Olga Skabejewa ist einer der Stars im russischen Staatsfernsehen. Die 35-Jährige, in Deutschland vor allem bekannt durch einen rabiaten Zusammenstoß vor laufender Kamera mit ARD-Doping-Enthüller Hajo Seppelt, spricht vor einem Millionenpublikum seit Jahren das aus, was die zuständigen Apparatschiks im Kreml bei ihren wöchentlichen „Leitungsrunden“ mit den Chefs der TV-Sender vorgeben. Was Skabejewa diese Woche zu Nord Stream 2 zu sagen hatte, dem zweiten Strang der Ostsee-Pipeline, ließ deshalb auch viele in Russland und der Ukraine aufhorchen. Moskau werde die Pipeline viel schneller fertig stellen als geplant, und zwar nächstes Jahr. Und dann, so Skabejewa, „werden wir die Ukraine umbringen“. Wobei das russische Wort „грохнуть» (grochnut), das sie verwendete, auch mit „zerstören“ oder „bombardieren“ übersetzt werden kann.
Wo auch immer man bei der Übersetzung von Skabejewas Worten den Schwerpunkt setzt – eindeutig sind sie nicht freundlich und stehen für einen Angriff. Darum geht es regelmäßig in der Talkshow „60 Minuten“, die Skabejewa zweimal täglich mit ihrem Ehegatten Jewgenij Popow moderiert. Erst im Dezember wurde dort den durchschnittlich drei Millionen Zuschauern, darunter auch vielen Russischsprachigen in Deutschland, suggeriert, dass die Ukraine kurz davor stünde, Russland den Krieg zu erklären. Die Atmosphäre im Staatsfernsehen, das vielen als Seismograph für die im Kreml gilt, ist kriegerisch (siehe auch hier).
In Deutschland wurde Skabejewas Ankündigung kaum wahrgenommen. Und so hinderte sie Kanzlerin Angela Merkel (CDU) auch nicht, die umstrittene Ostseepipeline am Freitag gegen den erheblichen Widerstand anderer EU-Länder durchzudrücken. Die Leitung ist ein Lieblingsprojekt von Russlands Präsident Wladimir Putin, der noch vor seinem Einzug in den Kreml 1999 schrieb, dass Bodenschätze der Hebel seien, um Russland wieder zu alter Größe zu bringen. Seither hat er mehrfach Energielieferungen als Druckmittel gegen Nachbarländer eingesetzt. Unter anderem ließ er der Ukraine am 1. Januar 2006 das Gas abdrehen – mitten im eiskalten Winter. Europaweit kam es zu Problemen mit der Energieversorgung. Deutschland, Frankreich, Italien, Polen, Österreich, Ungarn, Rumänien und die Slowakei meldeten einen 14- bis 40-prozentigen Rückgang der gelieferten Gasmenge.
„An sich war der Vorgang legitim“, schrieb Monate später in Berlin Roger Köppel, damals Chefredakteur der Welt. Moskau habe nur deshalb einen „Image-GAU“ erlebt, weil es keine „Erklärungsoffensive“ machte und die Russen „böswillig missverstanden“ würden: „Nach dem von der EU blauäugig mitorchestrierten Wahlsieg eines Putin-Gegners in Kiew reagierte der Kreml, wie alle Regierungen handeln würden, wenn sie sich einem feindselig gestimmten Regime gegenübersehen“, schrieb er: „Man beschloss, die politisch motivierten Preisrabatte aufzuheben und das Gasprom-Gas nach Marktpreisen anzubieten. Womit die Russen nicht gerechnet hatten, war die Heuchelei der Europäer.“
Ganz anders die Frankfurter Allgemeine: „Rohstofflieferung als Waffe, das kannte man bisher vor allem aus dem Nahen Osten – und selbst dort hat seit den siebziger Jahren kein Staat mehr gewagt, Forderungen an das Ausland mit der Unterbrechung von Öl- und Gaslieferungen Nachdruck zu verleihen“, schrieb das Blatt. Das „rüde, die Erpressung kaum verschleiernde Auftreten Russlands“ gebe zu denken.
Das Verhalten Russlands sei Vertragsbruch, beteuerte Ex-Putin-Berater Illarionow: „Russland nutzt Gas als politische Waffe. In einem Abkommen aus dem Jahr 2004 sicherte Moskau Kiew nicht nur günstige Gaspreise bis 2009 zu, sondern garantierte auch, den Bedarf der Ukraine voll zu decken. Dieser Vertrag lag mir im Kreml vor. Eine einseitige Ausstiegsklausel ist darin nicht enthalten.“ Solche Gas-Krisen könnten sich jederzeit wiederholen, mahnte der Kremlinsider. Die Gefahr liege darin, dass Russland ein Tabu gebrochen habe, warnte auch der frühere Moskauer Vizeenergieminister Wladimir Milow: „Gas dreht man nicht zu.“
Als sich in Deutschland damals erste Angst vor dem Frieren breit machte, forderten Politiker verschiedener Lager Altbundeskanzler Schröder auf, sich als Vermittler in den Konflikt einzuschalten: Schließlich hatte er immer auf seinen Einfluss auf Putin verwiesen und beteuert, der könne im Ernstfall helfen. Doch Schröder schwieg. Und trat wenig später seinen Posten bei der Gasprom-Tochtergesellschaft an, die Betreiber der Ostseepipeline ist.
Diese Vorgeschichte ist wichtig, um die aktuelle Auseinandersetzung um den Bau eines zweiten Strangs der Ostsee-Pipeline zu verstehen. Ihre Unterstützer machen geltend, sie schütze Deutschland vor einem Szenario wie dem 2006 mit der Ukraine, da die Bundesrepublik auch bei Konflikten Russlands mit Nachbarländern weiterhin direkt Gas aus Russland bekommen könne. Kritiker hingegen führen an, Deutschland mache sich damit abhängig von russischem Gas und könne genauso erpresst werden wie 2006 die Ukraine. Zudem verletze Deutschland die EU-Regeln für Solidarität bei der Energieversorgung; sie mache die osteuropäischen Staaten, insbesondere die Ukraine, erpressbarer. Außerdem gefährde sie eine ihrer wichtigsten wirtschaftlichen Existenzgrundlagen der rohstoffarmen Ukraine: Die Transitgebühren.
Russische Oppositionelle wie die Umweltaktivisten Jewgenija Tschirikowa im estnischen Exil gehen noch weiter: Mit dem Gas-Deal mit Moskau liefere Deutschland Putin die Milliarden, die er für seinen Krieg in der Ukraine brauche. Deutschland, so die Mahnung der Kreml-Kritiker, sei damit ein Komplize Putins und mache sich mitschuldig an den Toten an der Frontlinie in der Ostukraine – und möglichen künftigen militärischen Aktionen Putins.
ZDF-Hauptstadt-Korrespondent Andreas Kynast sieht das anders, und rief am Freitag ganz im Sinne Merkels zum Bau der Pipeline auf: Es handle sich gar nicht um ein „ russisches Projekt , (…) sondern ein russisch-deutsch-niederländisch-französisches“. Der ZDF-Mann weiter: „Dass Deutschland „aus der Erzeugung von Kohle-Energie aussteigen will, wird in Zukunft mehr Erdgas brauchen als früher. Die Fördermengen in Norwegen und den Niederlanden gehen zurück. Es ist vernünftig, nach Alternativen zu suchen. Russisches Erdgas ist die politisch umstrittenste Lösung, aber die wirtschaftlich günstigste.“ Kynast verweist aber nicht darauf, dass Russland vermehrt auf Atomkraftwerke – und im Zweifelsfall auch Kohle – setzt, um die für den Export nach Deutschland wachsende Gas-Menge für den Inlands-Gebrauch zu ersetzen. Kritiker sprechen deshalb von einer Energiepolitik nach dem Sankt-Florians-Prinzip: „Ich schalt meine Atomkraftwerke ab, schalte andere an.“
Anders als ZDF-Mann Kynast sieht Energie-Expertin Claudia Kemfert keine Notwendigkeit für das Projekt: „Die Energieversorgung ist auch ohne Nord Stream 2 sicher. Wir benötigen die Pipeline nicht. Im Gegenteil: Die zusätzliche Pipeline Nord Stream 2 ist umweltpolitisch schädlich, betriebswirtschaftlich unrentabel und – wie jetzt offensichtlich – auch politisch fatal. Deutschland isoliert sich mit der Unterstützung dieses fragwürdigen Projekts zunehmend und sollte die Haltung korrigieren. Das Projekt ist energiewirtschaftlich unnötig, der Verzicht hätte viele Vorteile.“
Kemfert sieht keinen wirtschaftlichen Nutzen durch das Projekt für Deutschland. Im Gegenteil, die Bundesrepublik mache sich weiter abhängig: „Die zusätzlichen Gasimporte aus Russland würden Importe aus anderen Ländern verdrängen. So werden europäische Länder erpressbar. Deswegen hat sich die Energieunion zum Ziel gesetzt, die Gasbezüge zu diversifizieren und verstärkt auf verschiedene Gaslieferanten zu setzen. Ohne Not klinkt sich Deutschland hier aus.“
Unterstützung bekommt Merkel von einer breiten Koalition von rechts bis links, von der AfD über die Grünen bis zur „Linken.“ Ex-Umweltminister Jürgen Trittin von den Grünen etwa verteidigt die Pipeline energisch: „Das Grundargument, man würde sich von den Russen abhängig machen, ist falsch. Pipelinegas führt zu einer gegenseitigen Abhängigkeit, weil die Bindung zwischen Produzent und Konsument groß ist.“ In Moskau sehen das nicht alle so. „Wenn wir euch das Gas abdrehen und die Deutschen frieren, machen sie der Regierung die Hölle heiß, wenn wir keine Export-Erlöse mehr haben, traut sich bei uns trotzdem keiner auf die Straße“, sagte einmal ein ranghoher Kreml-Apparatschik im Vier-Augen-Gespräch offen.
Der Grüne Trittin macht auch Bedenken gegen die USA geltend: „Es gibt in Washington einen All-Parteien-Konsens, dass Nord Stream böse ist – so wie damals auch die alte Leitung durch die Ukraine böse war…. Es geht darum, stattdessen amerikanisches Flüssiggas nach Europa zu exportieren. Wir haben es hier eben nicht mit einem bloßen politischen Streit zu tun, auch wenn die Amerikaner das gerne vorgeben. Es geht um massive ökonomische Interessen, um America First in der Energiepolitik. Das darf Europa sich nicht zu eigen machen.“
Pipeline-Gegner halten dagegen, dass die Bundesrepublik mit ihrer kaum funktionsfähigen Bundeswehr die nationale Verteidigung de facto an die NATO, also insbesondere die USA, delegiert habe. Und Washington damit ein vitales Interesse habe, dass nicht zusätzliche Milliarden aus Deutschland in die Kassen des Kremls gelangen, der im Staatsfernsehen schon mal Generäle von der Eroberung Washingtons schwadronieren lässt.
Kritik an Merkels Kurs kommt ausgerechnet aus den eigenen Reihen. Der Europa-Parlamentarier Elmar Brok (CDU) klagte, Deutschland sei bereits heute zu 50 Prozent von russischem Gas abhängig, und nach dem geplanten Kohleausstieg würde diese Abhängigkeit noch wachsen. Die Politik der Bundesregierung sei „seit Jahren einseitig, ohne Rücksicht auf die mehrheitliche Ablehnung in der EU und vor allem die Sicherheitsbedenken unserer osteuropäischen Nachbarn“, beklagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU). Berlin sei in der Frage „isoliert“. Auch Frankreich hatte sich zwischenzeitlich von dem Projekt abgewandt – Paris stellte laut Röttgen „das Gut der europäischen Einheit und Handlungsfähigkeit über die Solidarität mit Deutschland.“
Erst in letzter Sekunde konnte Merkel Paris offenbar mit Druck zum Einlenken bewegen: Zu einem Kompromiss, der offiziell verhindern soll, dass Gasprom seine Marktmacht ausnutzt – aber das Grundproblem nicht löst, wie Energieexpertin Kemfert beklagt: „Gasprom produziert, fördert und transportiert Gas nach wie vor und bleibt zudem auch im Besitz strategischer Gasspeicher in Europa.“
Umso erstaunlicher ist es, mit welchem enormen Eifer Angela Merkel, die einst in sowjetischen Donezk einen Sprachkurs besuchte, das Lieblingsprojekt von Putin und Gasprom durchboxte. „Kanzlerin drückt Nord Stream 2 durch“, titelte Spiegel Online: „Um den Widerstand gegen Nord Stream 2 zu brechen, ist die Bundesregierung in Brüssel äußerst robust vorgegangen. Kanzlerin Merkel zeigt, wie wichtig ihr die Gaspipeline ist – und riskiert den Zorn von US-Präsident Trump.“
Lange hat die Bundesregierung Nord Stream 2 damit gerechtfertigt, man wolle Moskau Garantien abringen, auch weiterhin im großen Umfang Gastransit durch die Ukraine zu betreiben. Pustekuchen, wie Moskau jetzt, einen Tag nachdem Merkel das Projekt durchsetzte, ohne jede Schamfrist klarmachte: „Wenn dem Projekt Hindernisse bereitet werden, um Russland zu zwingen, Gas durch die Ukraine zu ihren Bedingungen, zu ihren Tarifen und mit Ungewissheiten in juristischen Dingen zu pumpen, dann wird diese Nummer wahrscheinlich nicht klappen“, sagte Vize-Außenminister Alexander Pankin sagte in einem Interview mit der staatlichen Nachrichtenagentur Ria Novosti. Weiter erklärte er: „Wir sind bereit, den Gastransit fortzusetzen, aber unter den Bedingungen, die wir möchten“. Einige deutsche Medien machten aus diesen Worten eine „Zusicherung Moskaus“, weiter Gas durch die Ukraine zu leiten; Kreml-Kritiker sehen es als kaum verhohlene Drohung, genau das nicht mehr zu tun.
Hierzulande sind immer noch viele der Meinung – ja nach Standpunkt zustimmend oder verurteilend – Merkel stünde gegen Putin und für die Ukraine. Sieht man sich aber mehr ihre Taten an als ihre Worte, kommt man zu einem anderen Eindruck – spätestens seit knapp zwei Jahren. Es war Merkel, die die NATO-Aufnahme der Ukraine 2008 maßgeblich verhindert hat. Die Sanktionen waren nie wirklich kritisch für Putin und hätten viel schmerzhafter ausfallen können. Merkel hat mit der Minsk-Vereinbarung de facto Moskaus Position in der Ukraine zementiert. Nach dem Angriff auf ukrainische Schiffe in der Meerenge von Kertsch Ende vergangenen Jahres lag es auch an ihr, dass keine Strafmaßnahmen verhängt wurden.
Der Schulterschluss Berlins mit Moskau über die Köpfe der Osteuropäer hinweg, ist im Falle Nord Stream 2 offensichtlich. Merkel, die sich so gerne als große Vereinigerin Europas feiern lässt, spaltet es in Wirklichkeit auf schwer zu reparierende Weise. Auch ihre angeblich kremlkritische Linie entpuppt sich zunehmend als verbale Nebelgranate. In der Ukraine und anderen Osteuropäischen Ländern weckt die enge Zusammenarbeit Berlins mit Moskau die Angst, in einen Zangengriff der beiden Länder zu geraten – 80 Jahre nach dem Hitler-Stalin-Pakt, bei dem beide Osteuropa untereinander aufteilten. Die aktuelle Entwicklung dürfte radikale Stimmungen beflügeln – solche, wie sie offenbar die Bertreiber einer ukrainischen Brauerei erfasst hat, die ein Bier mit dem Konterfei von Angela Merkel vertreiben – unter dem Namen „Frau Ribbentrop“.