Tichys Einblick
13. August 1961

Ohne Gewalt gegen Gewalt

Torsten Preuß im Gespräch mit dem Freiheitskämpfer Carl-Wolfgang Holzapfel über den schwierigen Widerstand gegen die Mauer im Westen Deutschlands.

© C.-W. Holzapfel

Herr Holzapfel, als die Kommunisten im Osten Deutschlands die Mauer errichteten, haben Sie beschlossen, ihr ganzes Leben dem Kampf dagegen zu widmen. Wie kamen Sie als West-Berliner dazu?

Carl-Wolfgang Holzapfel: Am 13. August 1961 war ich 17 Jahre alt und wohnte gerade in einem Lehrlingsheim in Hamburg. Dort erfuhr ich über das Radio, Berlin wird abgeriegelt. Ich war bestürzt, denn meine Eltern, meine ganze Familie, lebte in Berlin.

In Westberlin?

Ja. Ich habe dann Ende August mein Lehrgeld von 80 Mark genommen und bin nach Berlin gefahren. Am Bahnhof Zoo nahm ich mir vom Restgeld eine Taxe. Dem Fahrer sagte ich nur: ‚Bernauer Straße‘. Die hatte damals sehr schnell den Ruf ‚Straße der Tränen‘ bekommen. Weil die Mauer die Menschen dort am brutalsten trennte. Da stand ich dann und blickte auf die Versöhnungskirche. Ich schäme mich meiner Tränen nicht, die Erinnerung bewegt mich auch heute noch, als ich fassungslos vor dieser zugemauerten Kirche stand, mit der berühmten Christusfigur, die ihre Hände ausbreitend über die Mauer hielt. Ich hatte in der Schule gelernt, dass mit dem Sieg über das NS- Regime Verbrechen solcher Art nicht mehr möglich sein würden. Nun stand man wieder vor so einem Unrecht. Da habe ich einfach, unbesehen, ohne lange darüber nachzudenken, mit 17 Jahren den Schwur abgelegt: Du wirst dein Leben dem Kampf gegen dieses Ungetüm widmen, du wirst solange kämpfen, bis diese Mauer fällt oder du es einfach nicht mehr erleben kannst, also du selber tot bist. An diesen Schwur habe ich mich dann gehalten.

Ohne damals zu wissen, wie Sie den umsetzen könnten. Oder hatten Sie schon Ideen?

Das war natürlich schwierig. Ich habe erstmal versucht Kontakte zu Leuten aufzunehmen, denen es ähnlich ging. Berlin war ja damals ein brodelnder Kessel. Wir diskutierten in verschiedensten Kreisen über Möglichkeiten des Widerstandes. Da wurde, weil es gerade aktuell war, auch diskutiert, ob man, wie in Algerien der OAS, mit Plastiksprengstoff gegen die Mauer vorgehen soll. Weil Gewalt nur mit Gewalt beseitigt werden kann. Aber ich wollte anders gegen die Mauer kämpfen.

Was war denn Ihre erste konkrete Aktion?

Zunächst habe ich an einer der ersten großen Demonstrationen gegen die Mauer teilgenommen.

Wann war die?

Im November 1961. Ausgerufen von der Jungen Union. Motto: ‚Jugend protestiert gegen die Mauer‘. Es ging vom Ernst-Reuter-Platz zum Theodor-Heuss-Platz, damals noch Reichskanzlerplatz. Da habe ich kritisiert, dass man von der Mauer wegmarschierte. Man müsste doch eigentlich auf die Mauer zu marschieren. Mit ein paar Gleichgesinnten schafften wir es tatsächlich, die Demo am Ende umzudirigieren. Mit dem Ruf: ‚Auf zur Mauer, auf zur Mauer!‘, zogen wird dann wieder Richtung Ernst-Reuter-Platz, um weiter zum Brandenburger Tor zu laufen, wurden dort aber durch zusammengezogene Polizeieinheiten aufgehalten. Es kam historisch zur ersten Knüppel-Orgie gegen Mauerdemonstranten – in Westberlin!

Warum?

Weil die Demo zur Mauer am Brandenburger Tor nicht genehmigt war, die Alliierten hatten Angst vor einer Eskalation.

Sie nicht?

Ich war ja nicht auf Gewalt aus. Das wurde mir klar, als ich im August 1962 im Studentenhaus am Steinplatz den damals bekannten Inder T. N. Zutshi kennengelernt hatte. Der war bereits 1956 aus seiner Heimat nach Europa gekommen. Tief beeindruckt von dem Aufstand der Ungarn gegen die kommunistische Diktatur in ihrem Land, wollte er den Europäern die Ideen von Mahatma Gandhi näherbringen. Er meinte, nur durch gewaltlosen Widerstand könnten die roten Diktaturen im Osten Europas besiegt werden.

Wie sollte das aussehen?

Auf der Veranstaltung verkündet er, er wolle zum Geburtstag von Gandhi am 02. Oktober die Mauer in der Bernauer Straße symbolisch mit Hammer und Meißel einreißen. Ich war von dieser Idee sofort fasziniert und bin auch an dem Tag dort hingegangen. Etwa 2000 Leute warteten dort auf den ‚mutigen Inder‘, als den ihn Carlo Schmidt im Bonner Parlament bezeichnet hatte. Auf dem Turm der Versöhnungskirche war ein Maschinengewehr installiert, es war also Hochspannung. Aber dann erschien Zutshi und erklärte, Bürgermeister Heinrich Albertz habe ihm die Aktion im Auftrag der Alliierten verboten, sonst würde er als unerwünschter Ausländer ausgewiesen werden. Ich war sehr enttäuscht, da war eine friedliche Aktion angesagt, und trotzdem wurde sie verboten. Damals dachte ich, gerade wir als Deutsche müssten diesem Inder und der Welt zeigen, dass wir diese Botschaft verstanden haben. Und da habe ich mich einfach, ganz spontan, ohne jede Ahnung wie sich das gesundheitlich und körperlich auswirken wird, unter das Schild Hussitenstraße/Bernauer Straße gegenüber der Versöhnungskirche gesetzt und habe zu den Umstehenden gesagt, ich mache jetzt hier aus Protest gegen die Mauer einen 72 stündigen Sitz- und Hungerstreik.

Wie waren die Reaktionen?

Die meisten waren wohl so überrascht wie ich. Es dauerte nicht lange, da kam ein Polizist und fragte, was ich hier mache. Auf meine Antwort sagte er dann: ‚Das können sie hier nicht. Sie müssen wieder weg.‘ Ich sagte: ‚Nein, wenn Sie mich hier weghaben wollen, müssen Sie mich auch wegtragen.‘ Es kamen dann vier Beamte, die haben mich in ein Polizeiauto gesetzt und als wir in dem Revier Ackerstraße ankamen, mussten sie mich wieder raustragen, bis in die Zelle. Dort habe ich mich im Schneidersitz hingesetzt. Das waren meine ersten Erfahrungen mit gewaltlosem Widerstand.

Der bis dahin nicht viel gebracht hatte.

Nach ca. eineinhalb Stunden kam der Revierleiter in meine Zelle und fragte: ‚Mensch, was machen wir denn nun mit ihnen?‘ Ich antwortete, dass ich ja nur protestieren will, aber er meinte, das geht dort nicht, die Alliierten haben das so angeordnet, er sei nur ein ausführendes Organ. Ich fragte ihn nach einer Alternative. Er überlegte kurz und sagte: ‚Es gibt da einen Gedenkstein für Günter Litfin am Lehrter Bahnhof.‘ Er war am 24. August 1961 als erster Flüchtling erschossenen worden. Ich fragte was passiert, wenn ich dort sitze, kommen da seine Kollegen und tragen mich wieder weg? Er sagte nein, das könne er garantieren, dort ist Wasser zwischen der Grenze, da fühlt sich niemand bedroht.

Wie haben Sie sich darauf vorbereitet?

Gar nicht. Ich bin direkt, es war abends 22 Uhr, hingefahren und habe mich im Dunkeln an den Gedenkstein gesetzt. Meine Schwester sagte noch: ‚Du, mach das doch morgen, im Dunkeln sieht dich doch keiner.‘ Aber ich sagte, es geht nicht ums sehen, sondern ums machen.

Gesehen wurden sie erst am nächsten Morgen?

Die ersten Busse fuhren noch vorbei, aber dann hielten sie an, die Leute stiegen aus und machten Fotos. Der Polizist hatte tatsächlich eine Meldung rausgegeben und der Rundfunk hatte darüber berichtet.

So wurden Sie zum ersten Mal als Anti-Mauer-Kämpfer bekannt. Wie waren die Reaktionen auf der Straße?

Es war so, dass die Leute bis nachts zu mir kamen und diskutierten. Ein junger Mann schloss sich dem Hungerstreik sogar an. Ein Erfolg, der mich bewegte. Alle fragten sich, was mit der Mauer geschehen soll und wie es weitergeht.

Und wie ging es weiter?

Am 25. Dezember 1963 wurde der 18-jährige Paul Schulz auf seinem Weg in die Freiheit an der Thomas-Kirche in Berlin-Kreuzberg erschossen. Als ich davon abends gegen 22.00 Uhr hörte, habe ich sofort gedacht, dass wir da protestieren müssen. Zusammen mit Professor Rubin, dem Ordinarius für Byzantinistik am Institut für Altertumskunde der Universität Köln, der in Berlin wohnte, haben wir nachts in seinem Garten in Berlin – Lichterfelde, ein Holzkreuz gezimmert. Das haben wir dann morgens an die Thomaskirche in Kreuzberg gebracht.

Diesmal ohne Schwierigkeiten?

Doch. Aber ein Polizist gab mir vor Ort den freundschaftlichen Rat: ‚Holt euch eine Genehmigung. Sonst wird das alles hier wieder weggeräumt.‘

Genehmigungen hatten Sie aber nie für ihre Aktionen. Mussten Sie sich also wieder wegtragen lassen?

Nein. Ich bin auf die Polizeiinspektion in Kreuzberg gegangen und wollte dort den Polizeioberrat Däne um eine Genehmigung bitten. Den kannte ich von verschiedenen Demonstrationen. Aber der war krank, und mir wurde gesagt, ich sollte mich nach den Weihnachtsferien an die zuständigen Behörden wenden. Solange wollte ich aber nicht warten und habe dann zu Rubin gesagt: ‚Ich fahre zu Willy Brandt raus.‘ Damals Regierender Bürgermeister von Berlin. Rubin war ein treuer Beamter, er sagte, dass kannst du doch nicht so einfach machen, zu dem hinfahren, aber ich sagte, lass mal, ich mach das schon.

Damals ging das noch?

Heute, bei dem ganzen Sicherheitswahn, kann man das gar nicht mehr glauben. Aber damals stand nur ein Polizist vor der Tür, dem sagte ich, warum ich hier bin. Er meinte, ich soll einen Moment warten, die Frau Brandt käme gleich heraus um ihre Hunde auszuführen. Ich sprach sie an und habe ihr mein Anliegen kurz erklärt. Sie sagte: ‚Mein Mann ist gerade mit den Söhnen am Schlachtensee spazieren, er muss aber gleich kommen. Sagen Sie ihm, Sie haben schon mit mir gesprochen.‘ Es dauerte auch nicht lange, dann kam Willy Brandt, auf der Schulter sein Sohn Matthias. Ich erklärte ihm mein Anliegen. Brandt fragte, ob ich das nicht an Heinrich Albertz geben könnte, damals der Innensenator. Ich sagte ihm, dass ich nicht wüsste, wo Albertz wohnt. Da lächelte er und sagte, ich solle mich an die ‚Stallwache‘ wenden. Das wäre die Dauerbesetzung im Rathaus Schöneberg. Ich sollte dort in 2 Stunden anrufen, da würde die Sache entschieden sein.

Mit welchem Ergebnis?

Das Kreuz kann aufgestellt werden. Ich bin dann mit dem völlig erstaunten Rubin wieder an die Thomaskirche gefahren. Dort war plötzlich der Polizeioberrat Däne wieder gesund, der CDU Politiker Ernst Lemmer war da, es wurden Kränze und Blumen niedergelegt.

Wie lange blieben Sie an dem Kreuz?

Ich habe dort mit einem Freund einen zehntägigen Hungerstreik durchgeführt, mit dem wir die UNO aufriefen, gegen das andauernde Morden an der Mauer vorzugehen.

Im kalten Winter. Ohne zu essen.

Nach der Aktion lag ich 10 Tage im Krankenhaus. Die Ärzte sagten, wenn ich an meine Gesundheit denke, sollte ich Aktionen wie Hungerstreiks in Zukunft unterlassen. Da erinnerte ich mich an Zutshi, der schon mehrere Demonstrationen für die Freilassung der politischen Gefangen in der DDR organisiert hatte. Ich beschloss also, seinem Beispiel folgend, als nächste Aktion die Freilassung von Harry Seidel zu fordern.

Der damals bekannte DDR-Rad-Rennfahrer, der aus dem Osten geflüchtet war, aber als Fluchthelfer 1962 verhaftet und wenig später zu einer lebenslangen Zuchthaus-Strafe verurteil worden war.

Ich kündigte öffentlich an, ich würde am 14. November 1964, dem Tag seiner Verhaftung, am Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße mit einem Schild ‚Freiheit für Harry Seidel und 14.000 politische Gefangene in der SBZ!‘ nach Ostberlin gehen um dort zu demonstrieren. Da haben mir alle gesagt, du bist doch verrückt, die nehmen dich gleich fest.

Dachten Sie das nicht?

Doch. Aber als ich dann auf die Grenze zulief sah ich, dass da schon keine einfachen Soldaten mehr standen, sondern ab Oberleutnant aufwärts. Ich habe mich dann gefragt: Wer hat hier eigentlich mehr Angst? Da fiel das plötzlich von mir ab.

Wie war der Empfang?

Sie wollten mich natürlich nicht reinlassen. Dabei ist das bekannte Foto entstanden, wo mich ein Oberleutnant mit der Faust auf dem Plakat Richtung Westen drückt. Ich habe diese Aktion dann auch sofort abgebrochen und mich hinter den Weißen Strich nach Westen abdrängen lassen. Es war mir auch wichtig zu zeigen, man kann so eine gewaltlose Aktion machen, ohne gleich verhaftet zu werden. Von Zutshi hatte ich gelernt, dass man seinem Gegner immer die Möglichkeit geben sollte, sein Gesicht zu wahren. Und durch meine vorherigen Ankündigungen habe ich meinem Gegenüber immer die Möglichkeit gegeben, auf den Protest auch positiv reagieren zu können. Ich habe ihnen aber noch zugerufen: Ich komme wieder.

Und?

Ich bin am 17. Juni 1965 am selben Grenzübergang wieder erschienen. Um an den Volksaufstand von 1953 zu erinnern.

Das wollten die Kommunisten ja gar nicht hören.

Da stand auch gleich ein Oberst da und drohte, mich festzunehmen, wenn ich diese Provokation nicht sofort abbrechen und verschwinden würde. Ich sagte ihm, genau das ist ja der Grund dafür, dass ich hier stehe. Weil sie Andersdenkende verhaften. Sonst brauchte ich nicht hier zu stehen und protestieren.

Wie lange ging das gut?

Fast 60 Minuten, wobei der Grenzübergang dann auch total geschlossen wurde. Ich kündigte am Ende die Fortsetzung der Demonstrationen an, die ich solange fortsetzen würde, bis dieses Unrecht zu Ende ist. Wenig später bin ich nach Westdeutschland gefahren.

Für ein bisschen Urlaub vom Widerstand?

Weil ich etwas Neues machen wollte. So habe ich unterwegs in 12 westdeutschen Großstädten, von Hamburg bis München und Stuttgart, jeweils einen Tag lang Unterschriften für die Freilassung der politischen Gefangen in Ostdeutschland gesammelt.

Wie waren die Reaktionen der Westdeutschen darauf?

In Hamburg hat mich sogar der damalige Innensenator, Helmut Schmidt, unterstützt. Weil Hamburg Schwierigkeiten machte.

Welcher Art?

Man musste die Städte damals vorher anschreiben und um Genehmigung für die beabsichtige Unterschriftenaktion bitten. In Hamburg wollte ich direkt vor dem Rathaus sammeln und da haben die mir mitgeteilt, das geht nicht, dass ist Sperrzone.

Lag das an dem Thema?

Formal hatten sie erstmal Recht. Aber ich habe dann bei einer Wahlveranstaltung im Berliner Sportpalast Helmut Schmidt direkt angesprochen. Er meinte, ich könnte doch am Hauptbahnhof vielmehr Unterschriften sammeln, aber ich hielt ihm entgegen: Wenn ich vor dem Rathaus die Unterschriften einsammeln würde, dann weiß im Osten jeder, dass der Senat auch ohne eigene Erklärung im Grunde genommen mental dahintersteht, sonst hätte ich keine Sondergenehmigung bekommen. Da stutzte er etwas und sagte, das leuchtet mir ein, also schreiben Sie mir kurz. Helmut Schmidt hat Wort gehalten.

Und in den anderen Städten?

Ich habe unterwegs interessante Unterschriften erhalten. Vom ehemaligen Bundesjustizminister Bucher, den Bürgermeistern von München und Nürnberg und viele andere mehr.

Die kämpften alle gegen das Unrecht wie Sie?

Menschlich ja, aber politisch nicht. Da war eine große Diskrepanz. Menschlich bin ich auf sehr viel Sympathie gestoßen. Aber politisch wollte sich niemand wirklich dafür stark machen.

Warum nicht?

Das ging schon 1963 los, mit dem Konflikt um das Projekt ‚Wandel durch Annäherung‘. Egon Bahr hatte das in seiner berühmten Rede vor der Evangelischen Akademie Tutzing losgetreten. Er schlug vor, dass wir uns im Westen an den Osten annähern und mit denen Vereinbarungen treffen sollten. Um die ‚Mauer menschlicher zu machen‘.

Mit welchen Folgen?
Aktionen an der Mauer wurden nicht mehr stillschweigend unterstützt, sondern oft sogar verboten. Ich konnte zum Beispiel keine Schriften mehr auf die Mauer malen, wie ‚Diese Schande muss weg, KZ‘ oder ‚Trotz Mauer ein Volk‘.

Wie dachten Sie über diesen Wandel?

Das wird die Existenz der Mauer nur verlängern, statt verkürzen. Und die, die sie errichtet hatten, würden damit einfach so davonkommen. Ich habe Bahr wenige Wochen nach Tutzing auf einer Veranstaltung in Berlin-Wedding persönlich darauf angesprochen.

Und, wie hat er auf Ihre Einwände reagiert?

Bahr hat mich, im Gegensatz zu den anderen Politikern damals, wirklich offen angelogen. Er sagte mir: ‚Herr Holzapfel, das ist alles missverständlich dargestellt worden. Ich werde das in den nächsten Tagen durch eine Erklärung zurechtrücken und klarmachen, dass das nicht heißen kann, dass wir tolerieren was hier passiert.‘ Er hat mir sogar noch seine Visitenkarte gegeben. Ich habe danach aber nie davon gehört, dass es von ihm eine Korrektur zu diesem ‚Wandel durch Annäherung‘ gegeben hat.

So fühlten Sie sich damals eigentlich allein in ihrem Kampf?

Ja und nein. Denn wieder zurück in Westberlin stellte ich fest, dass ich Unterschriften aus 26 Nationen bekommen hatte. Da dachte ich, da kannst du jetzt nicht mehr in die Heinrich-Heine-Straße gehen. Wenn Menschen aus 26 Nationen verlangen, die politischen Häftlinge in der DDR freizulassen, da musst du jetzt den Checkpoint Charlie für deine Aktion nutzen.

Den damals berühmtesten Grenzübergang der Welt.

Am 18. Oktober 1965 habe ich mir extra ein neues Schild gemacht, auf dem stand: ‚Menschen aus der ganzen Welt fordern Freiheit für Harry Seidel und 14.000 politische Gefangene in der SBZ.‘ Links und Rechts hatte ich die Namen der Nationen geschrieben, aus denen die Unterschriften stammten. Allerdings musste ich von dem Konzept ablassen, meine Aktionen vorher anzukündigen. Sonst hätte bestimmt morgens um 6 Uhr die Polizei vor meiner Tür gestanden um die Aktion zu verhindern. Der Checkpoint war mir offiziell von den Alliierten für Demonstrationen verboten worden. So wussten nur wenige von der Aktion.

Also?

Professor Rubin hat mich von der Kochstraße über ein Ruinengrundstück in die Zimmerstraße gefahren. Die war ab Hauskante schon DDR-Gebiet. Von dort bin ich mit dem Schild in den Checkpoint eingelaufen. Die Westberliner Polizei konnte nicht mehr eingreifen, weil ich schon hinter dem weißen Strich, also auf Ostgebiet, war. Sofort kamen zwei Vopos auf mich zugelaufen. Die hatten sogar Maschinenpistolen dabei. Dann haben sie mich verhaftet.

Wussten die, wer Sie waren?

Nein. Wenn sie gewusst hätten, da kommt der Holzapfel, dann hätten sie bestimmt Hemmungen gehabt, mich festzunehmen. Um nicht vor aller Welt zu zeigen, dass sie im Osten friedliche Demonstranten verhaften. Sie dachten erstmal nur, ich sei ein ‚Provokateur‘. Erst als sie meinen Ausweis sahen, wussten sie wer ich war. Dann sagten sie sich wohl: Jetzt haben wir einen Fehler gemacht, aber wenn wir ihn schon mal dahaben, dann können wir ihn auch behalten.

Damit begann das dunkelste Kapitel ihres Ein-Mann-Kampfes.

Zunächst bin ich in eine Baracke gebracht worden. In der erwähnte ein Offizier spöttisch, dass er mich neulich in einer Satiresendung im Ostfernsehen gesehen hatte. Mit der Meldung: ‚Der bekannte westdeutsche Provokateur Carl-Wolfgang Holzapfel wurde gestern wegen einer Blutvergiftung in eine Klinik eingeliefert. Er hatte sich bei seinen Hasstiraden gegen die Deutsche Demokratische Republik auf die Zunge gebissen.‘ Ich hatte schon davon gehört, also lachte ich einfach mit.

Aber war Ihnen auch so zumute?

Durch mein politisches Engagement und meine Kontakte zu ehemaligen politischen Gefangenen hatte ich immer den Vorteil, dass ich wusste, was mich erwartet. Ich wusste viel über Vernehmungsmethoden, wie das alles abging, das heißt, ich konnte mich ganz anders darauf einstellen als einer, der ganz plötzlich in diese Situation reinkam. So wusste ich auch, dass erstmal ein Kreuzverhör stattfindet. Um festzustellen, welche Methoden anzuwenden wären. Können wir den psychisch kriegen oder müssen wir da ein bisschen körperlich nachhelfen?

Die wussten ja eigentlich, wie Sie denken.

Nur aus den Medien. Aber als Mensch nicht. Sie fragten mich, wie ich zu solchen Aktionen käme und wer mich beauftragt hat. Dann wurde das Verhör nach einigen Stunden beendet und ich wurde in den Stasi-Knast nach Hohenschönhausen transportiert. Dort habe ich dann erstmal 9 Monate in Einzelhaft zugebracht.

Welche Erinnerungen haben Sie heute noch daran?

Ich habe natürlich, wie viele andere auch, die das erleben mussten, meine Macken bekommen. Das kann und will ich auch nicht verleugnen.

Macken welcher Art?

Ich kann mich nicht lange in kleinen, beengten Räumen aufhalten, die Türen sind am besten immer offen. Ich habe seitdem auch nie wieder in einem Anwesen gewohnt, wo ich ein Gegenüber hatte. Ich muss immer in die Freiheit sehen.

Die gab es dort nicht. Wie ging es weiter?

Im April 1966 kam es vor dem Gericht in der Berliner Littenstraße zum Prozess.

Hatten Sie einen Anwalt?

Ja. Den bekam ich aber erst zur Verhandlung. Da erschien Wolfgang Vogel.

Der berühmte Rechtsanwalt Vogel?

Ja. Er sprach ganz offen zu mir und sagte gleich: ‚Ihnen brauche ich ja nichts vormachen. Ich kann für Sie hier in der Verhandlung nichts tun. Meine Arbeit fängt erst an, wenn das Urteil rechtskräftig ist.‘

Weil es schon vorher feststand.

Darum empfahl er mir: ‚Erkennen Sie es möglichst gleich an, dann kann ich mich um ihre Freilassung kümmern.‘

Hatten Sie wenigstens eine Möglichkeit, sich vor Gericht zu erklären?

Ja. Ich habe ihnen erzählt, wie mich die Bilder der KZ‘s aus der Nazizeit beeindruckt haben und gesagt, dass die Mauer ein ähnliches Instrument der Einsperrung von Menschen sei und für mich die Mauer deshalb Unrecht ist und bleibt.

Wie haben die Richter darauf reagiert?

Sie haben es kalt zur Kenntnis genommen. Dann kam es zum Urteil. Für meine ‚Straftaten gegen die DDR‘ sollte ich insgesamt 8 Jahre ins Zuchthaus.

Aber Vogel hatte seine Arbeit schon aufgenommen. Wie ging es da weiter?

Ich wurde wieder nach Hohenschönhausen gebracht, aber bei den Freilassungsverhandlungen mit dem Westen ging wohl etwas schief. So hat die DDR wohl gesagt: Wir können auch anders. Und haben mich nach Bautzen gebracht.

In das berühmte Gelbe Elend?

Ja.

Da waren Sie dann doch erschrocken?

Ich wusste von den Beschreibungen ehemaliger Gefangener auch darüber schon einiges. Aber da kam ich in eine Zelle, die war wirklich unbeschreiblich. Exkremente an den Wänden, ein Kübel für die Notdurft und eine Liege, die völlig verdreckt war.

Wie haben Sie sich damit abgefunden?

Gar nicht. Ich habe sofort an die Tür geklopft und den Wärtern gesagt: ‚Teilen Sie ihren Vorgesetzten mit, das ist gegen jede Menschlichkeit und eines Rechtstaates unwürdig. Ich habe Anspruch auf einen menschlichen Strafvollzug und ich werde hier ab sofort in einen totalen Hunger- und Durststreik treten. Entweder tragen Sie mich in 3 Tagen hier tot raus oder Sie sorgen für eine Veränderung.‘

Gab es die dort überhaupt?

Ja. Nach einigen Stunden ging die Tür auf und ich wurde nach ‚Bautzen 2‘ gebracht. Dort hatten sie gerade frisch renoviert, sogar die Gitterstäbe an den Treppenaufgängen waren farbig. Ich kam in eine Zelle, die ein Waschbecken hatte, ein Klo und ein Zellenbett mit Bettwäsche.

Darin wussten Sie aber auch nicht, wie es mit Ihnen weitergeht.

Einige Monate später war ich gerade an meinem Arbeitsplatz, wir mussten Akkus zusammenschrauben. Da ging plötzlich die Tür auf und es hieß: ‚Holzapfel mitkommen‘. Wir sind in meine Zelle, dort hieß es: ‚Sachen zusammenpacken.‘ Dann kam ich in einen Gefangentransport. Der war komplett dunkel. Ich wusste nicht, wo ich hinfuhr. Erst am Ziel war mir klar, dass ich in die Magdalenenstraße nach Ost-Berlin gebracht worden bin.

Das berüchtigte Stasi-Ministerium.  

Dort kam ich wieder in eine Zelle die ähnlich war wie Bautzen I. Ich hatte nur 2 Meter zum hin- und hergehen, eine Pritsche und einen Kübel, sonst nichts.

Was dachten Sie damals?

Ich fragte mich, ob das nun der Beginn meiner Freilassung oder neuer Vernehmungen ist. Erst als die Klappe aufging und das Essen reingeschoben wurde, schöpfte ich etwas Mut, dass es in Richtung Freilassung gehen könnte.

Warum?

Da waren Äpfel und Birnen dabei. Die gab es für einen gewöhnlichen Gefangenen nicht. Ich schob sie aber wieder raus. Auch am nächsten Tag. Dann kam ein Wachtposten, seltsamerweise trugen die alle Kampfanzüge, und schaute durch die Klappe. Er fragte, warum ich nichts esse? Ich sagte, aus Protest, weil hier menschenunwürdige Zustände herrschen. Das habe mit einem Rechtsstaat nichts zu tun. Da flüsterte er bloß: ‚Mensch, sei doch nicht blöd, du wirst doch entlassen. Je länger du nichts isst, umso länger zieht sich das hinaus.‘ Da habe ich wieder angefangen. Und auch eine andere Zelle erhalten. Die war hell, hatte zwei Pritschen und sogar ein Klo.

Wie lange saßen Sie darin?

Etwa 3 Wochen. Dann wurde ich rausgeholt und in ein Büro gebracht. Da saß mein letzter Vernehmer wieder vor mir.

Und die Verhöre gingen von vorne los?

Am Anfang klang es so, aber dann sagte er: Sie werden gleich abgeholt.

Wann war das?

Am 29.Oktober 1966.

Über ein Jahr nach ihrer Verhaftung. Wer hat Sie abgeholt?

Ein Mitarbeiter aus dem Büro Vogel. Er fuhr mich in die Kanzlei. Dort hat Vogel mich in sein Mercedes gesetzt und wir sind zusammen durch den Übergang Invalidenstraße in den Westen gefahren. Ohne jeden Halt. Die Posten haben nur salutiert und den Schlagbaum hochgehoben.

Ist er selbst gefahren?

Ja.

In seinem berühmten Mercedes.

Ja.

War der wirklich gold?

Naja, so goldgelb.

Hat er irgendwas zu Ihnen gesagt?

Nein. Aber ich etwas zu ihm. Ich habe ihm gesagt, wissen Sie, Herr Vogel, ich würde mir wünschen, dass das eines Tages in beide Richtungen wieder so möglich ist, ohne jede Kontrolle.

Was hat er darauf gesagt?

Nichts.

Wo hat er Sie hingefahren?

Es ging in den Grunewald, zum Haus des schwedischen Konsuls. Der hat mich in Empfang genommen und mir gesagt, dass mit der anderen Seite vereinbart wurde, über meine Freilassung Stillschweigen zu bewahren. Sonst wären andere Freilassungen gefährdet. Aber er sagte noch, ich habe eine erfreuliche Mitteilung für sie, Harry Seidel ist im letzten Monat freigelassen wurden. Er hat eine Verbindung zu ihm herstellen lassen und ich habe dann zum ersten Mal in meinem Leben mit Harry Seidel telefoniert. Wir haben uns gegenseitig zu unserer Freilassung beglückwünscht.

Wussten Sie damals schon, dass Sie von den Kommunisten an den Westen verkauft wurden?

Ja. Schon seit Rainer Barzel 1963 als gesamtdeutscher Minister maßgeblich den Freikauf politischer Gefangener eingeleitet hatte war mir das bekannt.

Seitdem herrschte in Deutschland ein florierender Menschenhandel?

Ich habe dann ja auch erfahren, dass für mich Waren im Wert von 90.000 DM an die Kommunisten im Osten geliefert wurden.

Ohne dass die Entspannungspolitik etwas daran änderte. Also kämpften Sie weiter.

Das wurde in den Siebzigern aber noch schwieriger.

Warum?

Mit dem ‚Wandel durch Annäherung‘ hatte sich im Laufe der Jahre im Westen Deutschlands die Einstellung der gesamten Politik, der Polizei und der öffentlichen Organe gewandelt. Auch die Medien ließen sich darauf ein, in dem sie zunehmend kritisch über Aktionen gegen oder an der Mauer berichteten. Jeder, der noch gegen sie und die, die sie errichtet hatten, kämpfte, wurde als ‚Kalter Krieger‘, ‚Extremist“, sogar ‚Neo-Nazi‘ beschimpft und mundtot gemacht, weil er die Politik der Entspannung gefährdete.

Obwohl die auch das Morden an der Mauer nicht beendete. Auch das Unrecht dahinter nahm weiterhin nicht ab. So führten Sie ihre Aktionen, trotz aller Behinderungen, unbeirrt weiter. Die nächste 1978.

Da habe ich für die Freilassung des Ostberliners Nico Hübner demonstriert. Er hatte den Wehrdienst verweigert und sich dabei auf den entmilitarisierten Status von ganz Berlin berufen. Dafür bekam er 4 Jahre Gefängnis. Ich bin wieder zum Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße gegangen und habe dort mit einem Plakat seine Freilassung gefordert.

Anders als zum 25. Jahrestages des Mauerbaus am 13. August 1986. Da haben Sie den Grenztruppen sogar Blumen überreicht. Hatten sie plötzlich ihre Einstellung geändert?

Ich bin damals wieder über die Grenze am Checkpoint Charlie gelaufen und habe den verblüfften Grenzern gesagt, ich möchte heute, am 25. Jubiläumstag des 13. August, den Grenztruppen der DDR Blumen überbringen. Da haben sie ganz große Augen gemacht, weil sie das wohl nicht glauben konnten. Bis ich noch dazu sagte: Ich möchte mich vor allem bei denen bedanken, die sich, trotz der schwierigen Situation, bisher geweigert haben, auf Deutsche zu schießen.

Da wurden Sie gleich wieder verhaftet?

Nein. Sie waren auch nicht mehr so parteichinesisch und selbstsicher wie früher. Sie haben sich eine Stunde lang in ungewohnter Form meine Meinung angehört, wie: ‚Die Mauer ist und bleibt Unrecht‘ und so. Ich bin danach zu befreundeten CDU-Politikern gegangen und habe denen gesagt, dass sich da was tut, da verändert sich was rapide. Wir sollten uns darauf einstellen. Wirklich geglaubt hat mir damals niemand, aber ich ahnte schon, das geht alles nicht mehr lange.

So wurde die nächste ihre letzte Aktion gegen die Mauer und ihre Erbauer.

Am 13. August 1989, dem 28. Jahrestag, bin ich auf die Idee gekommen, dass ich mich diesmal am Checkpoint Charlie mit einer weißen Binde über den Bauch so über den weißen Strich lege, dass die weiße Linie praktisch über mich verläuft. In einer Erklärung sagte ich, ich will damit deutlich machen, dass ich, trotz einem weißem Strich über meinem Körper, doch ein Ganzes bin. Und genauso ist Berlin ein Ganzes und ist auch Deutschland ein Ganzes. Dafür lag ich über drei Stunden da. Damit dieser anhaltende Irrsinn der Teilung unseres Landes endlich aufhört.

Lange dauerte es danach wirklich nicht mehr.

Ich habe den Grenzern, die auf der Ostseite aufmarschiert waren, schon an dem Tag zugerufen: ‚Strengt euch doch nicht so an. Den 30. Jahrestag werdet ihr nicht mehr erleben.‘ Da hat mich eine Journalistin gefragt ob ich das ernst meine. Ich sagte, wenn sie schon so oft und solange an der Mauer gestanden hätten wie ich, dann wüssten sie, was Sache ist. Ich gehe jede Wette ein, es gibt keinen 30. Jahrestag mehr. Und ich habe Recht behalten. Dass es dann nur noch 3 Monate dauerte, hätte aber auch ich nicht gedacht.

Heute sind die vielen Verbrechen der Kommunisten im Osten Deutschlands fast alle bekannt. Trotzdem wird noch immer öffentlich darüber debattiert, ob unschuldige Menschen einfach einzumauern, zu verhaften, zu verkaufen oder auf der Flucht zu erschießen, Recht oder Unrecht ist. Für eine zivilisierte Gesellschaft ist das doch eigentlich eine Schande. Wie geht es Ihnen dabei?

Ich erlebe das, was sich seit der Wiedervereinigung hier abspielt, mit Grausen. Die Täter sind dabei im Grunde alle davongekommen.

Sie führen heute in Deutschland sogar die Opposition an.

Während ihre vielen Opfer kaum noch jemand kennt.

Fragen Sie sich da manchmal, ob es die vielen Mühen wert war?

Wenn man etwas aus Überzeugung getan hat, also für eine gute Sache gestritten hat, dann tut man sich schwer damit, dass zu bereuen. Es ist immer gut, für eine gute Sache zu streiten. Und mein eigentliches Ziel habe ich ja erreicht.

Solange zu kämpfen, bis die Mauer fällt.

Damit habe ich etwas erlebt, was wenigen Menschen in ihrem Leben vergönnt ist. Dass man sich ein Ziel setzt und tatsächlich erlebt, dass dieses Ziel erreicht wird. Insofern war dieser Kampf nicht umsonst. Aber zu Ende ist er noch nicht. Der Kampf um die Freiheit ist eine latente Aufgabe.

Dann weiterhin viel Erfolg dabei. Danke für das Gespräch.

Torsten Preuß ist freier Autor.

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