Begeistert zeigte man sich quer durch die weltanschaulichen Lager in Italien, Polen, Israel und Afrika.
Stellvertretend für den allgemeinen Tenor der italienischen Medien der Kommentar der Turiner La Stampa: „Er wird nicht der finstere Hüter des Glaubens sein, wie ihn einige ungerechterweise sehen. Nach seinem Temperament, seiner Erziehung und seiner Kultur ist Ratzinger eine komplexe Persönlichkeit, zugleich mit einer manchmal entwaffenden Einfachheit.“ Mit Beifall reagierte man in Polen und wunderte sich nur, dass die Deutschen so wenig Begeisterung zeigten. Der Moderator eines Nachrichtensenders verlieh seiner Befremdung Ausdruck mit den Worten: „Hoffen wir, dass die Deutschen eines Tages ihren Papst so lieben werden, wie wir schon anfangen ihn zu lieben.“
Regelrecht enthusiastisch über den deutschen Papst zeigten sich die Vertreter jüdischer Organisationen und Pressestimmen. Die Zustimmung reichte von Jerusalem Post bis Haaretz, vom Zentralrat der Juden in Deutschland bis zum Jüdischen Weltkongress. Dessen Vorsitzender Isaak Singer formulierte: „Er war es, der für Johannes Pauls II. Entscheidung, diplomatische Beziehungen mit Israel aufzunehmen, die theologische Untermauerung geliefert hat. Er war es, der die Schlüssel hatte, um dieses Schloss zu öffnen. In den letzten zwanzig Jahren hat er die zweitausendjährige Geschichte der Beziehungen zwischen Judentum und Christentum verändert.“
In England setzten die Boulevardmedien auf bewährte antideutsche Ressentiments. „Gottes Rottweiler ist der neue Papst“, titelte der Daily Express. „Vom Hitlerjungen zu Papa Ratzi“ kalauerte Murdochs The Sun. Der Daily Mirror sah den „Panzerkardinal“ auf „der Reise des Vollstreckers“. Der Independant zeigt ein Foto des 16-jährigen Flakhelfers Ratzinger in Uniform.
Die linke Pariser Libération titelte mit „ein rückwärtsgewandter Papst“ und versäumte nicht, das Etikett „Panzerkardinal“ zu verwenden. Positiv kommentierte in Frankreich nur der konservative Figaro. Dem belgischen Standaard fiel wenig kreativ die Überschrift „Panzerkardinal wird Papst“ ein. Die freisinnige Südostschweiz prophezeite: „Der Großinquisitor wird als Papst das Zweite Vatikanische Konzil zubetonieren für alle Zeiten.“
In Deutschland schlagzeilte zwar die Bild-Zeitung ihr berühmtes „Wir sind Papst“, aber die Stimmung genauer traf die taz mit einer schwarzen Titelseite und den drei Worten: „Oh, mein Gott!“
Die alte Allianz aus dem „Kulturkampf“ der Bismarckzeit, in der Liberale, Deutschnationale und Protestanten sich in der Polemik gegen die ultramontanen „Römlinge“ überboten, in deren Fahrwasser dann die Freidenkervereine von links und links außen mitzogen, schließlich nacheinander Nazis und Kommunisten die praktische Verfolgung aufnahmen, prägt bis heute die antikatholische Mentalität bis hin zu bedingten Reflexen. Die Berliner Zeitung überschlug sich in einem Metaphernstakkato und erschaute im neuen Papst einen „Wolf unter Schafen“, der zudem „klug ist wie eine Schlange“ und außerdem der „gewiefteste Höfling am ältesten Hofe der Welt“ sei. Wenig überaschend wurden landauf landab begeistert die Urteile der Bestsellertheologen Hans Küng („Riesenenttäuschung“) und des Starkirchenkritikers Eugen Drewermann verbreitet, die Wahl spiegle die Macht des Opus Dei wider. Er forderte, der Vatikan müsse endlich von der Reformation und vom Buddhismus lernen.
Die Folgen des Konzils
Historiker der Geschichte der Konzile haben darauf hingewiesen, dass oft die späteren Interpretationen der jeweiligen Entscheidungen wirkungsmächtiger waren als diese selbst. Dies zeigte sich auch an den Folgen des Vatikanum II. Für die eine Richtung war das Konzil etwas absolut Neues, gleichsam das Entstehen eines neuen Kircheseins, eine Art „kopernikanischer Wende“. Der Katholizismus habe damit seine Gestalt gewechselt und sei in eine andere Art von Katholizismus übergegangen. Traditionsbestände wie Heiligen- und Marienverehrung, die Form der Eucharistie, lateinische Liturgie und päpstliches Lehramt müssten abgeräumt werden, wodurch man auch einer Einheit mit den anderen christlichen Kirchen den Weg bereite.
War das Konzil ein Bruch mit der jahrhundertelangen Tradition, die in weiten Teilen zugunsten einer Öffnung gegenüber der Welt ersetzt werden sollte? Das war Küngs Impetus, der eine Ökumene mit dem Protestantismus und dem linksliberalen Zeitgeist konzipierte, und dabei bereit war, auch essentielle katholische Traditionsbestände zu liquidieren. Das Ideal dieser Zielsetzungen hat der Schriftsteller Martin Mosebach polemisch als “offene Weltanschauungsgemeinschaft mit unscharf philanthropischem Engagement“ bezeichnet. Jüngste Kritiker der ökoliberalen Stimmung bei der Mehrheit der katholischen Bischöfe sprachen schon von der Verwandlung der Kirche in eine „Nichtregierungsorganisation mit Wohlstand“.
Im Gegensatz aber zu den Aufbruchserwartungen der Konzilsoptimisten entwickelt sich die Lage eher zu einem Abbruchunternehmen. Die Zahl der Kirchenbesucher sank dramatisch, der Priesternachwuchs wurde immer spärlicher. Nonnen verließen in großer Zahl die Klöster. Bei den sich als besonders progressiv gebärdenden Niederländern gab es praktisch gar keine Priesterkandidaten mehr. Statt Reformen zeichnete sich eine Kulturrevolution ab.
Ratzinger hatte die nachkonziliare Entwicklung frühzeitig mit großer Sorge erfüllt. Schon auf dem Katholikentag von Bamberg 1966 wandte er sich gegen den Zeitgeist: „Es herrscht eine Stimmung der Ernüchterung und Enttäuschung … Für die einen hat das Konzil noch zu wenig getan, ein Sieg diplomatischer Behutsamkeit über den Sturm des Heiligen Geistes, der nicht komplizierte Synthesen, sondern Einfachheit des Evangeliums will; für die anderen aber ist es ein Ärgernis, Preisgabe der Kirche an den Ungeist einer Zeit der Gottesfinsternis, Folge ihrer wilden Verbohrtheit ins Irdische.“
Das Zweite Vatikanische Konzil hatte seiner Auffassung nach nicht die vom Roncallipapst erhoffte »Öffnung der Kirchenfenster« bewirkt, sondern einen »fortschreitenden Prozess der Dekadenz« in Gang gesetzt. Als Johannes Paul II. 1981 Ratzinger als Leiter der Glaubenskongregation nach Rom holte, waren sich der Pole und der Deutsche in der inzwischen offen zu Tage liegenden Bilanz des Konzils einig: Statt Aufbruch und Erneuerung habe »eine Entfesselung von verborgenen, aggressiven, polemischen, auseinanderdriftenden Kräften« stattgefunden. Eine »radikal liberale Ideologie individualistischer, rationalistischer und hedonistischer Prägung« habe ihren Siegeszug angetreten.
Die 68er Bewegung
Zu den Vorreitern der kulturrevolutionären 68er Welle gehörten ausgerechnet die Theologiestudenten, insbesondere die Tübinger. Da wurde das Neue Testament in Flugblättern als „Dokument der Unmenschlichkeit“ und das Kreuz Jesu als „sadomasochistische Schmerzverherrlichung“ angeprangert. Das gipfelte am Ende in Parolen wie „Verflucht sei Jesus!“ Eine Studentenvollversammlung lehnte den Antrag von Ratzinger ab, sich von diesen Blasphemien zu distanzieren. In diesen Texten seien „bedenkenswerte sozialpolitische Wirkungen ausgesprochen“ worden, mit denen man sich um der Wahrheit willen auseinandersetzen müsse.
Hans Küng entzog sich geschickt den Tumulten, schrieb sein Buch „Unfehlbar“ und überließ Dekan Ratzinger das Steuer im Sturm. Doch dieser hatte nun genug von der permanenten Verhinderung wissenschaftlicher Arbeit. 1969 wechselte er an die Universität Regensburg. Sein Biograph Peter Seewald hat die Legende widerlegt, Ratzinger sei vor den Tumulten in den Hörsälen geflüchtet. Glaubwürdige Zeugnisse zeigen, dass er im Gegensatz zu Küng mit den Protestierenden souverän umzugehen pflegte. Er wollte jedoch nicht mehr Zuschauer sein der „Zerstörung der Theologie, die durch ihre Politisierung im Sinne des messianischen Marxismus vor sich ging“.
Küngs innerkirchliche Karriere ging im Dezember 1979 zu Ende. Die vatikanische Kongregation für die Glaubenslehre erklärte mit ausdrücklicher Billigung von Johannes Paul II.: „Professor Küng weicht in seinen Schriften von der vollständigen Wahrheit des katholischen Glaubens ab. Darum kann er weder als katholischer Theologe gelten noch als solcher lehren.“
Der „Großinquisitor“
1981 holte Karol Wojtyla Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation nach Rom. Damit begann ein dornenreicher Lebensabschnitt. Als Hüter der traditionellen Lehre der Kirche zog der physisch und gesundheitlich fragile Gelehrte alle Abneigung antireligiöser, antikatholischer, aber auch des innerkirchlichen progressiven Lagers auf sich. Bei den Lieblingsthemen der progressiven Kirchenkritik (etwa Frauenpriesterschaft, Abtreibung, Abschaffung des Zölibats, Ehescheidung) mussten die Kongregation und ihr Präfekt schon qua Amt in der Wahrnehmung des Zeitgeists hoffnungslos rückständig erscheinen. Besonderen Hass zog der Präfekt auf sich, als er – gemeinsam mit dem Papst – gegen die „Theologie der Befreiung“ Stellung bezog, die in Lateinamerika aus nachvollziehbaren Gründen entstanden war, nun über Theologen wie Leonardo Boff und Johann Baptist Metz nach Europa übergriff.
Der Weg der von aktiv beteiligten Theologen wie Ernesto Cardenal inspirierten sandinistischen Revolution bestätigt – von heute aus gesehen – die Einschätzungen des polnischen Papstes und Joseph Ratzingers. Nicaragua ist heute ein völlig verarmtes, zerrüttetes Gemeinwesen, das unter der diktatorischen Knute des Familienclans des Revolutionsführers Daniel Ortega leidet.
Die Armen in den Slums, um die es den Befreiungstheologen einmal gegangen war, wollten auf Dauer mit den politischen Visionen der radikalen Priester nichts zu tun haben. Sie wanderten in großer Zahl zu den evangelikalen Freikirchen ab. (In Brasilien gibt es inzwischen etwa 35.000 solcher „Sekten“, denen etwa 30 Prozent der Gesamtbevölkerung folgen.)
Abtreibung
Mit dem deutschen Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch war ein Kompromiss gelungen zwischen konservativen Abtreibungsgegnern und radikalliberalen Vertretern einer „Selbstbestimmung der Frau“. Danach blieb ein Abbruch bis zur 14. Schwangerschaftswoche straffrei, unterlag jedoch Einschränkungen wie der Beratungspflicht mit dreitägiger Bedenkzeit. Im kirchlichen Bereich, bei Caritas und dem Sozialdienst katholischer Frauen, gründeten sich sofort Beratungszentren, in denen die geforderten Beratungsscheine erteilt wurden. In einem Brief vom 11. Januar 1998 untersagte Papst Johannes Paul II. jedoch den Einrichtungen, Beratungsscheine auszugeben – zur Empörung der deutschen Bischöfe, der Feministinnen und der Politiker. Daraufhin wurde die Vergabepraxis eingestellt.
Außerhalb der Kirche gründeten jedoch Katholiken die Stiftung Donum Vitae, die die Lücke pragmatisch schloss. Ratzinger verteidigte die Position des Papstes und stellte sich in Rom einer Diskussion mit dem atheistischen Philosophen Flores d’Arcais. Dabei antwortete er auf die Feststellung des Philosophen, der „Embryo bestehe bekanntermaßen noch die ersten 16 Tage aus undifferenzierten Zellen“: „Das Wesen trägt vom ersten Augenblick an das ganze Programm des Menschen in sich, zu dem es sich entwickeln wird. Auch wenn diese Position nicht sicher sein sollte, besteht zumindest eine begründete Möglichkeit, dass es sich um einen Menschen handelt. Und schon diese Möglichkeit erlaubt uns nicht, dieses Wesen zu töten, weil es möglicherweise bereits ein Mensch ist.“
Missbrauchsvorwürfe
Bizarrerweise wurde ausgerechnet der Mann, der frühzeitig und am entschiedensten für die radikale Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der Kirche stritt, zum Ziel medialer Skandalisierung. Noch als Präfekt der Glaubenskongregation ließ er 2003 im Vatikan einen Missbrauchskongress veranstalten. Der Psychiater und Theologe Manfred Lütz berichtet über die Rolle Ratzingers dabei: „ Es war ein sehr dichter Kongress mit ausgesprochen freimütigen Fragen der Vatikanvertreter und ebenso ungekünstelten Antworten der – durchwegs nicht katholischen – internationalen Experten … Diese plädierten dafür, man müsse die Täter kontrollieren, aber nicht einfach rauswerfen, sonst seien sie – ohne soziale Perspektive – eher eine Gefahr für die Gesellschaft. Ratzinger aber widersprach, Missbrauch sei so etwas Schreckliches, man könne solche Täter nicht einfach als Priester weiterarbeiten lassen.“ 2010 sagte Papst Benedikt XVI.: „Das erste Interesse muss den Opfern gelten. Wie können wir Wiedergutmachung leisten (…) mit materieller, psychologischer, geistlicher Hilfe?“
Ja, es gibt Sünde in der Kirche und Böses. Aber es gibt auch heute die heilige Kirche, die unzerstörbar ist. Es gibt auch heute viele demütig glaubende, leidende und liebende Menschen, in denen der wirkliche Gott, der liebende Gott sich uns zeigt. Gott hat auch heute seine Zeugen (‚martyres‘) in der Welt. Wir müssen nur wach sein, um sie zu sehen und zu hören.“
Es ist an der Zeit, Joseph Ratzinger, diesem leidgeprüften und aufrechten Zeugen für ein wahrhaftiges Christsein in den Unwettern und Katastrophen der Gegenwart, Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen. Papa emeritus – requiescat in pace.