Im Jahr 1991 feiert Europa nach Auflösung der Sowjetunion Offenheit, freien Warenverkehr und Freundschaftsfeste mit den Menschen Russlands und all der neuen Republiken. Mit Helmut Kohl in Berlin und Boris Jelzin in Moskau regieren joviale Charaktere, die sich in Geschäfte nicht einmischen, sondern sie ermöglichen wollen. Schon 1992 wird die – 1999 fertig gestellte – Jamal-Gas-Pipeline auf den Weg gebracht. Russische Firmen als Lieferanten und vor allem ihre deutschen Kunden sind die großen Gewinner. Weißrussland und Polen verdienen als Transitländer tüchtig mit. Niemand posaunt dauernd herum, dass Jamal ein rein privatwirtschaftliches Unternehmen sei. Das ist selbstverständlich und deshalb überflüssig. Zugleich eröffnet Jelzin die Archive mit den Akten zum Genozid vom Frühjahr 1940 an der polnischen Militär- und Bildungselite in Katyn und anderen Todeslagern.
Putin lässt Anhänger des Tschetschenentums nach Adressenlisten – wie 2022 im Kiew-Vorort Butscha – umbringen
1999 tritt Polen der Nato bei und gehört damit erstmals mit Gesamtdeutschland zum selben militärischen Bündnis. Doch Wladimir Putins Aufstieg zum Ministerpräsidenten Russlands führt noch im selben Jahr zur Entmachtung Jelzins. Schon 1998 verliert in Berlin Kohl die Macht an Gerhard Schröder. Putin beginnt umgehend seinen Genozid im – 1860 vom Zarenreich brutal unterworfenen – Tschetschenien. Die neue russische Verfassung erlaubt über Referenden Unabhängigkeit. Nur ein Prozent der Einwohner des kleinen Landes sind Russen. Jelzins Armee interveniert blutig, aber vergeblich. Putin jedoch lässt Anhänger des Tschetschenentums nach Adressenlisten – wie 2022 auch im Kiew-Vorort Butscha – umbringen. Männliche Jugendliche holt er noch vor dem Eintritt ins Kampfalter aus den Wohnungen und lässt sie ebenfalls ermorden. Es wird ein selten genau geplanter Völkermord. Typische Putin-Vorwände à la Vereinigung des Russentums oder Fernhalten des Westens fehlen gänzlich. Die Nato lässt ihm freie Hand. Schröder wird sein Freund.
2000 ist Putin russischer Präsident. Im selben Jahr schwört Gazproms Wjachirew öffentlich, dass er durch die Ukraine – und damit auch durch Polen – niemals mehr eine Pipeline bauen werde. Dennoch wird er 2001 gestürzt. Alexey Miller – mit Verbindungen zum organisierten Verbrechen – wird Chef und Ende 2005 Arbeitgeber Schröders.
Doch auch Putin kann das Zarenreich nur revitalisieren, solange er am Gas verdient. Sein imperialer Plan muss scheitern, wenn die deutschen Kunden seine blutige Entschlossenheit nicht mehr finanzieren können, weil Polen und die Ukraine nicht mitziehen. Es macht Putin nichts aus, dass nur Gerhard Schröder und sein Außenminister Joschka Fischer zu ihm überlaufen. Andere Europäer bleiben abseits oder protestieren sogar, aber nur die Kollaboration Berlins bringt ihm wirklich Geld. EON Ruhrgas et al. sollen mit profitablen Beteiligungen an der russischen Ölindustrie gelockt worden sein. Putin und Schröder sowie die Firmenchefs stellen das seit 2000 gerade nicht mehr geschäftliche Projekt in der Öffentlichkeit jetzt immer als rein privatwirtschaftliches Vorhaben hin. Nach der Fertigstellung von Nord Stream 1 und dem Berliner Machtwechsel im Jahr 2005 setzt Angela Merkel diese Tarnsprache für die deutsch-russische Operation gegen Polen und die Ukraine fort.
Deutschlands europäische Völkermorde begannen im September 1939 gegen Polen
Als Polens Außenminister Radek Sikorski 2006 den Putin-Schröder-Pakt mit dem Molotow-Ribbentrop-Pakt von 1939 vergleicht, ist man in Berlin indigniert. Die meisten Deutschen wissen zwar, dass ihr Land ab Juni 1941 mit dem Holocaust das tiefgreifendste Verbrechen der Geschichte begangen hat. Aber kaum jemand erinnert sich, dass Deutschlands europäische Völkermorde 22 Monate vorher im September 1939 gegen Polen beginnen. In der sogenannten Intelligenz-Aktion und danach in den AB-Aktionen werden die Hochschulabsolventen und übrigen Repräsentanten des Polentums ermordet, um die übrige Bevölkerung nach maximal vierjähriger Grundschule für deutsche Siedler als Sklaven dienen zu lassen.
Während Russen sogar noch bis in die ersten Putin-Jahre über ihre Massenmorde an Polen debattieren, bleibt Deutschland diesbezüglich stumm. Noch hat kein Kanzler oder Bundespräsident einen Polenbesuch mit den Worten begonnen: Wir stellen uns der Verantwortung für Auschwitz. Wir bekennen aber auch, dass Deutschland sich bereits mit dem antipolnischen Völkermord ab September 1939 aus der Zivilisation ausgeschlossen hat.
Die SPD setzt nach Merkels Abgang den Schröder-Putin-Pakt fort
2008 blockiert Angela Merkel den – auch von Putin abgelehnten – Nato-Beitritt der Ukraine. Doch 2018, Nord Stream 2 soll die Jamal-Pipeline überflüssig und damit Polen wehrloser machen, gibt es eine überraschende Kehrtwende bei der Sprachregelung. Merkel gesteht öffentlich, dass bei Nord Stream „natürlich auch politische Faktoren zu berücksichtigen sind“. 2020 kommt – nach vierjähriger Verheimlichung – heraus, dass Merkel den westlichen Gasbedarf für Nord Stream 2 nicht selbst berechnen ließ, sondern die weit überzogenen Zahlen aus Moskau still übernommen hat. Zusammen ergibt all das ein passables Geständnis zur Achsenpolitik gegen das Nato-Mitglied Polen und den Nato-Kandidaten Ukraine.
Gleichwohl plant die SPD nach Merkels Abgang eine Fortsetzung des Schröder-Putin-Pakts. Der neue Bundeskanzler Scholz besteht – gegen offene Vorhaltungen durch EU-Kollegen – noch am 17. Dezember 2021 darauf, dass Nord Stream 2 ein „rein privatwirtschaftliches Vorhaben“ sei. Im Juli 2022 schlägt Putin in Teheran die Aktivierung dieser Pipeline vor. Am 3. August 2022 fordert Gerhard Schröder – nach einem Moskau-Besuch – in Berlin ungeduldig das Anfahren von Nord Stream 2. Von seinem Altgenossen Scholz hätte jetzt kommen müssen: Gerhard, wir haben unsere Offensive gegen Warschau auf immer eingestellt. Stattdessen bekräftigt am 19. August Wolfgang Kubicki vom Scholz’schen Koalitionspartner FDP Schröders Forderung. Wiederum unterbleibt vom Bundeskanzler eine Beruhigung Polens oder der übrigen Europäer. Warschau wird deshalb auch nach Schröder und Merkel gegenüber dem westlichen Nachbarn seine Sorgen und Ängste nicht aufgeben können.
Gunnar Heinsohn (*1943; emer. Prof. Dr. phil; Dr. rer. pol.) hat von 1993 bis 2009 an der Universität Bremen Europas erstes Institut für vergleichende Völkermordforschung geleitet. 2011 hat er das Fach Kriegsdemographie am NATO Defense College (NDC) in Rom eingeführt und bis 2020 gelehrt.