Tichys Einblick
prekäre Lage

Personalflucht gefährdet das Gesundheitssystem – Und die Politik schaut zu 

Das System der Pflege war schon vor Corona defekt. Doch die Maßnahmen, allen voran die einrichtungsbezogene Impfpflicht, verschlechtern die ohnehin schon prekäre Situation. Immer mehr Fachkräfte scheiden aus ihrem Beruf aus.

Altenpfleger schiebt einen Rollstuhl im Pflegeheim Heidelberg

IMAGO / photothek

Kollateralschäden sind Schäden, die nicht gewollt sind, aber dennoch passieren. Das klingt zunächst harmlos, was aber ein Irrtum ist. Ein kollaterales Opfer in einem Krieg ist eine menschliche Katastrophe. Doch oftmals werden Kollateralschäden in Kauf genommen, frei nach dem Motto: „Wo gehobelt wird, da fallen Späne.“ 

Die Kollateralschäden der Corona-Krise waren mannigfaltig: Zum Beispiel für Kinder, die um ihre Bildung gebracht wurden, die in Lockdowns vereinsamten und unter häuslicher Gewalt litten. Auch Erwachsene, allen voran Pflegekräfte, die ohnehin oft unter menschenunwürdigen Zuständen arbeiten müssen, wurden aufgrund der Corona-Maßnahmen gegängelt. So sehr, dass viele entweder nicht mehr oder bald nicht mehr in ihrem angestammten Beruf arbeiten.

Anne ist 37 und examinierte Krankenschwester. Sie kann auf eine knapp 15-jährige Berufserfahrung blicken. Von Intensivstation über Stroke-Unit, also Teams, die sich auf Schlaganfallpatienten spezialisiert haben, bis hin zur Normalstation: Anne gewann in ihrer Karriere einen tiefen Einblick in die verschiedensten Bereiche des Krankenhauses. „Bei der Pflege ging es in Deutschland schon immer nur ums Geld“, sagt sie. Doch seit drei Jahren sei es besonders schlimm geworden.

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„Die Menschen sterben aufgrund von Pflege- und Ärztemangel“, so Anne. Ärzte sind abgehetzt und müssen teilweise mehrere Notfälle parallel behandeln. Während es auf der Station nicht besser aussieht. „Die Krankenpflegerinnen und Pfleger haben in der Spätschicht bis zu 18 Patienten zu versorgen.“ So passierten Fehler, wie die Gabe falscher Medikamente. „Teilweise wurden aufgrund des Zeitdrucks Verbände tagelang nicht frisch gemacht, was zu Infektionen geführt hat.“
Impfverweigerer droht „Freistellung ohne Lohnfortzahlung“

In der Corona-Zeit war die Lage bei ihr auf der Station zunächst verhältnismäßig entspannt. „Ich habe noch nie so wenig Patienten, die beatmet werden mussten, gesehen,“ so die Pflegekraft. Und das, obwohl auch bei ihr auf Station geeignete Schutzkleidung fehlte. Doch die Situation änderte sich, als die einrichtungsbezogene Impfpflicht beschlossen wurde. Anne absolvierte neben der Arbeit das Studium der Psychoneuroimmunologie (PNI). „Ich weiß, wie die Impfstoffe zusammengesetzt sind, und ich halte sie für nicht gut.“ 

Also weigerte sie sich, sich einen der Vakzine injizieren zu lassen. Ihr Arbeitgeber, ein Personaldienstleister, drohte ihr mit dem, was einer Kollegin bereits passiert ist: „Freistellung ohne Lohnfortzahlung, was jedoch rechtswidrig ist“. Aktuell ist sie krank geschrieben. Auf die Frage, ob sie in die Pflege zurückkehren würde, antwortet Anne verhalten. „Vielleicht zwei oder drei Dienste im Monat, damit ich auf dem laufenden bleibe. Denn die Medien zeigen zum Teil nicht die ganze Wahrheit.“ Nach der flächendeckenden Impfung, so behauptet Anne, habe sie noch nie so viele Herzinfarkte bei 50- bis 60-Jährigen gesehen. 

„Mir kam das System nicht richtig vor“

Von der Politik fühlt sie sich dagegen völlig verlassen: „Für uns wurde geklatscht, das war’s. Ich erhielt weder eine Lohnerhöhung noch den Pflegebonus. Und dann erzählt mir Gesundheitsminister Karl Lauterbach noch, ich hätte keinen Beitrag geleistet.“

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Im Zuge der Recherche sprach ich mit vielen Pflegekräften. Viele wollen nicht mehr auf Station arbeiten, manche sind wegen der Arbeitsbedingungen im Krankenstand. Und andere arbeiten längst nicht mehr in der Pflege. Einer davon ist der 22-jährige Sergio. Zwar ist er examinierter Gesundheits- und Krankenpfleger. Jedoch wechselte er bereits seit 2020 in den IT-Bereich.

„Ich habe den Job verlassen, weil ich das Gefühl hatte, ich würde nicht angemessen bezahlt. Zudem kam mir das System nicht richtig vor. Die Patienten haben nicht das bekommen, was ich ihnen gerne gegeben hätte. Zu dem finanziellen Aspekt kam also auch ein ethischer“, so Sergio. Bei dem Job in der IT-Branche habe er keine Gewissenskonflikte, während die Arbeit interessant und abwechslungsreich sei.

50.000 Pflegekräfte fehlen alleine in den Intensivstationen 

Laut dem Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KOFA) fehlen mindestens 35.000 Fachkräfte in der Pflege. Doch diese Zahlen sind von 2021. Alarmierendere Zahlen lieferte der Gesundheitsforscher Michael Simon. Simon berechnete für die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung den bundesweiten Bedarf an Pflegepersonal auf Intensivstationen. In deutschen Krankenhäusern gab es demnach 2020 knapp 28.000 Intensivbetten, von denen durchschnittlich rund 21.000 belegt waren. So weit die gute Nachricht.

Nach einer seit 2019 geltenden Verordnung des Bundes, der Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung, wären für 21.000 Intensivbetten jedoch 50.800 Vollzeitkräfte erforderlich – deutlich mehr als die vorhandenen 28.000 in Vollzeit. Um die Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung der Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) zu erfüllen, bräuchte es sogar 78.200 Vollzeitkräfte, erklärte Simon.

Der Gesundheitsforscher sieht „dringenden Handlungsbedarf“. Unterbesetzung und Arbeitsüberlastung seien „eine Gefahr für die Gesundheit der Patienten und auch für die Gesundheit des Pflegepersonals“.

Ein ganzes System wird zerstört 

Auch wenn die Geschichte von Sergio eine positive ist, so hat das System in ihm einen motivierten und qualifizierten Krankenpfleger verloren. Und auch Anne wird auf kurz oder lang die Pflege verlassen. Ihr Traum ist eine eigene Praxis, was ihr jedoch durch die einrichtungsbezogene Impfpflicht untersagt wird. 

Kollateralschäden sind Schäden, die nicht gewollt sind, aber dennoch passieren. Sie evozieren nicht nur gefrustete, teilweise kranke Mitarbeiter, die zu Ex-Mitarbeitern werden. Sie zerstören auch ein ganzes System, das vor zwei Jahren schon defekt war. Doch die Maßnahmen gegen Corona gaben dem Gesundheitssystem den Rest. 


Julian Marius Plutz

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