Im Schuldenbremse-Urteil seiner Nachfolger in Karlsruhe sieht Hans-Jürgen Papier, selbst bis 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichts, „eine abermalige Bestätigung für den Willen des Bundesverfassungsgerichts, das parlamentarische Regierungssystem zu stärken“. Das wäre nicht nur in haushaltspolitischer Hinsicht wünschenswert. Auch die Zuwanderungspolitik würde eine Portion Parlamentarismus vertragen. Die Sache scheint aber einfach nicht dazu gemacht. Zu praktisch ist das Vorbeiregieren am Parlament mittels offener Grenzen und Messias-Komplex seit nunmehr acht Jahren.
Heute kämpft Deutschland mit den Folgen. Übervolle Erstaufnahmen, überlastetes Personal dort und überforderte Lehrer in den Schulen, akute Wohnungsnot und nun auch noch das Eingeständnis vom Bundesamt für Verfassungsschutz: Es gibt eine wachsende Terrorgefahr durch Migranten, die aus dem Nahen Osten zuwandern.
Trotzdem kommt kein Schwung in die Debatte über die illegale Migration und das Asylrecht. Der echte Grenzschutz wird verweigert, an den Außen- wie den Binnengrenzen. Nun versteckt man sich hinter frisch eingeführten Grenzkontrollen, die angeblich sehr effizient sein sollen (von 700 auf 300 Feststellungen pro Tag). Nur kommen dabei immer noch ziemlich viele Asylanträge pro Monat heraus. Im Oktober waren es mehr als 33.000.
Das Asylrecht als Türöffner für rechtswidrige, illegale Migration
Die Novemberzahlen sollen angeblich einen Rückgang zeigen, aber die Null, die das Asylsystem und die Gesellschaft eigentlich bräuchten, wird auch hier weit weg bleiben. Auch im November wird es wieder viele tausend Asylanträge gegeben haben. Hinzu kommen die Einreisen durch Familiennachzug. Insgesamt dürfte so eine halbe Million neue Einwohner für Deutschland in diesem Jahr zusammenkommen.
Doch politisch folgen keine Konsequenzen aus diesen Zahlen und Belastungen. Die Tür steht weiterhin sperrangelweit offen für jeden, der mag und den berühmten Schutzantrag auf Asyl stellen kann – obwohl der Ex-Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, im Interview mit Welt am Sonntag genau an diesem Punkt Widerspruch angemeldet hat. Und so ein Widerspruch von einem ehemaligen obersten Verfassungshüter hat dann vielleicht doch Gewicht.
Papiers Argumente in Kürze: Das Asylrecht wird „vielfach“ zweckentfremdet und als Türöffner für „rechtswidrige, illegale Migration“ genutzt. Das ist nichts wirklich Neues, aber nehmen wir es als Ausgangspunkt. Denn das ist es auch für Papier. Der Asylantragsteller, der weiß, dass er keinen Asylgrund hat, begeht einen Rechtsmissbrauch. Ohne gültigen Asylgrund darf niemand um Asyl bitten – oder er hat die Folgen zu tragen.
Eigentlich wären viel mehr Zurückweisungen möglich
Insofern wirbt Papier für einige Verschärfungen, die das eigentlich gar nicht sind. Er weist lediglich auf den Rechtsbestand der EU hin, der nun seit Jahren falsch gedeutet und umgesetzt werde; aber vielleicht verstehen ja die EU-Bürokraten ihre eigenen Rechtstexte nicht wirklich. So obliege die Prüfung, wer für das Asylverfahren eines illegal Einreisenden zuständig ist, laut der geltenden Dublin-III-Verordnung nicht automatisch Deutschland, sondern zunächst dem Nachbarstaat, über den der Migrant jeweils kommt. Und natürlich könnte dieser Staat das Problem wiederum an den vorausgehenden Transitstaat weitergeben. Es muss also auch aus EU-rechtlicher Sicht nicht jedem Antragsteller die Einreise gestattet werden, der „Asyl“ sagen kann. Als Folge sind Zurückweisungen an deutschen Grenzen in viel weitergehendem Maße möglich, als bisher üblich.
Das klingt auch insofern gut, als dann in den anderen Fällen keine Abschiebung nötig wäre. Vorprüfung und Zurückweisung würden genügen. Die Frage ist vielleicht, welches Zeitfenster hier offen stünde. Könnte man einen Migranten einen Monat lang in ein extraterritoriales Zentrum aufnehmen, um ihn nach negativer Vorprüfung wieder in die Türkei zu schicken oder der libyschen Küstenwache auszuhändigen?
An den deutschen Grenzen ist die Bundesregierung sicher weit davon entfernt, ein ähnliches System der konsequenten Zurückweisungen umzusetzen. Nancy Faeser (SPD) will das sogar ganz manifest nicht. Ähnlich ist das allerdings auch in der EU als Ganzem, wobei noch nicht klar ist, wo die Probleme bei der Mehrheitsfindung hier liegen. Denn die Mehrheiten in den Mitgliedsstaaten kippen ganz offenkundig, und zwar in eine bestimmte Richtung.
Warum steht Papiers Vorschlag nicht auf dem EU-Programm?
Das Problem mit den EU-Beschlüssen vom Sommer zum „gemeinsamen europäischen Asylsystem“ ist, dass gar nicht geprüft werden soll, ob ein realer Asylgrund besteht, wie es Papier nun vorschlägt. Vielmehr soll die allgemeine Anerkennungsrate in der EU als Durchschnitt aller Länder das Aufnahmekriterium abgeben. Also eine Zahl, die von den Behörden der verschiedenen Staaten, teils aufgrund von Überlastung, mangelnder Prüfung und falschen oder schlechten Vorgaben, selbst fabriziert wird. Mit dieser Methode prüft man also nicht die Schutzwürdigkeit von Antragstellern, sondern gibt dem eigenen Verwaltungshandeln einen zusätzlichen „Sinn“. Die geplante Vorprüfung an den EU-Außengrenzen ist ein Selbstbetrug, eine Beschäftigungsmaßnahme für Grenzbürokraten, aber keine Lösung der illegalen Migrationskrise 2.0, die wir erleben.
Bleiben vorerst die Maßnahmen an nationalen Grenzen, in die auch Papier nicht so viel Zutrauen setzt, dass er sich die Gesamtlösung von ihnen erhofft. Wirklich strenge Kontrollen an den EU-Binnengrenzen wären allerdings zumindest eine Möglichkeit, um das Schlepperwesen in Europa ernsthaft zu bremsen, vielleicht gar auszubremsen, wenn alle Staaten mitmachten. Das müssten sie aber wollen. Und die Bundesregierung will nun einmal nicht. Das weiß auch Papier und bleibt im Interview bei seinem Urteil von 2019: „Die Flüchtlingskrise war … eine Bankrotterklärung des Rechtsstaats.“ Und das ist sie dann wohl auch heute.