Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hat dem Handelsblatt am 20. Oktober ein ausführliches Interview gegeben. Es ging dort „tour d’horizon“ um die Ukraine, Israel, den Balkan, Armenien und Aserbaidschan, Spannungen zwischen Indien und China, Deutschlands Verhältnis zu Saudi-Arabien und Katar, Deutschlands Rolle in der Nato, Deutschlands Verhältnis zu den USA über 2024 hinaus, die Finanzierung der Bundeswehr und deren Einsatzfähigkeit, den digitalen Führungsfunk der Bundeswehr, die deutsche Rüstungsindustrie, Rüstungsprojekte und anderes mehr. Viele der Aussagen von Pistorius sind markant, bei anderen redete er um den heißen Brei herum. Wie auch immer: Die 13-Monate-Verteidigungsministerin und Flop-Vorgängerin Christine Lambrecht (SPD) hätte ein solches Interview nicht zustande gebracht.
Besonders bemerkenswert ist eine ganz bestimmte Aussage von Pistorius: „Die Aussetzung der Wehrpflicht war ein Fehler.“ Pistorius war gefragt worden: „Muss die Wehrpflicht wieder eingeführt werden?“ Pistorius antwortete: „Die Aussetzung der Wehrpflicht war ein Fehler. Sie lässt sich aber nicht von heute auf morgen rückgängig machen. Die Bundeswehr hat dafür zum Beispiel nicht die Kasernen oder das Ausbildungspersonal. Wir setzen daher auf ein umfangreiches Konzept zur Gewinnung von Personal. Die Herausforderung bei den kleiner werdenden Jahrgängen besteht darin, die Stärken und Besonderheiten der Bundeswehr zu thematisieren. Tatsache ist doch: Viele junge Menschen suchen eine sinnstiftende Aufgabe in ihrem Leben. Wer sich für die Bundeswehr entscheidet, leistet einen Beitrag zur Sicherheit und Freiheit in unserem Land. Dafür können wir ihnen rund 1000 verschiedene Jobs bieten, die vor allem eines verbindet: die Kameradschaft.“
Das Aussetzen der Wehrpflicht war das naiv-populistische Werk von CDU/CSU und FDP
Lassen wir Pistorius‘ Aussage und Perspektive so stehen; erinnern wir der zeitgeschichtlichen Redlichkeit wegen daran, was 2010/2011 geschah: Das Aussetzen der Wehrpflicht war eine der großen Verirrungen der Merkel-Jahre. Wie war es überhaupt dazu gekommen?
Im Juni 2010 schlug zu Guttenberg dem Bundeskabinett vor, die Wehrpflicht auszusetzen, sie aber im Grundgesetz zu belassen. Dort heißt es in Artikel 12a: „Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden.“
Ende August 2010 stellte zu Guttenberg verschiedene Modelle zur künftigen Struktur der Bundeswehr vor. Alle Modelle gingen von einer Truppenstärke von 150.000 bis 180.000 Zeit- und Berufssoldaten vor. In einigen Modellen war von einem Aussetzen der Wehrpflicht die Rede, während man in anderen Modellen von 25.000 Grundwehrdienstleistenden und zusätzlich 25.000 freiwilligen Wehrdienstleistenden ausgegangen war. In wieder anderen Varianten war von 30.000 Grundwehrdienstleistenden oder generell von freiwillig Wehrdienenden die Rede. Die Bundeswehr sollte auf jeden Fall kleiner werden. 163.500 Soldaten, bestehend aus 156.000 Berufs- und Zeitsoldaten plus mindestens 7.500 bis 23 Monate freiwillig Wehrdienende wurde als „absoluter Mindestumfang“ bezeichnet.
Am 26. Oktober 2010 wurde der Abschlussbericht der Strukturkommission an Guttenberg übergeben. Man sah eine Verpflichtung zum Grundwehrdienst als sicherheitspolitisch generell nicht mehr für erforderlich an. Die Zahl der Soldaten, die damals schon an aktiven Einsätzen im Ausland teilnahmen (im Kosovo bis zu 6.000, in Afghanistan bis zu 5.300), sollte auf 18.000 mehr als verdoppelt werden. Die Bundeswehr sollte auf rund 180.000 Soldaten und etwa 50.000 Dienstposten für zivile Beschäftigte reduziert werden. Die Truppenstärke war im Jahr 2010 übrigens 246.000 „Mann“. Das Bundeskabinett folgte Guttenbergs Vorschlag am 15. Dezember 2010. Ab dem 1. März 2011 sollte niemand mehr zwangsweise einberufen werden.
Die Bundeswehr war der 16-Jahre-Kanzlerin Merkel ziemlich egal
Vonseiten der CDU und ihrer Kanzlerin gab es keinen Widerstand gegen das Aussetzen der Wehrpflicht, wie man überhaupt festhalten muss, dass die Bundeswehr der 16-Jahre-Kanzlerin Merkel ziemlich egal war und dass sie am nach wie vor desaströsen Zustand der Bundeswehr einen Großteil der Verantwortung trägt. (Von den 16 Jahren übrigens 12 Jahre in großer Koalition mit der SPD!) Der damalige Koalitionspartner FDP sah im Aussetzen der Wehrpflicht die Erfüllung eines lange von ihr gehegten Wunsches.
So endete 55 Jahre nach deren Einführung im Jahr 1956 die Wehrpflicht. Am 3. Januar 2011 wurden die letzten 12.150 Wehrpflichtigen zu ihrem sechsmonatigen Pflichtdienst eingezogen. Am 1. Juni 2011 verließen die letzten Wehrpflichtigen die Bundeswehr. Kritische Betrachtungen dieser Politik gab es damals und auch in den nachfolgenden Jahren nicht oder nur in Spurenelementen. Der ehemalige Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) sprach am 10. Februar 2019 in einem Interview für den „Tagesspiegel“ von der „Zerstörung der Bundeswehr“ durch zu Guttenberg. Dieser habe „freiwillig acht Milliarden eingespart. Und kopflos die Wehrpflicht abgeschafft ohne ein Konzept, wie man auf dem freien Arbeitsmarkt die Leute bekommt.“
Alles in allem: Pistorius‘ Einsicht kommt zu spät. Die Bundeswehr soll zwar von 183.000 auf 203.000 im Jahr 2031 anwachsen. Diese Zahl zu stemmen, zumal jetzt schon 20.000 Dienstposten nicht besetzt sind, bleibt eine der großen Aufgaben der Politik und eine der großen Herausforderungen, an denen sich Pistorius messen lassen muss. Es führt jedenfalls kein Weg daran vorbei, die Bundeswehr erstens wieder ideell und mental stärker in der Öffentlichkeit zu verankern und zweitens den Dienst in der Bundeswehr um vieles attraktiver zu machen. Eine Wiedereinführung der Wehrpflicht dürfte wohl nur im Zuge der Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht für alle möglich sein. Theoretisch! Denn dafür fehlt es allen Parteien am Mumm.