Tichys Einblick
Neues Buch von Peter Sloterdijk

Peter Sloterdijk: „Ich glaube, die Geschichte ist zu Ende erzählt.“

Peter Sloterdijk hat wieder etwas geschrieben. Das ist nett. Die Werbekampagne zu dem Buch und die dazugehörigen Interviews des Philosophen sind ernüchternde Dokumente der Selbstverzwergung. Über den Rückzug eines ehemals unangepassten Denkers.

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Bekenntnisse sind wichtig in dieser Zeit, viel wichtiger als noch vor ein paar Jahren. Deshalb kann es nicht schaden, wenn dieser Text mit einem Bekenntnis beginnt: Ich habe bei Peter Sloterdijk studiert. Genauer: Ich habe eine ganze Menge seiner Vorlesungen besucht. „Ich habe Sloterdijk gehört“, sagten wir damals als Studenten, und ich habe ihn auch ein paar Jahrzehnte später noch verehrt. Das sollten Sie wissen, bevor Sie weiterlesen – damit Sie nicht auf den Gedanken kommen, ich hätte was gegen den Mann.

Das Gegenteil ist richtig.

„Es gibt bei allen Klassikern dieses herrliche Gefühl von Unergiebigkeit: dass man 100 Seiten lesen kann, ohne dass man eine Stelle anstreichen möchte. Dahin muss man kommen.“
(Peter Sloterdijk – Interview am 26. November 2020)

Sloterdijk singt hier das Hohelied der Langeweile. Und es ist ihm gelungen, sich selbst daran zu halten: Dem von ihm so formulierten Ideal, auf vielen Seiten keine einzige erinnernswerte Passage anzubieten, kommt sein neues Buch recht nahe.

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Was ihm mit seinem neuen geschriebenen Wort schwerfällt, erledigt Sloterdijk dafür mit dem gesprochenen: Er erzeugt Aufmerksamkeit – nicht mit dem Buch, dafür mit den zur Werbekampagne für das Buch gehörenden Interviews. Und nicht mehr, indem er gegen den Strom schwimmt; sondern jetzt, indem er mit dem Strom schwimmt – aber dafür möglichst schnell.

„Wer so reagiert wie Sebastian Kurz, ist schon in die Falle gelaufen.“
(Peter Sloterdijk – Interview am 17. November 2020)

Das sagt Sloterdijk über den österreichischen Bundeskanzler und dessen Rede nach dem islamistischen Attentat von Wien. Den Täter nennt der Philosoph einen „verblendeten Pubertierenden“ und „irregeleiteten Rebellen“. Mehrfachmord als Jugendsünde, sozusagen.

Zur Erinnerung: Islamistische Terroristen haben 2020 allein in Europa bisher sieben Menschen ermordet; im vergangenen Jahrzehnt gab es im Westen (Europa, USA, Australien) 533 Opfer im Namen Allahs.

Trotzdem, findet Sloterdijk, gehören solche Zwischenfälle eigentlich auf die letzte Seite der Zeitungen, unter „Vermischtes“. Er vergleicht Corona-Tote mit Opfern von terroristischen Anschlägen. Beide Todesarten kämen vergleichsweise selten vor, würden von „den Medien“ aber wie mit einem Elektronenmikroskop auf absurde Dimensionen vergrößert.

Bitte, wie? Das ist so, als würde man die Opfer von Blitzschlägen mit den Opfern von Auftragsmorden gleichsetzen – und dann daraus den Schluss ziehen, die Gesellschaft solle sich über die Berufskiller doch nicht so aufregen.

Vermutlich ist Sloterdijk das irgendwann auch selbst aufgefallen – denn er versucht, seinen Kategorienfehler zu beheben: Corona sei sozusagen „Naturterrorismus“, sagt er dann.

Da soll offenbar ein kruder Gedanke durch einen noch kruderen geheilt werden: Die Idee vom „Naturterrorismus“ funktioniert überhaupt nur, wenn man der Natur unterstellt, absichtsvoll zu handeln – also aus ihr ein Subjekt macht. Das ist nicht mehr nur dicht an irrationaler Esoterik, das ist schon ganz tief drin. Und in diesem spirituellen Konstrukt soll dann die Absicht „der Natur“ auch noch sein, Angst und Schrecken zu verbreiten (denn das ist die Definition von Terrorismus)?

Das sagt der Mann, der die längste Zeit seines Lebens „Vernunft“ einforderte. Was ist da passiert zwischendurch?

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Aber so geht es immer weiter, im Stil einer Mainstream-Plattitüden-Ballwurfmaschine.

„Querdenker sind für mich Menschen, die die Erdrotation leugnen.“
(Peter Sloterdijk – Interview am 26. November 2020)

Sloterdijk behauptet pauschal, „die“ Querdenker (hier meint er die Bewegung) würden Tatsachen leugnen. Das ist eine – für einen professionellen Denker – unerklärliche und auch unentschuldbare Verallgemeinerung. Sie zeugt entweder von Unwissenheit bezüglich der „Querdenker“ oder vom Interesse an deren Diffamierung, oder von beidem.

Ausgerechnet ein Philosoph, der damit bekannt wurde, die Erzählungen der gesellschaftlichen Mehrheit zu hinterfragen, übernimmt unkritisch die derzeit zentrale Erzählung der Mächtigen – und diffamiert im Vorbeigehen gleich noch ein paar Millionen Bürger, von denen die meisten keineswegs Tatsachen leugnen, sondern einfach nur mehr Angst vor den Beschränkungen ihrer Grundrechte haben als vor einem Virus.

„Gesellschaften gedeihen nur, wenn sie Menschen mit Lebenssicherheit ausstatten. Das hat damit zu tun, dass Menschen wissen, dass sie Rechte haben.“

Das sagt derselbe Peter Sloterdijk in demselben Interview. Finde den Fehler.

Es sei eine „Tatsache“, dass viele Millionen Menschen gesundheitlich durch Corona „schwere Schäden“ davontragen, spricht der Philosoph. Nur einige würden „ungeschoren davonkommen“. Spätestens da hat der Mann den Boden der Tatsachen verlassen und ist in reine Fantasie abgedriftet. In Wahrheit ist es ja genau andersherum: Einige wenige Menschen sterben – derzeit laut RKI gerade mal 1,6 % der Infizierten; einige tragen Langzeitschäden davon – aber die meisten, die allermeisten, die aller-allermeisten kommen, um mit Sloterdijk zu sprechen, ungeschoren davon.

Was treibt einen vernunftbegabten Mann dazu, anderen das Leugnen von Tatsachen vorzuwerfen – und dabei selbst die Tatsachen zu leugnen?

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„Ich habe den Ausdruck ‚Querdenker‘ nie gerne gehört (…), weil man damit attestiert bekommt, dass man aus dem Konsensus herausfällt – was mir keine eigene Motivation ist.“
(Peter Sloterdijk – Interview am 26. November 2020)

Sloterdijk hat dadurch Karriere gemacht, dass er an den Gittern des Denkgebäudes des Mehrheitskonsenses rüttelte. Jetzt mag man kaum glauben, was er seit einigen Wochen zu Protokoll gibt.

Der reiche Teil der Weltbevölkerung müsse in ein „großes Seminar über ein unschädliches Leben“, sagt er. Das klingt etwas freundlicher als Umerziehungslager, aber es dürfte konzeptionell nicht weit davon entfernt sein. Er nennt Gleichheit eine „Verheißung“ – und verliert kein Wort über die Einzigartigkeit von Individuen.

Zu Sloterdijks großen Leistungen gehörte, dass er einer der ganz Wenigen in Deutschland war, die dem linken Heiligen Jürgen Habermas öffentlich Paroli boten. Es war Sloterdijks Verdienst, dass die Ideologie von Habermas nicht unwidersprochen blieb – also die Ideologie eines Mannes, der zum Beispiel gegen die Wiedervereinigung war, weil er in der DDR das bessere Deutschland sah.

Wie vorsichtig Sloterdijk inzwischen geworden ist, um es sich mit dem Mainstream nicht zu verscherzen, zeigt ein Satz dazu: Die Feindschaft mit Habermas habe „einfach aufgehört.“

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„Man soll immer wieder das gewohnte Selbst fallenlassen.“
(Peter Sloterdijk – Interview am 26. November 2020)

Erste Vorboten der Vorsicht waren schon länger zu beobachten. In einer Diskussionsrunde nach seinem Vortrag vor dem Deutschen Arbeitgeberverband 2019 in Mainz wurde Sloterdijk aus dem Publikum gefragt, ob er Anzeichen dafür sehe, dass die Meinungsfreiheit – und überhaupt die Freiheit – in Deutschland auf dem Rückzug sei.

Darauf hätte der Mann noch vor ein paar Jahren lustvoll und pointiert geantwortet. An jenem Abend aber vermied er jede auch nur halbwegs konkrete Aussage, mäanderte minutenlang und schwurbelte sich um alles herum, was als eine Position hätte interpretiert werden können.

Nun hat jeder mal eine Formschwäche. Aber Sloterdijk war an diesem Abend ansonsten absolut präsent und schlagfertig. Nur bei der Frage nach dem Zustand der Freiheit in Deutschland wirkte er, als empfinde er körperlichen Schmerz. Er wand sich, als ob man ihn in ätzende Lauge getaucht hätte. Er lief vor dem Thema davon, er suchte buchstäblich das Weite. Er beendete die Diskussionsrunde – besser: Er brach sie ab.

Die Unlust am kritischen Widerspruch ist Peter Sloterdijks neues Markenzeichen. Der Mainstream ist seine neue Heimat.

Natürlich hätte ich ihn mit dieser Kritik gerne persönlich konfrontiert. Mehrere Interviewanfragen von „Tichys Einblick“ ließ er ablehnen – durch seine Ehefrau, die wohl auch so etwas wie eine Kombination aus Büroleiterin, Literaturagentin und Managerin für ihn ist.

Begründet wurde das zuletzt mit der Corona-Krise. Das darf in Zeiten, in denen die halbe Welt online über Teams, Zoom oder Skype miteinander kommuniziert, wohl als offenkundige Ausrede verstanden werden.

Sloterdijk zog es vor, mit der Welt und dem Spiegel zu reden – wo er keine kritischen Fragen zu bewältigen hatte.

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„Alle müssen früher oder später zurücktreten. (…) Ich glaube, die Geschichte ist zu Ende erzählt.“
(Peter Sloterdijk – Interview am 26. November 2020)

Wir gehen nicht achtsam genug mit den Wörtern um, die wir gebrauchen und verbrauchen.

Tatsächlich haben uns viele Begriffe, mit deren Hilfe wir so beiläufig und routiniert miteinander kommunizieren, viel mehr zu sagen, als wir gemeinhin denken. Tatsächlich sollten wir manches viel wörtlicher nehmen.

Enttäuschung, zum Beispiel. Sie ist im Wortsinn eine Ent-Täuschung – setzt also eine Täuschung voraus: meistens eine Selbsttäuschung. Haben wir uns in Peter Sloterdijk getäuscht? Vielleicht.

Vielleicht hat der Verlag ihn ja auch darum gebeten, während der Werbekampagne für das neue Buch nichts zu sagen, was den Verkaufszahlen schaden könnte. Auch ein Philosoph muss seinen Lebensunterhalt verdienen, das weiß ich nur zu gut, und nachdem die Zeit der Festanstellungen vorbei ist, sind Tantiemen wichtig. Ein Wohnsitz in Berlin-Halensee (eine der ganz wenigen noblen und entsprechend teuren Gegenden in der Hauptstadt), ein Zweitwohnsitz in Frankreich, eine aktuelle Ehe sowie drei frühere sind vermutlich auch eher kostspielig. Ich meine das ganz ernst und ohne jede Häme.

Vielleicht will Sloterdijk auch einfach nur seinen Ruhestand – tja, eben ruhig verbringen: ohne anstrengenden Gegenwind, ohne ständige Angriffe der grün-linken Gedankenpolizei, ohne öffentliche Scharmützel.

Dann sei es so. Jeder hat das Recht auf seine eigene Vorstellung vom Himmel. Uns bleibt da nur, uns vor einem ehemals unangepassten Denker zu verneigen – und ihn in den Mainstream zu verabschieden.

Möge er dort sein Glück finden.

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