Für die Berichterstattung über die Covid-19-Pandemie und die Schlussfolgerungen über Sinn von Maßnahmen gilt ein alter Begriff: the fog of war, der Nebel des Krieges.
Er bedeutet zweierlei: Erstens, dass Truppen auf dem unübersichtlichen Schlachtfeld oft die Orientierung verlieren und sich notgedrungen auf ihren Instinkt verlassen müssen. Ob ihre Entscheidung sich auszahlte oder nicht, wissen sie erst hinterher. Sie stehen trotz der Unübersichtlichkeit unter dem Druck, sich für die eine oder andere Richtung entscheiden zu müssen. Das heißt allerdings nicht, dass die Strategen im Hauptquartier besser dran wären. Sie bewegen sich durch den gleichen Nebel. „In der Strategie, wo alles viel langsamer abläuft“, schrieb Clausewitz, „ist den eigenen und fremden Bedenken, Einwendungen und Vorstellungen und also auch der unzeitigen Reue viel mehr Raum gegönnt, und da man alles erraten und vermuten muß, ist auch die Überzeugung weniger kräftig.“
Wobei wir bei einem besonders eindrücklichen Beispiel wären, nämlich Jennifer Wilton, Leiterin des Ressorts Titelthema der Welt am Sonntag, die von ihrer Beobachterinnenplattform feststellt, dass Frauen fast alles besser bewerkstelligen als Männer. „Ein Blick auf die Corona-Bewältigungsstrategien zeigt“, verkündet Wilton: „Weiblich regierte Länder meistern die aktuelle Situation besser.“ Als Beispiele führt sie Neuseeland an, das von einer Premierministerin regiert wird, Island, Taiwan, Dänemark, Finnland, Norwegen und Deutschland. Neuseelands Regierungschefin Jacinda Ardern, lobt Wilton, habe „ihrem Land jetzt Ausgangsbeschränkungen verordnet, die zu den härtesten weltweit gehören“, sie habe bereits einen Notfallplan gehabt, „als es dort noch kaum Corona-Erkrankte gab“, und „ihre Bevölkerung“ dazu gebracht, diesen Plan „bereitwillig zu respektierten. Ihres könnte eines der ersten Länder sein, in denen der Virus gestoppt wird“.
Mit Brecht möchte man fragen: Hat Ardern wenigstens eine Köchin bei sich? Die in der Tat sehr niedrigen Zahlen von Covid-19-Erkrankten in Neuseeland und Island dürften vor allem daran liegen, dass es sich um Inseln an der Weltperipherie handelt, abseits großer Verkehrsströme und ohne dicht besiedelte Städte. Außerdem noch am Zustand des Gesundheitssystems und an der Bereitschaft der Bevölkerung, Einschränkungen zu akzeptieren – wobei die Bevölkerung zu jeweils der Hälfte aus Männern und Frauen besteht.
In Südkorea liegt die Zahl der Toten ebenfalls sehr niedrig, in Singapur stieg die Zahl der Fälle vor allem in den Wohnheimen der aus Indonesien und Malaysia stammenden Arbeiter zwar an, beträgt aber am 22. April immer noch 12 (bei 5, 7 Millionen Einwohnern).
In Israel, weder Insel noch Halbinsel, steht die Zahl der Covid-Toten ebenfalls am 22. April bei auffallend niedrigen 191 (Bevölkerung: 8,9 Millionen). In Südkorea und Israel stehen allerdings Männer an der Staats- beziehungsweise Regierungsspitze, Singapur regiert ein Premierminister, während eine Frau das repräsentative Präsidentenamt innehat. In Israel regieren seit kurzem genaugenommen sogar zwei Männer, die sich die Macht teilen.
Dort, wo es vergleichsweise wenige Covid-19-Tote* im Verhältnis zur Bevölkerung gibt, lassen sich einige Gemeinsamkeiten feststellen: frühzeitige Quarantänemaßnahmen, relativ schnelle Identifizierung der Erkrankten, ein robustes Gesundheitssystem, die Bereitschaft der Bewohner, Distanzierungsmaßnahmen einzuhalten, in Ostasien das verbreitete Maskentragen, in Fällen wie Neuseeland und Island außerdem die für Pandemiefälle günstige Lage. Wie gut Länder mit Sars-CoV-2 zurechtkommen, hängt also von mehreren Faktoren ab, aber von einem bestimmt nicht: dem Chromosomensatz der Person an der Staatsspitze.
Deutschland verdankt seine relativ niedrige Totenzahl von 5.575 (stand 24. April) bei 83 Millionen Einwohnern jedenfalls nach jetzigem Stand vor allem zwei Faktoren: Zum einen der Anzahl von Intensivbetten pro Kopf, die deutlich höher liegt als etwa in Großbritannien oder den USA, und der Tatsache, dass es sich bei einer ersten großen Gruppen von Infizierten um Wintersportler handelte, die das Virus von den Pisten in Österreich und Südtirol mitgebracht hatten. Diese Kohorte zeichnete sich durch ein niedriges Alter und überdurchschnittlich gute Gesundheit aus. Es handelte sich also um eine Glückssträhne im allgemeinen Pandemieunglück. Beides, so sieht es aus, konnte offenbar bis jetzt die regierungsamtliche Fehleinschätzung über den Nutzen von Masken kompensieren, auch die späte Schließung der Grenzen.
Nicht auf Wiltons Beweisliste steht dafür Belgien, das Flächenland mit der weltweit höchsten Zahl von Covid-19-Toten im Verhältnis zur Einwohnerzahl, und regiert von einer Premierministerin. Vor Wilton hatte auch schon Jana Hensel in der Zeit versucht, Corona und die Geschlechterfrage kurzzuschließen. Die Redakteurinnen scheinen sich vor allem darum zu sorgen, dass und ob eines ihrer Lieblingsthemen die Pandemie überlebt, nämlich die Geschlechterfrage. Jedenfalls soll sie im fog of war nicht verschwinden.
Wilton von der WamS gehört auch zu den Berichterstatterinnen, die wissen, welche Maßnahmen jetzt ergriffen beziehungsweise aufrechterhalten werden müssen. Auch sie warnt, und zwar vor der Lockerung der Quarantänemaßnahmen in Deutschland, obwohl die in Aussicht gestellten Erleichterungen erst einmal in sehr kleiner Dosis kommen sollen.
„Die spürbare Erleichterung der vergangenen Tage ist trügerisch“, schreibt Wilton: „Es stimmt: Zu Hause bleiben zu können ist eine Sicherheit, die man sich leisten können muss. Viele können sie sich nicht leisten. Arbeitslosigkeit, Pleiten und Lebensbedrohungen jenseits der Pandemie müssen in alle Überlegungen mit einfließen. Wahr ist aber auch: Wenn es in einigen Wochen zu einer zweiten, größeren Welle an Infektionen kommt und darauf nur noch mit einem zweiten, womöglich härteren Lockdown reagiert werden kann, ist allen am wenigsten geholfen.“
Ihre Kollegin Rafaela von Bredow im Spiegel meint sogar: „Wissenschaftlich betrachtet ist es fatal, den Shutdown jetzt zu lockern. Er müsste sogar verschärft werden.“
In dem Text fällt die versprochene wissenschaftliche Betrachtung dann ziemlich mau aus. Von Bredow lobt Merkel dafür, dass sie als „Naturwissenschaftlerin“ über die Covid-19-Reproduktionszahl „lässig referiert“, und dass diese Zahl mit „R“ abgekürzt wird. Erhellendere Einsichten zum Reproduktionsfaktor gibt es bei ihr nicht, obwohl ihr eine ganze Seite für den Leitartikel zur Verfügung steht. Die kleinen Lockerungsschritte, zu denen sich die Ministerpräsidenten entschlossen haben, nennt sie „wissenschaftlichen Unsinn“, ohne das zu begründen.
Über die Untersuchung des Virologen Hendrik Streeck zu Covid-19-Erkrankungen und –Immunisierungen im Kreis Heinsberg gibt es einen heftigen wissenschaftlichen Disput, wie er übrigens auch bei anderen Themen unter Wissenschaftlern vorkommt. Über den Inhalt dieser Streeck-Studie (Durchseuchung höher als angenommen, daher Letalität rechnerisch geringer) erfahren die Spiegel-Leser bedauerlicherweise nichts. Dafür rügt von Bredow Streeck, weil er seine Ergebnisse „ohne Absicherung durch kritische Kollegen“ veröffentlicht habe. Aber genau dafür gibt es doch die Methode des öffentlich ausgetragenen Meinungsstreits. Übrigens werden auch Spiegel-Leitartikel nicht erst nach Gegenlektüre durch Journalisten anderer Medien veröffentlicht.
Der Autor dieses Textes gehört nicht zu denjenigen, die den beneidenswerten Überblick anderer über das Schlachtfeld besitzt. Er kämpft sich durch den Nebel und befasst sich, um Clausewitz noch einmal zu zitieren, mit „Bedenken, Einwendungen und Vorstellungen“.
Am 13. März, also noch vor der Stilllegung des öffentlichen Lebens in Deutschland (und übrigens genau an dem Tag, als sich der Virologe Christian Drosten für eine Schließung von Schulen und Kindergärten ausgesprochen hatte, die er vorher ablehnte), veröffentlichte ich den Text „Was wir von der Spanischen Grippe lernen können“. Dort versuchte ich den Nutzen von sozialer Distanzierung und Quarantänemaßnahmen zu erklären. Im Rückblick nach sechs Wochen spricht sehr viel dafür, dass Abstand, Hygienemaßnahmen und Masken helfen, um die Virusausbreitung zu bremsen. Es stellt sich die Frage, ob die zusätzlichen Maßnahmen – weitgehendes Herunterfahren der Wirtschaft und Ausgangssperren – tatsächlich den zusätzlichen Nutzen in der Pandemiebekämpfung bringen, der ihnen von der Regierung und etlichen Meinungsführern zugeschrieben wird.
Der sogenannte Reproduktionsfaktor, also die statistische Wahrscheinlichkeit, mit der ein Erkrankter einen anderen ansteckt, war schon vor dem Lockdown Deutschlands auf unter eins gesunken, also die Marke, die von etlichen Politikern und Virologen immer wieder als Wendepunkt zum Besseren genannt wurde. Der R-Faktor wird nicht gemessen, sondern rückwirkend geschätzt, es gibt auch hier die übliche Unsicherheit, die das Robert-Koch-Institut allerdings auch mit dem so genannten Konfidenzintervall transparent macht. Das bedeutet: Mit 95prozentiger Wahrscheinlichkeit liegt der R-Faktor in einem schmalen Korridor plus/minus einiger Zehntelprozent. Nach einer Veröffentlichung des Robert-Koch-Instituts vom 15.4.2020 sank der R-Höchstwert schon ab dem 11. März 2020; seit dem 20. März liegt er mit leichten Schwankungen unter 1. Damit erhöhte sich auch der so genannte Verdoppelungszeitraum der Infektionen auf deutlich über zehn Tage.
In ihrem Podcast vom 28. März hatte Merkel noch angedeutet, ab einem Verdoppelungszeitraum über 10 Tagen könnten die Lockdown-Maßnahmen gelockert werden. Interessant ist auch der Blick auf die aktiven Covid-19-Fälle, also kumulierte Fälle abzüglich der schon Genesenen. Zwar gibt es zu beidem ein großes Dunkelfeld, also wieder Nebel. Aber dieses Dunkelfeld dürfte die Proportion der Kurven nicht völlig verändern. Österreich erreichte den Gipfel der aktiven Fälle am 3. April mit 9.004, seitdem fällt die Kurve stark (auf 2.738 am 23. April). In Deutschland erreichte die Zahl der aktiven Fälle am 6. April ihren Gipfel, und sinkt seitdem relativ gleichmäßig. (Übrigens, das aus vielen Gründen ganz anders gelagerte Neuseeland, siehe oben, passierte den Gipfel bei den Neuinfektionen am 5. April).
Dazu passt eine Untersuchung des israelischen Mathematikers Isaac Ben-Israel, der auch Israels Nationalen Rat für Forschung und Entwicklung leitet. Ben-Israel und sein Team analysierten Anstieg und Rückgang der Covid-19-Fälle zahlreicher Länder, und kamen zu dem bemerkenswerten Schluss, dass die Kurven einander überall stark gleichen.
Nach etwa 40 Tagen erreicht die Zahl der Fälle ihren Höhepunkt, danach folgt eine etwa 70tägige Abklingphase – und zwar unabhängig von Lockdown-Maßnahmen. Der Wissenschaftler betont den Wert der sozialen Distanzierung und der Quarantänemaßnahmen für Erkrankte. Er weiß natürlich um das Ziel, den zu schnellen exponentiellen Anstieg der Erkrankungen und damit die Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Der Mathematiker behauptet auch gar nicht, das ganze Bild der Pandemie zu kennen. Sein Kommentar lautet: „Die Zahlen sprechen für sich selbst.“ Möglicherweise übersieht er in dem Nebel auch Faktoren. Aber bisher konnte noch niemand darlegen, dass er sich fundamental irrt.
Auch dieses wichtige Ziel, das anfangs zu Recht immer wieder genannt wurde – das Gesundheitssystem nicht wie in Italien zu überlasten – wurde in Deutschland glücklicherweise erreicht. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts waren am 18. April von den 30.077 Intensivbetten in Deutschland 17.741 belegt, also 59 %; 12.336 Betten standen zu diesem Zeitpunkt frei.
Die Argumentation der Lockerungsgegner lautet: Kommt es zu einer zweiten Infektionswelle, dann würde sie natürlich von einer viel höheren Ausgangsbasis starten. Einen neuen steilen Anstieg könnten die Behörden wegen der Inkubationszeit und dem Meldeverzug bei Infektionen erst zwei Wochen später erkennen. Dann, so die Virologin Melanie Brinkmann in einem Spiegel-Interview, blieben „wieder nur drastische Maßnahmen im ganzen Land als Lösung“. Brinkmann meint auch, zur Normalität könnte die Gesellschaft erst zurück, „wenn es einen Impfstoff gibt“.
Allerdings gibt es einen Modellversuch gleich nebenan. In Österreich lockerte die Regierung ihre harten Eindämmungsmaßnahmen schon am 14. April. Wenn es dadurch einen deutlichen Anstieg der Infektionszahlen und schweren Erkrankungen gegeben hätte, dann müsste er sich jetzt bemerkbar machen. Die Zahl der täglich neu gemeldeten Infektionen geht allerdings weiter mit leichten Schwankungen zurück, und liegt stabil zwischen 75 und 80. Am 14. April lag sie noch über 140.
Die Zeit von gut vier Monaten seit Ausbruch der Pandemie lässt bei allem fog of war ein paar vorsichtige Schlüsse zu. Es gibt mittlerweile gute Gründe anzunehmen, dass neben Hygienestandards Social Distance, Grenzschließungen und das Tragen von Masken das Virus eindämmen, vor allem dann, wenn die Schritte früh ergriffen werden. Diese Maßnahmen wurden in Deutschland von offiziellen Stellen ziemlich lange unterschätzt. An dieser Stelle muss noch einmal daran erinnert werden, dass Gesundheitsminister Jens Spahn am 30. Januar verkündete: „Ein Mundschutz ist nicht notwendig, weil der Virus gar nicht über den Atem übertragbar ist.“ Die Tagesschau als halbamtliches Medium wiederholte die Falschnachricht, Masken würden bei Gesunden gar nichts nützen; das Robert-Koch-Institut brauchte fast einen Monat, um seine falsche Einschätzung zu korrigieren.
Der Weg von nützt nichts bis zur Maskenpflicht in Läden, in Bayern beispielsweise ab 27. April, zog sich natürlich auch deshalb wochenlang hin, weil öffentliche Stellen der Fehleinschätzung folgten und keine Masken bestellten. Lange hielten führende Politiker auch nichts von rigideren Grenzkontrollen; Flugzeugpassagiere aus hoch infizierten Ländern wie Iran und China konnten noch bis Anfang April unkontrolliert einreisen. Merkel, andere Politiker und viele Medien warnten also, um das Wort einmal zu verwenden, seinerzeit vor Schließungsdiskussionsorgien. Und zwar in einem Tonfall, der keinen Zweifel und kaum ein Abwägen kannte, also praktisch im gleichen Ton wie heute, nur mit umgekehrtem Vorzeichen.
Jetzt, mit der Erfahrung der vergangenen Pandemiemonate, spricht auch sehr viel dafür, dass die Führungspolitiker und -Kommentatoren die Wirkung der weitgehenden Wirtschaftsstilllegung überschätzen. Anders ist es kaum zu erklären, dass Südkorea, wo das Sars-CoV-2-Virus auch noch früher ankam, bei einer Bevölkerung von 51,64 Millionen insgesamt gerade 240 Covid-19-Tote zu beklagen hat (Stand 24. April), obwohl das Land nie sein öffentliches Leben lahmlegte – während Belgien bei einer Bevölkerung von gerade 11,46 Millionen bisher 6.679 Tote zählt (ebenfalls Stand 24. April), obwohl sich das Land seit 18. März in einem harten Lockdown befindet.
Das mag teilweise etwas mit der Definition der Covid-Toten zu tun haben, die aber nicht extrem abweicht. Der Schlüssel liegt darin, wo die Menschen sterben: In Belgien mittlerweile zu 70 Prozent in Alten- und Pflegeheimen, auch deshalb, weil lange Zeit Schutzausrüstung fehlte. Auch in Deutschland klagte der Vizepräsident des Robert-Koch-Instituts am 24. April, die Zahl der Toten würden hierzulande vor allem durch Covid-19-Ausbrüche in Alters- und Pflegeheimen nach oben getrieben. Deshalb warne er dringend vor weiteren Lockerungen der Maßnahmen.
Nur: Was genau hilft es einem gesundheitlich angeschlagenen Pflegeheim-Insassen, wenn die Cafés und viele Läden in der Fußgängerzone geschlossen bleiben, die dieser Mann aus dem Pflegeheim sowieso nie betreten würde? Könnte es sein, dass es sich bei der Forderung, den Lockdown jetzt trotzdem noch weitere Wochen durchzuhalten, um ein ähnlich magisches Denken handelt wie beim Glauben, das Geschlecht der Person an der Landesspitze hätte irgendetwas mit der Pandemiebewältigung zu tun?
Der Ökonom Hermann Heinrich Gossen und andere seiner Kollegen prägten im 19. Jahrhundert den Begriff des abnehmenden Grenznutzens. Er lässt sich auch auf außerökonomische Bereiche anwenden. Jeder kennt das Phänomen, wenn er gegen Schmerzen eine Tablette nimmt, vielleicht auch zwei. Sie brauchen eine halbe Stunde, bis sie wirken. Eine dritte bis sechste Tablette lindert den Schmerz aber nicht schneller und besser. Sie schaden höchstwahrscheinlich. Der Grenznutzen geht schon bei der zweiten gegen Null. So ungefähr könnte es sich auch mit vielen Shutdown-Maßnahmen verhalten: Manches wie Schulschließungen und Verbot größerer Ansammlungen hilft, aber viele Maßnahmen darüber hinaus wirken kaum noch zusätzlich gegen die Virusausbreitung.
Noch einmal: Bei Covid-19 handelt es sich um eine sehr ernst zu nehmende Erkrankung, nicht nur für Ältere. Zu den vielen Unbekannten im Nebel gehört auch die Frage, ob die verschiedenen Viren-Varianten mutieren können. Aber wären bei einem erneuten Aufflammen der Infektionen tatsächlich noch härtere Lockdown-Maßnahmen für die Wirtschaft das effizienteste Mittel? Oder doch nicht eher ein besserer Schutz für alle, die wegen ihres Alters oder chronischer Krankheiten zu den besonders Gefährdeten gehören?
Ein Rückfall durch ein erneutes Aufflammen der Infektionen ist möglich. Genau so wie eine zweite oder auch dritte und vierte Welle durch mutierte Virusvarianten (hier können Interessierte übrigens die genetischen Unterschiede der bisher festgestellten drei Virusvarianten A, B und C nachlesen). Oder eine neue Pandemie durch ein neues Virus, die morgen auftreten kann, aber auch 2030, früher, später oder nie.
Die Frage lautet also nicht, ob sich ein Risiko ergibt, wenn sich die Gesellschaft allmählich aus dem Stillstand heraustastet. Das gibt es auf jeden Fall. Die Frage ist: Wie geht die Gesellschaft mit diesen Risiken um? Selbst die Strategie, das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben so lange lahmzulegen, bis es einen Impfstoff und Medikamente gegen Sars-CoV-2 gibt, birgt ja das Risiko, dass diese Mittel zwar gegen die bekannten Virenvarianten wirken, aber nicht gegen neue. Der blinde Fleck, die unbeantwortete Frage in den Kommentaren der Härteste-Maßnamen-Riege lautet: Wie viel zusätzliche Sicherheit gewinnen wir durch die Ausdehnung des Lockdown? Und was verlieren wir dadurch?
Ihr Argument, es könnte eine zweite Welle kommen, ist nicht gegenstandslos. Aber es hatte im Juni, August oder Oktober nicht weniger Gewicht als jetzt. Nur würde es katastrophale Folgen haben, ein ganzes Land über Monate stillzulegen. Ab einem Punkt, der sich nicht genau bestimmen lässt, der aber nicht erst irgendwo im Jahr 2021 liegt, fordert die wirtschaftliche Zerstörung mit Sicherheit mehr Menschenleben und verursacht mehr Gesundheitsschäden als das Virus selbst.
Und eins lässt sich trotz des Nebels sicher sagen: Das Ziel, Covid-19-Tote und Langzeitgeschädigte zu verhindern, ist ethisch nicht wertvoller, als die rezessionsbedingte Zahl der Toten und gesundheitlich Langzeitgeschädigten möglichst klein zu halten. Beides ist gleich wichtig.
Als Sebastian Kurz nach Ostern die ersten Lockerungen der Quarantäne bekanntgab, tat er nicht so, als würde er alle Folgen schon kennen. Er sprach über das Risiko, dass die Infektionszahlen auch wieder steigen könnten. Dann, so Kurz, müssten Lockerungen eben zurückgenommen und andere verschoben werden. Er machte also öffentlich, was auch alle zweifelsfreien Überblicksstrategen eigentlich wissen: Es bleibt kein anderer Weg als der, sich Schritt für Schritt aus der Quarantäne zu tasten, Irrtümer eingeschlossen. Und sich dann mit Masken, mit Desinfektionsmitteln, mit Abstand und längerem Verzicht auf Großveranstaltungen mit dem Virus zu arrangieren, das nicht so schnell verschwinden dürfte.
Wem das Bild vom fog of war zu martialisch vorkommt, kann die Übung auch mit einem Bergabstieg bei dichtem Nebel vergleichen. Es geht nur in vorsichtigen kleinen Schritten. Notfalls muss das Bergsteigerkollektiv wieder zurück. Möglicherweise geht eine kleine Gruppe voran, um den Weg für die anderen zu testen. Welcher Weg der perfekte gewesen wäre, sehen sie erst später von unten aus der Entfernung, wenn sich der Nebel verzogen hat.
Es wäre ein Fortschritt, wenn nach der Pandemie mehr Beteiligte im Meinungsgeschäft den Unterschied zwischen Messung und Schätzung verstehen würden, zwischen Koinzidenz, Korrelation und Kausalität, und zwischen Sicherheit (langfristig sind wir alle tot) und Unsicherheit (sehr vieles andere).
Um noch einmal Clausewitz zu bemühen: „Es ist im Kriege alles sehr einfach, aber das Einfachste ist schwierig.“
*Als Covid-19-Toter gilt in Deutschland jeder, bei dem eine Sars-CoV-2-Infektion festgestellt wird. Eine Unterscheidung in Tod mit und Tod durch Sars-CoV-2 findet nicht statt. Allerdings fand in der Vergangenheit auch keine Unterscheidung statt, ob jemand mit oder an Influenza gestorben war.