Es gibt ein Foto, da hält mein Vater meine kleine Schwester und mich, jeweils auf einem seiner gebeugten Arme sitzend, in die Höhe. Er steht wie Herkules in der Mitte, und wir kleinen Menschlein schweben jeder an einer seiner Seiten.
Wir haben uns als Familie damals, vor vielen Jahrzehnten, einen Spaß daraus gemacht, dieses Foto nachzustellen – wir Kinder waren es, die immer wieder darum baten. Es war schön. Er war stark.
Und dann, ich erinnere mich verschwommen, aber nachdrücklich, und dann kam der Tag, als schließlich passierte, was ganz natürlich eben passieren musste: Es kam der Tag, da konnte mein Vater uns Kinder nicht mehr heben. Wir waren zu groß geworden, doch mir kam es nur so vor, dass mein Vater schwach geworden war. Vermutlich war beides der Fall.
Es ist ein Schock in der Entwicklung eines Kindes, dieser Moment, wenn dem Kind dämmert, dass seine Eltern nicht allmächtig sind, dass die Kraft der Eltern endlich und ihre Möglichkeiten begrenzt sind.
Womöglich ist jene säuerlich süße Erinnerung der Grund, warum ich meinen Kindern sehr wohl mitteile, in nur kleiner und abgewogener Dosis natürlich, wenn und wo ich an Grenzen stoße. (Vielleicht ist es auch nur meine Déformation professionnelle – ich teile ja meine Freude und meine Sorgen täglich mit Tausenden von Lesern, und so kommt es, dass Sie, meine Leser, mein Innenleben deutlich detaillierter und tiefer kennen, als meine Kinder. Aber gut, auch die werden mal erwachsen werden, oder zumindest größer, und dann werden sie lesen, was ich heute schreibe, und möge der Himmel uns bescheren, dass alle meine Sorgen sich bis dahin als unbegründet erwiesen haben.)
Straße für Straße
Es gehört zum Erwachsenwerden des politisch interessierten Bürgers, dass er einsieht, dass die da oben nicht unfehlbar sind – und nicht unfehlbar ist heute fast schon ein Euphemismus, ähnlich wie »er war stets bemüht« für den endlich entlassenen Bürotrottel (oder »Kinderehe« für Missbrauch minderjähriger Mädchen durch alte Männer).
Sie mögen mich naiv nennen – ich würde Ihnen darin schnell zustimmen! – doch ich hatte einst gehofft, die da oben hätten eine höhere Weisheit, sie hätten eine Einsicht in die Dinge, und sie würden sich schon kümmern. – Oh weh.
Können Sie sich an den Moment erinnern, als Sie zum ersten Mal begriffen, dass etwas falsch läuft, und dass die da oben keinen Schimmer haben, was sie tun? (Oder dass wahlweise denen die Konsequenzen ihres Handelns egal sind, was auf dasselbe hinausläuft.)
Ja, einst glaubte ich, dass die da oben tiefere Einsicht haben, heute habe ich bei manchem Zweifel, ob er überhaupt in der Lage ist, sich auch nur selbst die Schuhe anzuziehen.
Geld für alle
In Berlin und Brüssel wird dieser Tage die Idee einer EU-Arbeitslosenversicherung diskutiert. Der Politiker hinter dem G20-Desaster von Hamburg, der damalige Hamburger Bürgermeister und heute der unsichtbarste Finanzminister aller Zeiten, Olaf Scholz, hatte schon 2018 seine Pläne für eine EU-weite Arbeitslosenversicherung vorgelegt (siehe z.B. welt.de, 20.6.2018) – auch Frankreichs Jupiter, Herr Macron, war dafür – ich bin aber nicht sicher, ob die »Gelbwesten« ebenfalls dafür sind, arbeiten zu gehen, um griechische, rumänische oder tschechische Arbeitslose zu finanzieren.
Sie können es in jede andere Richtung aufziehen: Bulgaren erhalten derzeit ein durchschnittliches monatliches Einkommen von 436€ (laut statista.com – Dänemark mehr als das Zehnfache davon!), eine vierköpfige Familie in Deutschland erhält, je nach Alter der Kinder, etwa 1.500€ und mehr an Transferbezügen (laut hartz4.de), und das Jobcenter übernimmt zusätzlich die Wohnung. Sollen Bulgaren auch nur theoretisch Abgaben zahlen, um deutsche Sozialleistungen zu finanzieren, die ein Vielfaches ihres Durchschnittslohns betragen? Es wird in keine Richtung ohne Verwerfungen funktionieren.
Die Idee einer EU-Arbeitslosenversicherung ist so widersinnig, dass man kaum darüber diskutieren mag, doch man muss es. Dumme Ideen, mit viel Macht ausgestattet, führten in der Geschichte selten zu klugen Ergebnissen – um es zart zu formulieren.
Es ist ein ethisches Problem. Und: Dass unsere Eliten offenkundig chronisch unfähig sind, die vielen ethischen Implikationen ihres Redens und Handelns zu verstehen, ist das europäische Problem dieses frühen 21. Jahrhunderts.
In der EU sind verschiedene Kulturen versammelt – auch verschiedene Arbeitskulturen.
Es gibt Kulturen und Lebenskonzepte, da sind die Arbeitnehmer sehr auf ihre »Work-Life-Balance« bedacht, was in ehrlicher Sprache bedeutet: sie arbeiten tendenziell so wenig wie möglich, und den Rest der Zeit verbringen sie mit ihrer Familie und ihren Freunden, redend, lachend, lebend. Diese Leute machen wenig(er) Karriere und das Geld kann knapp werden, wenn sie die Arbeitsstelle verlieren und es wird schwer, eine neue zu finden, aber dafür haben sie gelebt, dafür haben sie das getan, wovon mancher am Ende des Lebens sagt, es leider zu wenig und zu selten getan zu haben: sie waren so viel wie irgend möglich mit ihren Mitmenschen und für ihre Mitmenschen da.
Und es gibt andere Kulturen und Lebenskonzepte, da arbeiten die Menschen durchaus gern, und sie arbeiten viel, und am Wochenende bauen sie an ihrem Häusle – oder nehmen gleich einen zweiten Job an. Sie sparen und sie planen für die Zukunft. Manche von ihnen gucken am Abend nicht Fernsehen, sondern gehen in die Volkshochschule oder lesen ein Buch, das sie klüger macht. Viele bilden sich fort, sie machen – wenn sie wollen – Karriere, und sie sind auf dem Arbeitsmarkt gut zu vermitteln, selbst wenn es mal Umschichtung gibt. Sicher, diese Leute haben etwas weniger Zeit mit ihren Mitmenschen verbracht, doch da sie mit ihren Fähigkeiten ja etwas geschaffen haben, kann auch ihr Leben ein sehr erfülltes sein.
Jede Kultur und jede Lebensart hat ihre Berechtigung (und ihre eigene Geschichte), hat ihre Vor- wie Nachteile – doch jede muss auch mit den Konsequenzen ihres Tuns leben, sonst wird es arg ungerecht und demotiviert alle. Eine Arbeitslosenversicherung ist immer ein Akt der Solidarität, doch eine solche aus der Ferne befohlene kulturübergreifende Solidarität, die ein schneidendes Gefühl der Ungerechtigkeit auslösen muss, so eine Zwangs-Solidarität (als gäbe es derer nicht genug) wird eben das zerreißen, was sie vorgeblich verknüpfen und verschmelzen lassen will.
Pizza und Matjes
Europa hat durch Krisen und Kriege endlich zu einem Zustand von Frieden gefunden, zu einem weitgehend stabilen Verhältnis von Nähe und Abstand zwischen den Nationen. Wir Menschen sind in verschiedene Strukturen eingebunden – Körper, Familie, Firma, Nachbarschaft, Staat – und wir entscheiden uns, welche davon wir als besonders relevant empfinden (für Details siehe natürlich: Relevante Strukturen). Jetzt kommen EU-Eliten und wollen uns sagen, dass uns plötzlich das eine, verschmolzene Große relevant zu sein hat – und dass die lebensschaffende Trennung plötzlich böse und altmodisch sei.
Ich mag meine Freunde, doch ich möchte mir nicht die Unterhosen mit ihnen teilen. Ich mag Pizza, und ich mag auch Matjes, doch ich werde mir keine Pizza mit Matjes bestellen. Kaum ein Wochenende vergeht, an dem nicht irgendwer bei uns zu Gast ist, doch selbst die Gäste, die übernachten, sollten irgendwann wieder gehen. Meine Familie ist meine Familie und deren Familie ist deren Familie – Nähe braucht Trennung. Adam fand erst dann Liebe, als Gott ihn trennte, ihm eine Rippe entnahm, und ihm daraus ein Gegenüber schuf.
Ideen wie die EU-Arbeitslosenversicherung wollen verschmelzen, was in freundschaftlichem Nebeneinander durchaus funktioniert, doch sich gegens Zusammenpressen wehrt wie die Teilchen eines Atoms, wo die Elektronen auch nicht so einfach in den Kern gedrückt werden wollen.
In aller Freundschaft
Herr Juncker von der EU findet die EU-Arbeitslosenversicherung ebenfalls ganz gut (siehe welt.de, 6.1.2019), so weit wenig Überraschendes – begreift er aber die Implikationen?
Es wurde berichtet, wie Juncker ungewöhnliche Probleme auch mit persönlichen Grenzen zu haben scheint. Gelegentlich kommt Juncker übergriffig daher und wuschelt Frauen wie Männern in den Haaren herum (siehe z.B. politico.eu, 22.12.2018). Es ist nur konsequent, dass ein, äh, exzentrischer Politiker wie Juncker auch in seiner Vision von Europa entgrenzt ist.
Freundschaft ist nicht Verschmelzung, so wie man zwar sagt, dass man jemanden zum Fressen gern hat, dies aber auch praktisch umzusetzen – wie etwa vor ein paar Jahren in Rotenburg – das ist dann doch verpönt. Wir müssen uns eingestehen, dass unseren Eliten einige grundlegende Erkenntnisse fehlen.
Kaffee macht wach
Wenn Kinder zur Erkenntnis gelangen, dass ihre Eltern eben nicht allmächtig sind, dass sie auch nur Menschen sind, dann bricht für diese Kinder eine Welt zusammen, doch es ist eine falsche Welt, und die neue erkannte Welt mag weniger verträumt sein, aber eben auch realer.
Es gibt einige Grundregeln, die man lernt, wenn man erwachsen wird: Zucker macht dick. Kaffee macht wach. Die Fähigkeit, politische Ämter zu erlangen, ist nicht unbedingt verknüpft mit der Weisheit, welche für diese Ämter notwendig wäre. Politische Führung, damit sie nicht in Leid und Unglück des Volkes endet, braucht etwas Weitblick, braucht eine klare Sicht in die Zukunft, in die menschliche Seele und in das Wesen der Kultur zugleich – unsere Herrscher zeigen wenig davon, und sie halten sich an der Macht, auch weil unsere Medien nur einen Bruchteil der Folgen politischen Handelns laut genug berichten. Warum wählen wir diese Leute denn – so wir sie denn überhaupt wählen durften? Wir sind wie Lahme, angeführt von Blinden.
Merkel, Juncker und wie sie alle heißen haben es offensichtlich geschafft, in Machtpositionen zu gelangen. Aus dieser Leistung jedoch folgt keineswegs, dass sie die Weisheit, die Umsicht, die ethische Kraft oder auch nur die intellektuellen Fähigkeiten besitzen, welche zum Ausfüllen dieser Ämter notwendig wären – und manche Zeichen weisen auf das Gegenteil hin.
Danke für das Zeichen
Ideen für die EU-Arbeitslosenversicherung sind das stärkste und dringendste Argument dafür, die europäische Verschmelzung nicht weiter voranzutreiben.
Die wünschenswerte Alternative zur Feindschaft ist nicht die monsterhafte Verschmelzung, sondern die respektvolle Freundschaft – das gilt für Menschen wie für Nationen.
Weder Mutti Merkel noch Papa Juncker sind die Giganten, für die sie sich halten. Brüsseleuropa und seine Verästelungen ähneln an wolkigen Tagen mehr Kafkas Schloss als dem mythischen Rat der Weisen, als welcher sie sich gelegentlich selbst sehen.
Es ist für uns als Bürger und für die Staaten Europas heute wichtiger denn je, erwachsen zu werden. Sowohl persönlich (siehe auch: Werdet erwachsen!), als auch politisch.
Die da oben besitzen die Fähigkeit, nach oben zu gelangen – manche auch durch Geburt oder sonstige Beziehungen von Verwandten, manche vermutlich, weil sie am Abend nichts Besseres zu tun hatten, als in Parteisitzungen die Stühle zu wärmen, bis sie irgendwie plötzlich wichtig waren und Koffer voller Spenden erhielten.
Gerade weil Europa und EU so wichtig sind, sollten wir die Brüsseler Institute daran hindern, sich für zu wichtig zu nehmen.
Beim Globalisten Macron daheim brennt die Hauptstadt, bei der Welteinladerin Merkel wurden die Weihnachtsmärkte zu Hochsicherheitszonen.
Im noch jungen Jahr 2019 steht eine Reihe von Wahlen ins Haus, beginnend mit der EU-Wahl im Mai. Lassen Sie uns Politiker wählen, denen wir zutrauen, ihre eigenen, persönlichen Grenzen zu kennen – und die Grenzen der Länder und Nationen zu respektieren.
Das kleine Kind trennt noch nicht zwischen sich und der Welt. Erwachsenwerden bedeutet auch, seine eigenen Grenzen zu erkennen, zu wissen, wo meins und deins beginnt. Ich will weder Matschepampe noch Schlammschlacht, weder Krieg noch Verschmelzung.
Das Kind in mir will in den Haaren anderer Leute wuscheln, wie Herr Juncker es gerne tut, der Erwachsene in mir jedoch weiß, dass erst das richtige Verhältnis von Nähe und Entfernung eine stabile Freundschaft möglich macht.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com.
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.