in einer Schnelligkeit, dass man bereits von einem staatlichen Versagen zu sprechen sich genötigt fühlt, doch niemand übernimmt dafür die Verantwortung, zumindest nicht die dafür Verantwortlichen, stattdessen sucht man in der Unions-Fraktion nach zwei Sündenböcken, an denen man eine fast schon religiös aufgeladene moralische Empörung inszeniert, die eines Tartüffs würdig ist. Natürlich kann man sich über Provisionen ärgern, aber Hand aufs Herz, in welchem Verhältnis stehen die zu einem Wirtschaftseinbruch von minus 5,4 Prozent, zu der Unfähigkeit Impfstoff und die Impfung zu organisieren? 

Erinnern Sie sich noch an Franz Josef Strauß, Willy Brandt, Lothar Späth, Jürgen W. Möllemann, Uwe Barschel, Björn Engholm, Max Streibl, Gerhard Glogowksi, Rudolf Scharping, Cem Özdemir, Karl-Theodor zu Guttenberg, Hans-Peter Friedrichs und Christian Wulff? Diese Spitzenpolitiker haben gemeinsam, dass sie aus den unterschiedlichen Gründen Verantwortung übernommen haben und zurückgetreten sind. Bei manchen war der Grund von Medien im Jagdfieber herbeigeschrieben und herbeigesendet worden wie bei Christian Wulff, bei anderen wurden sie von der Kanzlerin zurückgetreten, nicht weil sie sich persönlich, sondern der künftige und umworbene Koalitionspartner sich falsch verhalten hatte, denn das Fehlverhalten in der Edathy-Affäre lag nicht beim Innenminister Friedrichs, sondern bei der SPD, bei Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmeier und Thomas Oppermann. 

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Schaut man sich die Rücktrittsgründe an, reichen sie nicht an das Desaster heran, das Jens Spahn, Peter Altmaier, Olaf Scholz, Svenja Schultze, Horst Seehofer und natürlich allen voran Angela Merkel derzeit anrichten. Nichts in Deutschland funktioniert außer dem Selbstlob, das sich die Regierung, die Politik insgesamt ständig zollt – und das im bemerkenswerten Eifer. Obwohl ein Impfstoff in Deutschland entwickelt wurde, ist die deutsche Regierung nicht in der Lage, diesen Impfstoff für das Volk zu ordern, von dem sie laut Eid Schaden abzuwenden hat. Das Gegenteil ist der Fall. Die USA, Israel, Großbritannien und nun auch Ungarn verzeichnen große Impferfolge. Stattdessen verkündet die Bundesregierung bis jetzt, dass sie bis September jedem Bürger ein Impfangebot unterbreiten wird. Spötter fragen indes, ob im September 2021 oder 2022? Wird die Impfung zu einem medizinischen Großflughafen Berlin-Schönefeld, zu einer Elbphilharmonie oder zu einem Stuttgarter Hauptbahnhof? Alles später, zu spät, alles teurer, zu teuer? 

Die Regierung scheitert so kläglich in der Impffrage wie in der Frage der Massentests, wie in der Frage der Lockdown-Maßnahmen, wie in der Corona-Hilfe, deren Auszahlung erst einmal eingestellt wurde, weil das Geld eher bei Betrügern als bei bedürftigen Unternehmen, Gewerben, Einzelhändlern und Soloselbständigen ankommt. Die Vorsitzende des Finanzausschusses des Bundestages, Katja Hessel (FDP), brachte das Desaster auf den Punkt: „Zum Vorgehen dieser Bundesregierung fällt mir nur noch ein: Dieses Land kann weder Pandemie noch Digitalisierung noch Coronahilfen. Wir sind mittlerweile die Lachnummer Europas.“ Doch dieses Desaster richtete die Politik nicht allein an. Für externe Beratung in der Pandemie gab im Jahr 2020 die Regierung 80 Millionen Euro aus. Die Lachnummer ist eine teure Lachnummer. Man fragt sich, wozu bezahlt der Steuerzahler die Fachleute in den Verwaltungen, wozu finanziert der Steuerzahler ein Robert Koch Institut mit einem Tierarzt an der Spitze, wenn die verantwortlichen Politiker im „Ernstfall“ doch auf „externe Berater“ zurückgreifen.

Auf die Frage, warum die Regierung inzwischen alles falsch und nichts richtig macht, existieren drei einfache und hinreichende Antworten: Erstens fühlt sich die Regierung nicht mehr für Deutschland, sondern inzwischen für die Welt im „planetarischen Rahmen“ zuständig, um Deutschland soll sich deshalb die EU-Administration kümmern. Ursula von der Leyen ist bezüglich Deutschlands natürlich bestens eingearbeitet und mit Beraterverträgen kennt sie sich auch sehr gut aus. Eine Fachfrau. Bevor sie für ihre großen Verdienst und die wohl noch größeren Verdienste ihre Wirtschaftsberater womöglich vom Amt der Verteidigungsministerin hätte zurücktreten müssen, entschwand sie an die Spitze der EU-Bürokratie nach Brüssel. 

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Zweitens scheinen die verantwortlichen Politiker wie Angela Merkel, inzwischen in ihrer eigenen Berliner Welt, der Welt der Lobbyisten der neuen Art, der NGOs, und der Hauptstadtmedien seit Jahren in einer hermetischen Welt zu leben. Die Vermutung liegt nahe, dass die Bundeskanzlerin das wiedervereinigte Deutschland aus eigener Anschauung nicht kennt. Sie dürfte im Urlaub in Italien mehr Kilometer zu Fuß zurückgelegt haben als im wiedervereinigten Deutschland, denn als „Kohls Mädchen“ blieb ihr der mühsame Aufstieg von der Basis über die Gremien an die Spitze erspart. Ihre Lebensleistung ist diesbezüglich überschaubar, der Mythos darum allerdings beträchtlich. Merkel ist in doppelter Hinsicht nicht die Aufsteigerin aus dem Osten, denn zum einen nehmen die meisten Ostdeutschen Angela Merkel nicht als ostdeutsch wahr, was auch daran liegt, dass sie in einer Ausnahmesituation in Ostdeutschland, in einer Nischenwelt aufwuchs, und zum anderen begann ihr politisches Leben an der Spitze der Partei, von der unter ihrer Führung nur noch Reste übrig geblieben sind. Die einzige Perspektive, die Angela Merkel auf die CDU kennt, ist die von oben herab. Zwar waren CDU und CSU keine Programmparteien wie die SPD, doch Parteien ohne Werte, ohne Grundpositionen waren sie nie. CDU und CSU haben ihre bürgerliche Verankerung aufgegeben. Sie sind zum Resonanzraum der Grünen geworden. Die Verantwortungsethik, der Realismus wurden zugunsten einer inhaltlosen und phrasenapplizierten Gesinnungsethik, einer politischen Romantik verdrängt. 

Woran erkennt man Fehler? Daran, dass man sein Handeln an der Realität überprüft, am Erfolg oder Misserfolg eigenen Tuns. Wenn man jedoch Wirklichkeit durch Wünsche, durch Träume, durch Bilder einer einzigen Daily Soap ersetzt, wenn man schlicht den Maßstab eigenen Handelns verliert, dann kann man auch nichts falsch gemacht haben, denn die Wunschwelt von Merkels Regierungssoap kennt die Wirklichkeit nicht und demzufolge auch nicht das Versagen. Dann tragen die Schuld an den verstörenden Flaschenposten aus der Realität, wenn sie doch einmal das Ufer der Spree oder der Isar erreichen, der Präsident der USA, Victor Orbán, die Rechtspopulisten, die Rechten, das schöne oder schlechte Wetter oder die ausbleibende Klimakatastrophe. Schuldig sind nur die Heerscharen finsterer Kräfte, die strukturierten oder strukturellen Rassisten, die Islamophoben, die Homophoben, die Phobophoben, die Weißen, die Heterosexuellen, die Familisten, die Väter, die Mütter, die Friday für Future unwilligen Kinder- und Jugendlichen, die AfD, Teile der FDP, die Werteunion, die Mittelstandsvereinigung der CDU, die Christen, die auf der Trinität bestehen, die Rechtspopulisten, vor allem aber die Kritiker der Grünen und ihrer Regierung, woher sie auch stammen mögen. Kritik allein gilt als Majestätsbeleidigung und Verschwörungstheorie.

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In der Regierung und in dem, was früher einmal Opposition hieß, werden Realitätsbeschreibungen und Kritik mit Verschwörungstheorien verwechselt, weil die führenden Politiker in ihrer hermetischen Welt aus Wille und Vorstellung die Wirklichkeit selbst als Verschwörung ansehen. Sie hat sogar dem großen Arsenal der Verschwörungstheorien die Verschwörungstheorie von den Verschwörungstheorien hinzugefügt. Die Vorstellung vom Great Reset, von der großen Transformation, vom Systemumbau fußt auf der voluntaristischen Überzeugung, dass die Realität beliebig manipulierbar ist. Was gewollt ist, ist bereits wirklich, was gefühlt, bereits wahr: das Geschlecht ist nur eine gesellschaftliche Konvention und kann nach Belieben verändert werden, Kinder bringt nonbinär der Klapper*Storch und die Erde ist eine Scheibe, von der man abstürzt in die Abgründe der Realität, wenn man sich nicht der blinden Führung der „Interpretationseliten“, der NGOs oder der von Merkel stark geförderten Neuen Deutschen Medienmacher anheim gibt, einer identitätspolitischen Pressure group, die nun auf Wunsch der Bundeskanzlerin alle Redaktionen „beraten“ soll, damit nicht doch aus Versehen über die Realität berichtet wird. 

Drittens haben die verantwortlichen Politiker das Wesen des Politischen vergessen. Sie verwechseln Politik mit Manipulation. Es geht ihnen nicht mehr darum, Probleme zu lösen, sondern den medialen Anschein zu erwecken, Probleme zu lösen. Das führt in der Praxis dazu, dass nicht selten die Lösung der Probleme durch die Simulation der Lösung von Problemen sogar verhindert oder zumindest beeinträchtigt wird. Politische Botschaften werden zu Werbebotschaften entleert, es bleibt nur Oberfläche übrig.

In den letzten Tagen von Konstantinopel, am Hof des byzantinischen Kaisers war nichts wichtiger als das Hofzeremoniell, währenddessen die Stadt zerfiel. Mehmed II, der Eroberer, schaute sich das eine Weile belustigt an. Besonders erheiterten ihn die Geistlichen der Stadt, die lieber unter dem Turban des Sultans, als unter der Tiara des Papstes zu leben wünschten. Als er sich das lang genug angeschaut hatte, erbarmte er sich schließlich und nahm die Stadt ein. 

Rücktritte verbessern nichts, aber sie wären zumindest ein äußeres Zeichen dafür, dass wieder Verantwortung übernommen wird. 


Dieser Artikel erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.

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