Wenn heute ein deutscher Kanzler in Ostmitteleuropa auftritt, droht ein solches Unternehmen rasch zum Himmelfahrtskommando zu werden. Durch seine russlandfreundliche Politik in der Vergangenheit hat sich Deutschland dort allzu viele Feinde gemacht. Für Ungarn mag das nicht gelten, aber der dortige Regierungschef Orbán gehört ja zu den bösen „Rechten“ und den politisch Unberührbaren. Eine Reise des Kanzlers nach Warschau wird man so schnell auch nicht erleben. Er müsste befürchten, dort in Geiselhaft genommen zu werden, bis Deutschland ein oder zwei Billionen Euro Reparationen an Polen gezahlt hat für den Zweiten Weltkrieg (oder waren es doch eher die polnischen Teilungen oder gar das antipolnische Bündnis Brandenburgs mit Schweden in den 1650er Jahren?). Das lassen die jüngsten Forderungen der polnischen Regierung zumindest erwarten.
Lassen sich diese beiden Ziele vereinen? Darauf fand Scholz keine wirklich überzeugende Antwort. Sein Vorschlag, das Vetorecht einzelner Mitgliedsstaaten in Grundsatzfragen, vor allem mit Blick auf die Außen- und Sicherheitspolitik einzuschränken, so dass zum Beispiel auch gegen den Willen dissentierender Mitgliedsstaaten Sanktionen gegen Dritte verhängt werden könnten, mag auf den ersten Blick einleuchten. Aber warum sollten die Staaten, die zurzeit mit der Linie Brüssels nicht einverstanden sind, einer solchen Vertragsveränderung zustimmen? Das wäre ja eine Art politischer Selbstmord.
Gilt dies schon für die Außenpolitik, dann natürlich noch viel mehr für andere Politikbereiche, wie eine gemeinsame Steuerpolitik, für die Scholz nach eigenem Bekunden auch eine Aufhebung des Einstimmigkeitsprinzips anstrebt. Sicher wäre es erfreulich, wenn man dem Steuerdumping von Ländern wie Irland, Luxemburg und der Niederlande einen Riegel vorschieben könnte, aber er scheint nicht zu realisieren, dass damit die EU noch undemokratischer würde als bisher – denn Sitz der Demokratie sind nun mal die Nationalstaaten, nicht das seltsam gewählte und agierende EU-Parlament, das sich um seine Wähler kaum scheren muss, weil diese niemanden haben, den sie für Fehlentscheidungen konkret zur Verantwortung ziehen könnten. Scholz’ Vorschlag. das Parlament stärker nach dem Prinzip zu wählen „one person one vote“, ist zwar überfällig, aber dürfte kaum Chancen auf Umsetzung haben.
Außerdem hat ja gerade Scholz in seiner Zeit als Finanzminister über den Hamilton-Moment in der Geschichte der EU gejubelt, also die eigentlich in den Verträgen verbotene gemeinsame Aufnahme von Schulden in Höhe von fast einer Billion Euro, die vor allem einem gigantischen Finanztransfer zugunsten ärmerer oder einfach nur stark verschuldeter Mitgliedsländer dienen soll, finanziert von Deutschland und wenigen anderen noch halb stabilen Ländern. Wer so etwas macht, kann nicht anschließend finanzielle Disziplin verlangen, und ernsthaft hat Scholz das wohl auch nicht vor.
Für Scholz ist „Mehr Europa“ immer noch das Allheilmittel
In manchen Fragen scheint der Kanzler sich auch selbst bewusst zu sein, dass die EU vor faktisch kaum lösbaren Problemen steht. So würde eine Erweiterung der Staatengemeinschaft um weitere fünf oder sechs Staaten, die EU-Kommission, in der jedes Land mit einem Kommissar vertreten ist,
nochmals aufblähen und faktisch wohl lähmen. Scholz schlägt deshalb vor, dass zwei oder mehr Kommissare sich in Zukunft ein Ressort teilen, denn er weiß, dass gerade die kleinen Länder nicht darauf verzichten werden, eigene Kommissare zu nominieren.
Dieser Vorschlag des Kanzlers könnte schon fast aus dem Instrumentenkasten der Reichsjuristen der frühen Neuzeit stammen, denn auf dem Reichstag des Heiligen Römischen Reiches gab es auch sogenannte Kuriatstimmen, die mehrere kleinere Stände gemeinsam führten. Wenn das Reich trotz solcher Komplexitäten als Friedens- und Rechtsgemeinschaft phasenweise leidlich funktionierte, lag das freilich auch daran, dass es in Gestalt der Habsburgermonarchie eine Hegemonialmacht gab, die mit ihrer Klientelpolitik und ihrer militärischen Macht das Reich stabilisierte. Auch wenn viele in Europa wahlweise Frankreich oder Deutschland oder beide gemeinsam in einer solchen Rolle sehen, so liegen die Dinge doch faktisch anders. Ein hegemoniales Zentrum fehlt der EU schon heute und würde ihr nach einer Aufnahme der Ukraine und der verbliebenen Balkanstaaten noch mehr fehlen.
Nun kann man den Kanzler schlecht für die strukturellen Probleme der EU, die auch das Resultat von Jahrzehnten schiefer und unausgegorener Kompromisse sind, verantwortlich machen. Dennoch zeigt seine Rede, wie stark er verwurzelt ist in einem politischen Milieu, für das die Antwort auf jedes Problem der EU immer nur „Mehr Europa“ sein kann. Diese Einstellung ist, auch wenn er mit einzelnen Argumenten recht haben mag, ein schwerer Fehler, denn in weiteren Bereichen ist es eher ein Zuviel an Integration, das die EU in eine Legitimations- und Funktionskrise geführt hat. Besonders gilt das natürlich für die Währungsunion, die immer mehr zur Falle für alle Beteiligten wird.
Schon jetzt gibt es ja EU-Staaten, die ganz gut davon leben oder gelebt haben, EU-Pässe an zahlungskräftige Ausländer zu verkaufen wie etwa Zypern. Warum sollten sich dann nicht auch Staaten finden, die gegen geringere Pro-Kopf-Gebühren – die in der Masse dann aber deutlich höhere Einnahmen generieren würden – ähnlich großzügig mit Asylbescheiden sind? Aber soweit denkt Scholz nicht; dazu müsste er ja bereit sein zuzugeben, dass in der EU vieles aus strukturellen Gründen nicht richtig funktioniert und auch kaum nachhaltig reparabel ist. Das passt nicht in sein Weltbild.
Gerade der Ruf nach einer Auflösung der Nationalstaaten wird neuen Nationalismus in Ostmitteleuropa provozieren
Dass Scholz’ Vorschläge, die auch in Prag eher verhalten aufgenommen wurden, in der EU breite und ausreichende Unterstützung finden werden, ist allerdings nicht sehr wahrscheinlich, jedenfalls in der jetzigen Lage. Das muss man dann wohl sogar begrüßen. Dennoch bleibt der Eindruck, dass Scholz den Ernst der Lage nicht wirklich erkannt hat und glaubt, durch eine Vertragsveränderung hier und eine außervertragliche, improvisierte Lösung dort (wie beim Corona-Wiederaufbaufonds) die EU wieder zu einem Erfolgsprojekt machen zu können, um den Weg zu einer immer engeren Union, die dann faktisch doch eine Art Superstaat wäre, fortsetzen zu können. Von einer ähnlichen Phantasielosigkeit und dem Denken in traditionellen Schablonen war schon Merkels EU-Politik geprägt; bei Scholz scheint aber noch eine grundsätzliche Ablehnung des Nationalstaates hinzuzukommen, mit der er sich in Ostmitteleuropa kaum Freunde machen wird, zumal wenn er wie in Prag mit Rechtsstaatsverfahren gegen ungehorsame EU-Mitglieder wie Polen und Ungarn offen droht.
Das ist ein feindseliger Akt und vergiftet natürlich die Beziehungen zu Deutschland dauerhaft, aber ob es sehr klug ist, in der jetzigen Situation Ländern wie Polen eine EU als Ziel vor Augen zu stellen, in der der Nationalstaat ein reines Auflaufmodell ist, kann man dennoch bezweifeln. Man sollte nicht vergessen, dass auch der von Polen massiv unterstützte Widerstand der Ukrainer gegen Putin ohne ein gesundes Nationalgefühl kaum denkbar wäre. Und dass gerade solche Zentralisierungs-Konzepte, wie sie Scholz vertritt, in Polen und anderswo den trotzigen Widerstand auch gegen die Gerichtsbarkeit des EuGH stärken, verwundert nicht. Das scheint Scholz nicht bedacht zu haben, aber diese Art von Analysen ist wohl ohnehin nicht seine Stärke. Von daher war die Rede in Prag doch eher ein Ausdruck politischer Hilflosigkeit als eine tragfähige Zukunftsvision.