Tichys Einblick
PARTEIENSTAAT

Das große Beben

Die Traditionsparteien bringen die Kraft zum Kurswechsel nicht auf, neue Herausforderer links und rechts drängen nach oben. Die Wahlen 2024 werden das Bild des Landes verändern. Die Bundesrepublik erlebt ihren tiefen politischen Umbruch, weil die Etablierten die Armutsmigration nicht stoppen

IMAGO - Collage: TE

Statt Freiheit und Meinungsviel­ falt zu achten, macht sich ein au­ toritärer Politikstil breit, der den Bürgern vorschreiben will, wie sie zu leben, zu heizen, zu denken und zu sprechen haben. Die Regierung wirkt planlos, kurzsichtig und in vielen Fra­gen schlicht inkompetent. Ohne einen politischen Neuanfang stehen unsere Industrie und unser Mittelstand auf dem Spiel.“ Von welcher politischen Kraft stammt dieses Zitat? Von der Uni­ on? Der AfD? Den Freien Wählern?

Weder noch – es handelt sich um Sätze aus dem Gründungsaufruf des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Das prominente Nochmitglied der Linksfraktion im Bundestag sammelt Anhänger und Unterstützer, um in den Wahlen des nächsten Jahres um Stim­men aus allen Richtungen zu werben. Mit der Zustandsbeschreibung der Lage in Deutschland trifft Wagenkecht offen­bar einen Nerv. Obwohl ihr Bündnis noch nicht einmal offiziell als Partei existiert, nur wenige programmatische Punkte bietet und außer der Namens­geberin über keine prominenten Ge­sichter verfügt, erreicht das Phantom BSW in einer Insa­-Umfrage vom 23. Ok­tober aus dem Stand zwölf Prozent.

Das bedeutet dreierlei. Wenn erstens ein Teil der Deutschen, der etwa der verbliebenen Grünen­-Wählerschaft ent­spricht, im Augenblick einer Trup­pe, die eigentlich noch nicht existiert, einen Blankoscheck auszustellen be­reit ist, dann beweist das, wie weit die große Vertrauensschmelze mittlerwei­le geht. Zu dritt verfügen die Ampel­parteien nur noch über einen Rückhalt bei knapp um die 30 Prozent der Wähler. Neue Kräfte erhalten also einen Ver­trauensvorschuss nur für ihre Problem­diagnose – und die Aussicht, dass herr­schende Parteiengefüge aufzumischen.

Zweitens steht Wagenknechts Mani­fest beispielhaft für eine grundsätz­liche Entwicklung, die Deutschlands politische Landschaft gerade umpflügt: Die harten Grenzen zwischen Links und Rechts verschwimmen. Auch AfD­ Chefin Alice Weidel meint: „Links und rechts, das ist eigentlich überhaupt nicht mehr so relevant“.

Kein Kurswechsel der Etablierten

Und dann erleben sowohl professionel­le Beobachter als auch Bürger ein drit­tes Novum: Bisher suchten Koalitionen und Parteien, wenn sie einen Absturz in der Bürgergunst erlebten, ab einer bestimmten Schmerzgrenze immer die Rettung in einem Kurswechsel, min­destens aber im Austausch von Perso­nal. Zum Jahresende 2023 bewegt sich die Kanzlerpartei SPD auf die Zehnprozentmarke zu, genauso wie die Grünen von Vizekanzler Robert Ha­beck. Die meisten Umfragen sehen die Freidemokraten nicht mehr im Parla­ment – wobei alle FDPler wissen, dass ihre Partei ihren zweiten Hinauswurf aus dem Bundestag wohl nicht über­leben würde.

Zwar wabern hin und wieder Gerüch­te über einen Koalitionswechsel durch Berlin, also eine Entlassung der grünen Minister und den Eintritt der Union in eine Art Notkabinett bis zu vorgezogenen Bundes­tagswahlen. Aber bis jetzt bleibt es bei Planspielen. Zu einem Kurswechsel in der Migrations­- und Wirtschaftspolitik zeigen die Ampelkoalitionäre nicht die geringste Bereitschaft.

Vortäuschen von Aktivität

Die „Abschiebung im großen Stil“, von Olaf Scholz auf dem „Spiegel“­-Titel angekündigt, entpuppt sich als Aktivitäts­vortäuschung, mit der die Regierung nach eigenen Angaben 600 Rückfüh­rungen mehr als bisher zuwege zu bringen hofft – pro Jahr.

Zurzeit kommen an manchen Tagen mehr als 1000 ille­gale Migranten und mehr in Deutschland an. In Zukunft soll sich ein zur Abschiebung ausgeschriebener Migrant im Asylheim nicht mehr entziehen können, indem er einfach ins Nachbarzimmer geht. Bis­her reichte das nämlich – die Polizei durfte dann nämlich nicht hinein, sondern musste abrücken.

Während mitten in der Migrations­krise, die das Land zu zerreißen droht, staatliche Minimalmaßnahmen höchs­tens ein bisschen Problembewusstsein simulieren, kündigt Robert Habeck ein Maximalprogramm für Subventionen und staatliche Wirtschaftssteuerung an. Bis Ende 2024 möchte er außerdem die Reserve­Kohlekraftwerke endgül­tig vom Netz nehmen – wobei die Bundesnetzagentur gerade ihr Veto eingelegt hat – die Deutschland vorher noch schnell über den kommen­ den Winter bringen sollen. Kurzum: SPD und Grüne stampfen weiter auf ihrem Pfad der Illusionen Richtung To­talzerfall, und die FDP zottelt mit.

Wer in diesen Tagen in Berlin mit Poli­tikern und Parteimitarbeitern spricht, erlebt unruhige, teils auch ratlose Leute. Vor ihren Augen löst sich gerade das alte Parteiengefüge der Bundesrepublik auf. Darin besteht zurzeit ihre einzige Sicher­heit. Was kommt, weiß niemand. Aber plötzlich scheinen viele Entwicklungen möglich, die bisher als undenkbar oder wenigstens extrem unwahrscheinlich galten. Eine Regierungspartei AfD? Bei den Landtagswahlen im Osten 2024 durchaus möglich – denn dort könnte es sogar absolute Mehrheiten für die Partei von Alice Weidel geben.

Koalitionsbruch in Berlin, Bundes­tagswahlen schon im nächsten Jahr? Darüber raunen zurzeit zumindest viele im Regierungsviertel, siehe oben. Ein Bundestag ohne CSU? Könnte durch das neue Wahlgesetz so kommen. Auch der Stimmen- und Popularitätstransfer zwischen Regierungsbündnis und größter Oppositionskraft, eine weitere Konstante der alten Bundesrepublik, funktioniert kaum mehr: Obwohl die Ampelkoalition auf immer neue Tiefststände sackt, erreicht die Union nur knapp über 30 Prozent. Den großen Rest wollen die neuen politischen Kräfte neu verteilen.

Neue Kräfte wittern ihre Chance

Schon 2021 traten die Freien Wähler bei der Bundestagswahl mit Hubert Aiwanger an. Nur hat das damals kaum jemand gemerkt. Eine Kampagne fand praktisch nicht statt. Das soll sich diesmal ändern. Inzwischen legt die Truppe auch außerhalb Bayerns zu: Bei der Landtagswahl in Hessen steigerte sie sich auf 3,5 Prozent, nach einer Umfrage für Sachsen hat sie mit 4,8 Prozent handfeste Chancen auf den Parlamentseinzug. In Umfragen zur Bundestagswahl bewegt sich die Partei zwischen 3,4 und vier Prozent. Nach dem Versuch der „Süddeutschen“ und anderer Medien, ihn aus dem Weg zu räumen, genießt ihr Vorsitzender Hubert Aiwanger nun bundesweite Bekanntheit. Im kleinen Kreis gibt er zu erkennen, dass er sich das Amt des Bundeswirtschaftsministers durchaus zutraut. Seinen Slogan bringt er auf die einfache Formel: „Eine Regierung ohne die Grünen.“

Daneben formiert sich eine neue Kraft rechts der Mitte, wenn auch einstweilen im Kleinformat. Im Oktober trafen sich in Erfurt Vertreter der Kleinparteien „Bürger für Thüringen“, „Die Basis“ und eine Abspaltung der Freien Wähler mit dem Vorsitzenden der Werteunion Hans-Georg Maaßen und der früheren CDU-Bundestagsabgeordneten Vera Lengsfeld, um die Sammlungsbewegung „Bündnis für Thüringen“ zu gründen, die unter dem Motto „Brücken statt Brandmauern“ die Verhältnisse in dem derzeit noch links regierten Freistaat ändern will. Der Investor, Autor und frühere Degussa-Manager Markus Krall arbeitet ebenfalls an einer Parteigründung. „Da wird etwas kommen“, sagt er.

Da nach deutschem Wahlrecht eine Sammlung mehrerer Parteien nicht zur Wahl antreten kann, anders als in Frankreich, wo Emmanuel Macron eine solche Allianz formte, will die Partei „Bürger für Thüringen“ ihre Listen für Mitglieder des Bündnisses öffnen. Dieses Kombinationsmodell aus Sammlungsbewegung und Partei, so die Planung, kommt auch für die Wahlen Sachsen und Sachsen-Anhalt infrage. Dort wie in Thüringen will die neue Allianz den Raum zwischen AfD und CDU besetzen.

Ziel der neuen Kraft, so Maaßen ge- genüber Tichys Einblick, sei es, „bürgerliche Mehrheiten in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt zu erreichen“, was für ihn bedeutet: „Grüne und SPD müs- sen als Regierungsparteien verhindert werden.“ Ob er selbst antreten will, ob er in der CDU bleibt, lässt der frühere Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz offen. Das Parteiausschlussverfahren gegen ihn scheiterte in der ersten Instanz.

Zu den Umwälzungen, die bisher undenkbar schienen, gehört auch eine völlig neue Mehrheitsarithmetik, vorerst im Osten. Sollten in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt gleich mehrere Parteien an der Fünfprozenthürde scheitern, dann würden schon knapp über 40 Prozent der Stimmen für eine absolute Sitzmehrheit reichen. Möglicherweise sogar noch weniger. In Thüringen jedenfalls stehen die Grünen derzeit bei sechs, die FDP bei vier Prozent. Selbst die SPD, derzeit zehn Prozent, könnte noch tiefer fallen.

In Sachsen sieht es sehr ähnlich aus. Wo im Kaiserreich ihre Hochburg lag, zittert die SPD mit sieben bis acht Prozent nur noch knapp über der Todesgrenze. Die Grünen mit sieben Prozent liegen noch näher an dieser Marke, die FDP mit 3,7 Prozent bereits deutlich darunter. Auch die Linkspartei erreicht dort gerade noch 9,3 Prozent.

AfD in Personalnöten

In allen drei Ländern wäre nach diesen Zahlen ein Landtag möglich, in dem nur noch zwei Parteien sitzen: CDU und AfD. Diese Kräfteverteilung, in der nur zwei Parteien über 30 Prozent liegen und dann ausschließlich Konkurrenten folgen, die alle weniger als ein Zehntel der Stimmen einsammeln können, gab es noch nie. Selbst der AfD-Spitze kommt diese Entwicklung etwas unheimlich vor. Jetzt, heißt es in der Führung, bräuchte die Partei dringend eine Personalplanung, um sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten.

Zum politischen Umbruch gehört auch das Paradox, dass die AfD zwar nach wie vor als Paria gilt – was sich gerade wieder in dem parteiübergreifenden Versuch zeigt, die ihr nahestehende Erasmus-Stiftung per Sondergesetz von staatlicher Finanzierung auszuschließen. Andererseits gehört sie mittlerweile seit zehn Jahren zum Parteienspektrum und damit auch schon zu den älteren politischen Kräften, die sich gegen neue Aufsteiger wehren müssen. Käme eine Wagenknecht-Partei in die ostdeutschen Landtage, wäre sie dort für die CDU als Teil einer Allianz gegen die AfD im Gegensatz zur Linkspartei noch verschmerzbar. Auch das gehört zu dem Parteienbeben: das Paradox, nach dem eine neue Kraft die alten Parteien möglicherweise am Ende eher stützt statt stürzt.

Und die CDU von Friedrich Merz? Für ihn steht alles auf dem Spiel. Eine zweite Chance auf die Kanzlerschaft bleibt ihm nicht. Wie geht seine Partei in die Ost-Wahlen? Nicht nur offiziell, sondern auch im Hintergrundgespräch versichern Kenner der inneren Debatten, mit Merz werde es unter keinen Umständen eine Tolerierung durch die AfD geben, schon gar keine Koalition, weder in Thüringen noch in Sachsen. Käme es zu einer Zusammenarbeit, egal in welcher Form, dann könne sich die CDU einsargen lassen. Die einzige Parole – oder vielmehr Hoffnung – lautet: Die CDU muss bei den Landtagswahlen im Osten so stark werden, dass nicht gegen sie regiert werden kann.

Tatsächlich scheint es im Adenauer-Haus keinen Plan B für den Fall zu geben, dass es anders kommt. Dafür spricht auch der Umgang führender CDU-Leute mit dem Mainzer Historiker und bisherigen Leiter der Programmkommission, Andreas Rödder. Der hatte in einem Interview die Ansicht vertreten, die CDU müsste notfalls in einer Minderheitsregierung mit wechselnden Mehrheiten regieren, sich also von Fall zu Fall Stimmen organisieren – auch von der AfD.

CDU ohne Plan B

Vertreter des linken Parteiflügels fielen öffentlich sofort über den Wissenschaftler her. Auch in einer Gremiensitzung, heißt es aus Teilnehmerkreisen, hätten „die alten Merkel-Leute“ wie Hermann Gröhe und Norbert Lammert den anwesenden Rödder „regelrecht fertiggemacht“. Merz habe die Diskussion laufen lassen, ohne sie zu bremsen. Rödder warf seinen Posten hin.

In Deutschland hielt das angestammte Parteiengefüge deutlich länger als in anderen Ländern. Obwohl es zum allergrößten Teil aus der alten Bundesrepublik herrührte, blieb es über Jahre bestehen, konserviert durch seine eigene Beharrungskraft und die Abneigung der meisten Deutschen gegen Experimente. Wenn jetzt die ersten tragenden Wände einstürzen, dann kommt das nicht überraschend. Erstaunlich wirkt eher, dass der Verfall so spät eintritt.

In Italien blieb nach mehreren Veränderungswellen von der traditionellen Parteienlandschaft praktisch nichts mehr übrig. Die Democrazia Cristiana zerbröselte erst langsam durch die „apertura a sinistra“, die „Öffnung nach links“ unter Aldo Moro. Die alte sozialistische Partei PSI pulverisierte ihr korrupter Vorsitzender Bettino Craxi, der im tunesischen Exil starb; die ehemals ruhmreichen italienischen Kommunisten gingen glanzlos unter. Bis vor wenigen Jahren hielt niemand eine Georgia Meloni mit ihren Fratelli an der Regierungsspitze für möglich.

In Frankreich nahm Emmanuel Macron den Umbau des Parteiensystems in die Hand, indem er die ganz auf sich zugeschnittene Sammlungsbewegung En Marche gründete. Ob sie weiterexistiert, wenn seine zweite Amtszeit endet, ist ungewiss. Ähnlich wie in den deutschen Ost-Ländern bestimmen nur noch zwei große Kräfte das Feld: En Marche und Marine le Pens Rassemblement National. Daneben hält sich mit deutlichem Abstand die linksradikal-islamistische La France insoumise. Hinter diesem Trio folgen nur noch marginale Kräfte. Die Kandidatin der Sozialisten, jener Partei, die Frankreich über Jahrzehnte prägte, holte bei der Präsidentschaftswahl 2022 erniedrigende 1,75 Prozent der Stimmen, die Bewerberin der Gaullisten, ebenfalls Konkursverwalterin einer großen Tradition, schnitt mit 4,8 Prozent kaum besser ab.

Migrationskrise befeuert Umbruch

In Spanien setzte die neu gegründete Partei Vox das alte Schema erst von rechts unter Druck. Auf der anderen Seite bildete sich 2023 das linke bis linksextreme Sammelbündnis Sumar. Um die Macht zu behalten, sucht Ministerpräsident Pedro Sanchez außerdem eine Allianz mit den baskischen und katalanischen Separatisten – ein Manöver, das seine Sozialistische Partei in den Abgrund führen könnte.

Deutschlands Nachbar Niederlande erlebt gerade ein Parteienbeben der Stärke 10. Dort versuchte die CDA, die niederländische Entsprechung der CDU, den populären Abgeordneten Pieter Omtzigt beiseitezuschieben. Der trat aus – und gründete 2023 die neue Partei Nieuw Sociaal Contract (Neuer Gesellschaftsvertrag), eine Mitte- Rechts-Kraft, die bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am 22. November mit einer zumindest halbneuen Kraft um Platz eins kämpft, dem Zusammenschluss aus Sozialdemokraten und Grünen. Zusammen mit der Protestpartei BBB und der rechten Partei von Geert Wilders könnte Omtzigt eine neue Allianz schmieden. Seine alte Heimat CDA droht ähnlich der Democrazia Cristiana bedeutungslos zu werden.

Die Energie, die sich in dem Parteien- beben entlädt, stammt zum allergrößten Teil aus der Migrationskrise. Welchen Sprengstoff die vorangegangenen Regierungen hier anhäuften, sehen inzwischen auch viele wohlmeinende Wähler aus der Mitte angesichts der Pro-Hamas-Aufmärsche in Deutsch- land und Frankreich, der islamistischen Morde in Brüssel und an einer französischen Schule. Sie lassen sich von Warnrufen wie „rechts“ und „rassistisch“ nicht länger davon abschrecken, Parteien zu wählen, die den Dauerzustrom von schlecht bis überhaupt nicht qualifizierten jungen Männern aus Afrika und arabischen Ländern zu stoppen versuchen.

Eine neue politische Ordnung in der Mitte Europas lässt sich erst in Umrissen erkennen. Stabilität erhält sie dann, wenn die Wellen der Armutseinwanderung enden.

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