Das Haus von Sergei Prokovjew würde heute von Tierschützern belagert. Sein Musik-Märchen für Kinder „Peter und der Wolf“ käme wegen Aufruf zur Tierfängerei und nicht artgerechter Haltung erst gar nicht mehr zur Uraufführung. Schon der Text machte ja den Kindern Angst: „Da kommt aus dem Wald der große graue Wolf.“ Dazu noch die Warnung des Großvaters: „Aber wenn Peter den Wolf nicht gefangen hätte – was dann?“ Peter hatte Glück, er fing den Räuber mit der Schlinge, damit ihn die Jäger in den Zoo tragen konnten. Dort, und nicht in der Freiheit, sollte er sich herumtreiben. Tja Peter, das geht im Wolfsland Deutschland schon gleich gar nicht.
Der Wolfsbestand hierzulande wächst jährlich um etwa 36 Prozent. Nach Schätzungen des Deutschen Bauernverbandes laufen inzwischen bis zu 1.300 Tiere frei herum. Sie werden sich in kurzer Zeit verdoppeln. „In drei Jahren leben in Deutschland über 2.000 Wölfe“, prognostiziert Torsten Reinwald, Sprecher des Deutschen Jagdverbands.
Kurz: Der Wolf nimmt in Europas am dichtest besiedelten Flächenland überhand. Deutschland hat 83 Millionen Einwohner und bereits über 1.000 Wölfe. Nur zum Vergleich: In Schweden mit 10 Millionen Einwohnern gibt es auf viel größerer Landfläche nur 200 Wölfe. Dort leben auf 447.420 Quadratkilometern Fläche lediglich 24,72 Einwohner pro Quadratkilometer. Im kleineren Deutschland (357.380 qkm) drängen sich zehn Mal so viele Menschen auf dem Quadratkilometer, nämlich 237. Dafür leben hier bald zehn Mal mehr Wölfe als bei unseren skandinavischen Nachbarn. Obendrein hat Schweden wolfsfreie Zonen bestimmt. Dort ist der Canis Lupus sogar zur Jagd freigegeben. In Deutschland gehört der Wolf zu den Unberührbaren. Der Abschuss ist ein fast aussichtsloser Akt. Bislang wurden lediglich zwei Wölfe „der Wildbahn entnommen”, vermerkt der Jagdverband. Frustrierte Bauern und Jäger wehren sich zum Teil mit Selbstjustiz. Sie töten illegal Wölfe, obwohl es strengstens verboten ist. Oberster Regulator bleibt der deutsche Straßenverkehr: Seit 1990 wurden 119 tote Wölfe gemeldet; 17 davon illegal geschossen, 87 starben auf der Straße.
Unglaubliche Wolfsbürokratie
Jäger und Biologe Reinwald berichtet: „Von 2016 auf 2017 haben wir eine Steigerung der Wolfsattacken von 66 Prozent.“ Bei getöteten Nutztieren sei das ein Plus von immerhin 55 Prozent.
Das Problem der Statistik: Das Bundeskompetenzzentrum Wolf (DBBW) veröffentlicht Zahlen immer erst zwei Jahre später. Deshalb gibt es jetzt erst die Rissdaten für 2017. Die Bundes-Statistik vermerkt: Die Zahl der Nutztierschäden durch Wölfe ist von 2015 bis 2017 von 715 auf 1.667 gestiegen. Parallel dazu erhöhten sich die Schadenausgleichszahlungen entsprechend von 107.782 Euro auf 187.894 Euro im selben Zeitraum, wie der FDP-Bundestagsabgeordnete Torsten Herbst durch eine Regierungsanfrage herausgefunden hat. „Die dramatisch angestiegen Zahlen beweisen, dass der Bestand reguliert und dafür der Wolf in das Bundesjagdgesetz aufgenommen werden muss“, fordert Herbst.Landwirtschaftsexperten schätzen die Schäden für 2018 auf rund 2.500 getötete Tiere und fast 280.000 Euro Ausgleichszahlungen.
Durch die Vermehrung der Wölfe steigern sich Opfer und Gelder potentiell weiter. Obendrein melden viele Bauern Rissschäden schon gar nicht mehr, weil sie über die sich Jahre hinziehende bürokratische Datenerfassung des DBBW und den staatlich organisierten Wolfsschutz frustriert sind, berichten Jäger.
Ja, es ist schon verrückt: Straftaten werden in Deutschland trotz föderaler Strukturen schnell erfasst, während die Öffentlichkeit beim Täter Wolf über zwei Jahre auf Tötungszahlen warten muss. Es wird gentechnisch haargenau geprüft, ob der Wolf nach einer Bluttat in einem Gatter wirklich der Mörder war. Diese detektivische Umweltbürokratie braucht natürlich Zeit.
Und eine einfache wie bezahlbare Wolfsabwehr gibt es auch nicht: In einem Leitfaden des BMEL für die Haltung von Wölfen zum Beispiel im Zoo müssen Zäune 2,80 Meter hoch und im Boden 60 Zentimeter tief sein. „Es ist ein Wettrüsten, das wir gegen den Wolf verlieren“, warnt Biologe Reinwald. Staatliche Empfehlungen hätten mit 90 Zentimeter Höhe des Zauns für Nutztiergehege angefangen, jetzt sei man bei 1,20 Meter plus Elektrodrähte. So eine Höhe überspringe jedoch der Wolf locker, wenn er will. Zumal sich der Canis Lupus auch häufiger unten durchwühlt. „Es gibt keinen wolfsicheren Zaun für die Tierhaltung“, weiß Jagdverbandssprecher Reinwald. Tierhalter zahlen jetzt einen hohen Preis.
Laut einer Studie, so das BMEL in seiner Waldfibel, würde sich bei einer deutschlandweiten Ausbreitung des Wolfes ein zusätzlicher Materialbedarf für die Absicherung mit Herdenschutzzäunen von rund 26.500 Kilometer Zaun mit Investitionskosten von ca. 16,4 Millionen Euro deutschlandweit (nur Schafhaltung) ergeben. Für eine deutschlandweite Absicherung würden ca. 17.150 Herdenschutzhunde benötigt. Die Anschaffungskosten hierfür lägen bei rund 51,4 Millionen Euro.
Wer soll das bezahlen? Was wird aus der Bio-Weidehaltung in freier Natur? Extensive Beweidung durch weite, offene Flächen ist Naturschutz pur, aber sie sind gar nicht wolfsicher einzuzäunen. Kleine Öko-Bauern geben hier reihenweise auf. Auch Jäger sind gegen eine Einzäunung der deutschen Natur, weil sich das Wild dann nicht mehr artgerecht vermehren kann und durch Zäune territorial degeneriert.
Daher fordert der Deutsche Jagdverband eine wildökologische Raumplanung für Isegrim. Wo darf der Wolf hin, wo kann man ihn managen und wo darf er gar nicht hin. Der Vorschlag: In Städten, Deichgebieten (Schafe) und alpinen Regionen (Kühe/Ziegen) hat er nichts zu suchen. Canis Lupus soll in Naturschutzgebieten oder auf Truppenübungsplätzen bleiben. Und Management bedeute auch das Töten von Wölfen. Außerdem: Wieviel Wölfe sind vertretbar? Der Canis Lupus ist zwar eine heimische Tierart, aber Wolfsschutz dürfe es nicht um jeden Preis geben. Der Wolf könne nicht rauben, wie er will. „Mufflons hat der Wolf bereits fast ausgelöscht“, klagt Jäger Reinwald. Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) hat nach Angaben des Jagdverbandes bis heute nicht auf seinen Vorschlag reagiert.
Artgerechter Jagdtrieb
Schon seit Peter und der Wolf wissen Jäger: Der Wolf ist ein Räuber und kein Fluchttier, sondern ein 40 Kilogramm schwerer Fleischfresser. Er habe keine natürliche Scheu vor Menschen. So ein Wolfsrudel putzt auch 600 Kilogramm schwere Rinder weg. Selbst Pferde und Ponys sind vor ihm nicht sicher. Allein in Niedersachsen rissen Wölfe bisher schon 66 Weidekühe. Diese Zahl nannte kein geringerer als Niedersachsens Umweltminister Olaf Lies (SPD) im Umweltausschuss des Landtages. Deshalb will er einen bestimmten Wolfsrüden im Kreis Nienburg jetzt abschießen lassen, der nebenbei gleich noch drei Ponys killte. Lies gestand ein: Auch 1,70 Meter hohe Zäune hielten den Wolf nicht von seinen Angriffen ab.
Beispiele für Wölfe im artgerechten Jagdrausch gibt es fast im Wochentakt: Wie jetzt im sächsischen Audenhain nordöstlich von Leipzig. Dort rissen Wölfe in der Nacht von Montag zu Dienstag (5. März) im Audenhainer Gatter zehn Stück Damwild und ein Mufflon. Für das mit gut 100 Hektar größte sächsische Wildgehege war es der bislang größte Schaden. Bei einer ersten Wolfsattacke wurde zuvor bereits zwei Mal Damwild getötet. „Die Wölfe waren nicht wählerisch. Die haben sich geholt, was sie wollten“, zeigte Wild-Bauer Kuno Pötzsch einem Torgauer Zeitungsreporter den Kadaver eines trächtigen Tieres. Lediglich die Läufe, der Kopf und die Rippenbögen blieben. An anderen Kadavern machen sich bereits zu jener Mittagsstunde die Raben zu schaffen. Staat und Tierschützer sehen den artgerechten Bluttaten ihrer Schützlinge meist nur zu. Die Kosten für den Schutz wehrloser Tiere überlassen sie, wie in Audenhain, meist den Bauern. Allein die wolfsichere Aufrüstung der derzeit doppelt umlaufenden fünf Kilometer langen Umzäunung würde 350.000 Euro verschlingen. Davon trägt der Freistaat mit 75.000 Euro aber nur einen Bruchteil. „Wer soll für den Rest aufkommen?“, fragt Pötzsch zu Recht. Welchen finanziellen Beitrag leisten eigentlich die Spenden und Geld einsammelnden Natur- und Tierschutzverbände für die Wolfsopfer?
Zudem berichten historische Aufzeichnungen von häufigen und schwerwiegenden Angriffen in Deutschland. So wurden im Raum Viersen und Roermond in den Jahren 1810 und 1811 von tödlichen Angriffen auf zwölf Kinder verzeichnet sowie auf 28 Kinder in den Jahren 1814/15 und 19 Kinder und Erwachsene im Jahr 1820 in Posen. Vor diesem historischen Hintergrund warnt Hilse: „Die Ansiedlung des Wolfes ist ein unverantwortliches und folgenschweres Experiment, ein vorrangig in sehr dünn oder gar nicht besiedelten Gebieten lebendes großes Raubtier, in ein dicht besiedeltes Gebiet zu bringen, wohlwissend der möglichen Folgen.“
Talk übers Leiden der Lämmer
Der Wolf taugt natürlich auch zum Talk. Bei Maischbergers Wolfsrunde im Ersten verbreiten grüne Romantiker gerne die Legende vom guten Wolf. Seit 20 Jahren etwa siedelt sich Isegrim wieder in Deutschland an. „Wir sind das wildreichste Land Europas“, schwärmt Tierfilmer Andreas Kieling. Hier finde der Wolf ein perfektes Ökosystem vor, in das er nun regulierend eingreife. „Wir haben einen verdammt großen Nutzen vom Wolf.“ Denn der Mensch gehöre ja gar nicht in sein Beuteschema. Noch nicht.
Klingt so schön harmlos. Denn der Tierfilmer meint damit indirekt auch die „Regulierung von Nutztieren“ im Jagdrausch der Wölfe. Bei Tierquälereien durch Menschen gäbe es Massenproteste, gequälte und gerissene Tier durch Isegrim jucken die Tierschützer nicht. Da werden bei den Ökoempörern selbst die Hühneraugen zugedrückt.
Für Schäfer sind brutale Wolfsrisse nicht nur eine wirtschaftliche Bedrohung, sondern auch menschliche Belastung. Schäfer Ronald Rocher berichtet bei Maischberger, gerissene Tiere gehörten zum Alltag. Aber der Wolf solle doch besser woanders fressen.
„Der Wolf hält sich nicht an die Regeln und da muss die Politik eben Regeln setzen“, findet Schäfer Rocher aus Brandenburg, der 600 Schafe besitzt. Das heißt Verbotszonen und notfalls Abschuss. Allein in den letzten drei Jahren wurden dem Berufsschäfer 50 Tiere getötet. Der größte Riss lag bei 18 Schafen. Allein in Brandenburg gebe es schon 38 Wolfsrudel. Zudem fressen ihn noch die Herdenschutzkosten auf (siehe oben).
Tierfilmer Kieling tangieren die Probleme eher peripher. Er argumentiert infantil: „Wie soll sich ein Tier an die Regeln halten?“ Mehr noch: „Die Menschen missachten die Lebensregeln dieses Tiers!“ Ergo: Der Mensch muss weg? Zudem sei ja der Schaden durch den Wolf nichts, im Vergleich zu dem, wie die Menschen mit Lebensmitteln umgingen. Bauer Rocher erdet den Tierphilosophen schnell mit dem Leiden der künftigen Lämmer: „Wir schlachten keine hochtragenden Schafe.“
Nun noch die gute Nachricht für unsere Öko-Eltern mit Hang zu Waldkindergärten und Waldschulen: Der erste unmittelbare Kontakt mit Isegrim wird immer wahrscheinlicher. Der Graue rückt den Städtern immer näher. Sein Odem könnte für die Naturfans samt Kindern bald direkt erlebbar sein. Großstadt-Sichtungen werden zwar heruntergespielt, sind aber schon Realität. So haben Kameraaufnahmen dokumentiert, wie Wölfe in Rumänien gezielt in Großstädte eingewandert sind, um auf Müllkippen nach Nahrung zu suchen. Das tun Waschbären in Deutschland schon längst mit Hausmülltonnen.
Beim Wolf ist die Tierlobby jedoch bislang bereit, alle Risiken einzugehen inklusive menschlicher Verluste. Die deutsche Angstgesellschaft agiert beim guten Wolf regelrecht gehemmt. Während es 2001 in Europa für rund 89.000 Rinder in der BSE-Krise keine Gnade gab. Sie wurden schnell gekeult, obwohl das Risiko des Rinderwahnsinns für den Menschen fast gegen Null ging.
Doch Wandel kommt meist durch Erfahrung. Erst wenn Isegrim Lisa-Marie und Jan-Hendrik beim Namentanzen im Waldorf-Kindergarten zuschaut und genüsslich seine sieben leckeren Geißlein zählt, ja dann vielleicht könnte die Sympathiekurve für den grauen Wohlstandsräuber rapide sinken.
Tabelle: Schadenbilanz des Wolfes in Deutschland
Quelle: Zahlen des Bundesumweltministeriums