Tichys Einblick
Toiletten als "Portal in die Zukunft"

Das Plumpsklo des Fortschritts

Es findet gerade eine Neudefinition des Progressiven statt: Auf einmal führen wasserlose Klosetts, Fahrradrikschas und Bürgersowjets direkt in die Zukunft. Vielleicht stimmt das sogar. Von Verbesserung ist ja schließlich nicht die Rede.

Eco Toiletten in der Adalbertstraße an der U-Bahnstation Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg

IMAGO / IPON

Kürzlich gab es wieder einen dieser Termine, wie sie sich nur in Berlin ereignen. Es ging um die Präsentation des Fortschritts in seiner neuesten Edition, also genau um das, wofür diese Hauptstadt und ganz grundsätzlich das progressive Milieu steht. Ein Mitglied der Großorganisation der Berliner Staatssekretäre präsentierte der Presse im Park von Steglitz eine öffentliche Toilette ohne Wasserspülung.

Von diesem Exemplar soll es demnächst 24 Stück in der Metropole geben. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie weder über einen Wasser- noch einen Stromanschluss verfügen. Die Beleuchtung funktioniert über Solarzellen, wobei es auf den Versuch ankommt, was sie in trüben Tagen leisten. Die Ausscheidungen sammeln sich in einer Grube unter dem Häuschen. Gerüche sollen laut Herstellerbeschreibung „durch das Einstreuen von Strohmehl“ gedämpft werden (wobei dieser Naturmitteleinsatz auch auf Berliner U-Bahnhöfen zu wünschen wäre, wo Exkremente leider nicht in die Tiefe verschwinden, das nur ganz nebenbei).

Bei den Steglitzer Einrichtungen handelt es sich zumindest nach Auskunft von Florian Augustin, Geschäftsführer der Betreiberfirma Finizio, um „ein Portal in die Zukunft“. So ungefähr, als eigentlich ausgangslose, aber trotzdem mit einem Telos kommunizierende Grube, stellt sich der Beobachter ja generell den Fortschritt in den Farben Berlins vor. Obwohl sie weder Energie noch Feuchtigkeit brauchen, liegen die Kosten für das C ohne W nicht ganz niedrig. Allein für den Betrieb der zwei Dutzend Häuschen fallen jährlich 650.000 Euro an. Möglicherweise liegt das am Strohmehlpreis.

Diese Art der Zukunft, zu der das autarke Portal führen soll, bricht eigentlich schon jetzt an, zumindest punktuell. Ein Wahlwerbeplakat der Grünen von 2021 beispielsweise zeigte zusammen mit der Zeile „Mit einem echten Zukunftsplan“ das Bild einer Familie auf dem Lastenrad; der noch relativ junge und sportliche Vater tritt, die gebärende Person hockt mit ihren beiden Kindern in einer Art Transportkasten. Es geht dabei leicht bergab.

In vorpostmodernen Zeiten gab es außerordentlich viele Toiletten, die nach dem Berliner Zukunftsportalprinzip funktionierten. Die Großeltern des Autors beispielsweise benutzten eine, die sich auf dem Hühnerhof neben dem Haus befand. Der Enkel bei Besuch natürlich auch, denn es gab keine Alternative. Auch keinen Wasseranschluss in der Wohnung; was nötig war, holte man unten an der Pumpe. Die Großeltern lebten nicht freiwillig so. Sie hofften auf eine Modernisierung des Hauses, die allerdings nie stattfand. Modernen Wohnraum gab es in der DDR nur auf Zuteilung, die zwei ältere und schon irgendwie untergebrachte Leute nicht berücksichtigte.

Das Prinzip der Wassertoilette, darauf verwies mein Großvater damals in seinen Protestschreiben an Behörden, existiert schon etwas länger, als Frühversion mit Regenwasser schon in dem Tempel von Nippur, erbaut ca. 4000 Jahre vor Christus. Im Jahr 1775 ließ sich der schottische Mechaniker Alexander Cumming seine wassergespülte Toilette mit u-förmiger Senke im Abflussrohr patentieren, die Technik also, nach der auch heute noch die meisten dieser überaus nützlichen Einrichtungen funktionieren. Die ersten wassergespülten öffentlichen Häuser mit Münzeinwurf (1 Penny) gingen am 1. Mai 1851 zur Eröffnung der Great Exhibition im Londoner Hyde Park in Betrieb.

Kurzum, Grubenaborte gab es früher auch verbreitet in Mitteleuropa. Aber ihre Ablösung durch Spültoiletten mit Porzellanthron und notfalls auch „Klofußumpuschelung“ (Max Goldt) empfanden die Leute ganz allgemein als enorme Verbesserung. Sie nannten es Fortschritt. Genauso, wie viele Fahrradrikschas zum Personentransport existierten und in etlichen Ländern noch existieren, die allermeisten Leute mit Mobilitätsbedarf aber ein geschlossenes motorisiertes Gefährt gerade für das Chauffieren von Kindern vorziehen. Genauso übrigens wie Autos mit Platz für Zuladung und Knautschzone. Auch hier gelten Modelle als Verkehrszukunft, die weder über das eine noch das andere verfügen.

Das Neue an der neuesten Fortschrittsversion, wie sie sich von Berlin aus über das Land verbreitet, besteht also darin, gerade Dinge zum Kanal in die Zukunft zu erklären, die nach früheren Maßstäben einmal dezidiert Rückständigkeit verkörperten, und zwar in einer Form, wie sie mehr oder weniger alle, die mit ihr zu tun hatten, schnellstmöglich überwinden wollten. Übrigens hielten es viele in früheren Zeiten auch für rückständig, Frauen sachwidrig aus Texten zu tilgen. Hier gilt mittlerweile die ehemalige Verstocktheit ebenfalls als brandneu progressiv, wie Gebärende und menstruierende Personen – und nicht nur sie – von öffentlich-rechtlichen Sendern erfahren.

Auch distanzierten Journalismus betrachteten frühere Generationen einmal als Verbesserung im Vergleich zu Kanzelabkündigungen der Staatskirche. Die meisten Bewohner dieses Landes halten es auch noch generationsübergreifend für vorteilhaft, über eigene Haushaltsgeräte in einem abgegrenzten Wohnbereich zu verfügen. Und auch für so selbstverständlich, dass sie diesen Zustand noch nicht einmal mit dem Begriff ‚Fortschritt‘ verbinden würden. Obwohl die Zukunft vielleicht schon ganz anders aussieht.

Aber wie gesagt, im Fortschritt der allerneuesten Ausgabe zeigt sich vom Plumpshäuschen über pedalgetriebenen Lastentransport, frauenfeindliche Sprache und die Ersetzung von regelbaren Kraftwerken durch Windmühlen bis zur Rückkehr der Volkserziehung durch Priester des Zweifelsfreien immerhin eine große Konsistenz.

Womit wir zur neuesten Neujustierung kommen, die sich auch in diesen großen Zusammenhang einfügt: die Installation von Bürgerräten, vorerst nur als Nebenparlament. Nach der Sommerpause, verkündete Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, soll das erste Gremium dieser Art zusammentreten, wie es schon einmal von seinen Erfindern als historischer Sprung nach vorn angekündigt wurde, damals unter dem derzeit etwas verbrannten Markennamen Sowjet, russisch für Rat. Heute klingt das, was Bas dazu erklärt, wie eine Mischung aus Marketingdeutsch, NGO-Papier und Spuren der Originalratserfinder von 1917.

Aushöhlung der Demokratie
Auf dem Weg in die Räterepublik
„Für den ersten Bürgerrat hat sich in einer europaweiten Ausschreibung ein auf Beteiligungsverfahren spezialisierter Dienstleister durchgesetzt.“, heißt es auf der Webseite der Parlamentspräsidentin:

„Der Zuschlag ging an eine Bietergemeinschaft aus den Mitgliedern Mehr Demokratie e.V., nexus Institut für Kooperationsmanagement und interdisziplinäre Forschung GmbH, ifok GmbH und Institut für Partizipatives Gestalten GmbH. Aufgabe des Dienstleisters ist es, in den kommenden Wochen gemeinsam mit der Bundestagsverwaltung die Sitzungen des ersten Bürgerrates nach der Sommerpause 2023 des Bundestages vorzubereiten und zu begleiten. Dabei geht es sowohl um die Betreuung der Bürgerinnen und Bürger als auch um die Organisation und Moderation des gesamten Prozesses. ‚Mit Bürgerräten wollen wir unsere parlamentarische Demokratie stärken und mehr Teilhabe ermöglichen. Die Menschen wünschen sich mehr Dialog. Bürgerräte bieten hier eine starke Chance zur besseren Mitsprache. Für die Erfolgsgeschichte von Bürgerräten ist entscheidend, dass sie die Gesellschaft möglichst breit abbilden – und konkrete Themen behandeln, die die Menschen in ihrem Alltag betreffen‘, sagte die Bundestagspräsidentin.“

Auch diejenigen, die damals in Sowjetrussland Räte einsetzten, erklärten diesen Akt zur Stärkung der Demokratie (wobei sie die frei gewählte Duma umsichtigerweise vorher ganz abgeschafft hatten; nachzulesen in der Geschichte der Partei, kurzer Abriss). Aber prinzipiell fand auch damals schon eine intensive Betreuung der Ratsmitglieder statt, um sicherzustellen, dass sie bei den vorgegebenen Themen nicht falsch entschieden. Diesem Muster soll auch das betreute Bürgerratsdasein in Deutschland folgen. Laut Bas kann sich die Versammlung ihre Debattengegenstände nicht aussuchen. Die legt vorher eine Bundestagsmehrheit fest. Dann lenken die betreuenden Dienstleister den Diskussionsfluss so, „dass das Volk sich in seiner Meinung nicht irrt“ (Jean-Jacques Rousseau).

Die Ratsbesetzung findet nicht durch Wahl statt, sondern durch Auslosung; passende Bürger dürften dort also so zufällig auftauchen wie der notorische Grünenvertreter bei Straßenumfragen vor einer öffentlich-rechtlichen Kamera. Ergänzend dazu bereiten die Grünen in Bayern einen Gesetzentwurf vor, der Parteien dazu zwingen soll, ihre Wahllisten hälftig mit Männern und Frauen zu besetzen, was bedeutet, dass Delegierte auf Parteitagen nur noch eine sehr begrenzte Entscheidungsmöglichkeit hätten, und bei nur einer Kandidatin für einen Listenplatz überhaupt keine mehr.

"Die Arbeit tun die Anderen"
Habeck und die Scharlatane des großen Versprechens
Beide Ideen, die des betreuten Bürgerrats und der geschlechtsquotierten Liste, laufen auf die Idee der Ständevertretung hinaus. Sie bildeten in vorparlamentarischen Zeiten Gremien, die ebenfalls nicht durch geheime Wahl zustande kamen, sondern durch Delegation durch organisierte Stände und Zünfte. Zu entscheiden gab es für sie nicht viel, die echte Macht lag meist beim Feudalherrn, einige freien Städte ausgenommen. Aber damals sagten sich die Bürger, eine solche Versammlung sei doch immerhin besser als die blanke Despotie.

Als dann die ersten tatsächlich frei gewählten Parlamente mit Budgetrecht und der Handhabe zur Einsetzung und zum Sturz des Regierungschefs entstanden, empfanden die damaligen Liberalen und Progressiven – meist alte weiße Männer mit unmöglichen Ansichten – diese Veränderung eindeutig als Fortschritt. Dass beispielsweise nicht mehr Vertreter des Dritten Standes nur Mitglieder dieses Dritten Standes vertraten, sondern alle Bürger, und dass sie als Gewählte auch wirklich über Macht verfügten – das galt als Errungenschaft und großer Schritt zur Emanzipation des Individuums.

Das EU-Parlament verkörpert heute bekanntlich schon im Sinn des Neofortschritts die Versammlung der vorparlamentarischen Ära. Weder kommt es durch gleiche Wahl zustande, in der ein Stimmbürger aus Deutschland das gleiche Gewicht hätte wie einer aus Malta, noch kann es aus eigener Kraft einen Haushalt oder überhaupt ein Gesetz beschließen, die Person an der Kommissionsspitze wählen oder sie absetzen. Mit den Bürgerräten beschreiten Bas und andere diesen Weg konsequent weiter. Falls niemand dem Progress des neuen Typs in die Speichen greift, bekommt Deutschland also in Zukunft eine quotierte Standesversammlung, zu der dann konsequent auch andere Gruppen ihren Zutritt per Proporz verlangen würden, flankiert von Bürgersowjets, in denen Dienstleister das Geschehen steuern.

Die Zukunft steht im Kotti-Schlamm
Eine Grand Tour durch das neue Berlin
Darüber präsidiert die EU-Versammlung zu Straßburg und Brüssel. Eine vergleichbare Betreuung gibt es schon in Ansätzen für nichtratende Bürger, und sicherlich bedarf sie noch des weiteren Ausbaus. Denn ohne weiteres finden sich viele von ihnen – auch wegen dunkler Einflüsse des Internets, die übrigens auch beschnitten gehören – nicht bereit, Sickergruben, Pedalrikschas, schwankende Energieversorgung und vormoderne Ständevertretungen für den Fortschritt zu halten, der die überkommenen WCs, Autos, grundlastfähigen Kraftwerke und konventionellen Parlamente endlich ablösen muss.

Unbetreute Menschen draußen im Land neigen nämlich zu Insubordination. Im Interview mit dem Deutschlandfunk meinte Annalena Baerbock kürzlich, ihre Partei werde die Sache mit dem Heizungsaustausch jetzt durchziehen, obwohl sie als Politikerin Folgendes beobachten muss: „Und plötzlich, weil einige denken, da kann man jetzt ein super Spaltungsthema in der Gesellschaft draus machen, plötzlich wird gesagt, das geht ja alles gar nicht.“ So spielen sich Diskurse nämlich ab: Erst gibt es Leute, die sich den Kopf darüber zergrübeln, wie sie die Gesellschaft am wirkungsvollsten spalten können. Dann entdecken sie ein Thema für diesen Zweck, nach dem sie freudig greifen. In einem Bürgerrat mit Themenvorgabe und vorsorglicher Belaberung passiert so etwas schon einmal nicht.

Unbetreute Gesellschaftsmitglieder sagen möglicherweise in destruktiver Weise: Der kommende deutsche Sowjet ist eine Art wasser- und stromanschlussfreier Abort der Demokratie, eine strohbemehlte Grube als Portal in eine Zukunft, wie sie kein Bürger der alten Sorte wollen kann.

Und so ähnlich, wie Michail Bulgakow in „Der Meister und Margarita“ sagen lässt, es gebe keine ersten und zweiten Frischegrade bei Fischen, sondern nur den ersten, der auch der letzte sei, verkörpert der alte Bürger auch gleichzeitig den einzigen, der diesen Namen verdient. Den Neobürger erkennen wir daran, dass er sagt: Die fortschrittliche Gesellschaft, das sind Bürgerräte plus Entwässerung des gesamten Toilettensystems.

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