Als ich für meinen letzten Artikel Norbert Lammerts schulmeisterliche Rede zur Eröffnung der 16. Bundesversammlung noch einmal nachhörte, stieß ich auf weitere aufschlussreiche Beiträge des hoch gelobten Bundestagspräsidenten – und musste wieder einmal feststellen, wie wichtig das Internet als Erinnerungshilfe ist.
Debatte über die Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes
Folgende Situation: In der Bundestagsdebatte im Februar 2010 über die Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr waren die Abgeordneten der Partei Die Linke aufgestanden und hatten etwa 50 Plakate, auf denen die Namen und Daten der Opfer des umstrittenen Luftangriffs bei Kundus (4.9.2009) standen, hoch gehalten, um dem Plenum die Folgen einer weiteren Ausweitung und Verlängerung des Krieges vor Augen zu führen. Als sie ihre Aktion trotz Norbert Lammerts Mahnung „Ich bitte Sie, unverzüglich die Spruchbänder herunterzunehmen!“ nicht beendeten, verwies der Präsident sie unter großem Beifall des Saales, dem die gesamte Fraktion nach einigem Abwarten still Folge leistete.
Hans-Christian Ströbele bittet um das Wort: Es sei zu erwarten, dass der Bundestag gegen die große Mehrheit der Bevölkerung wieder einen Kriegseinsatz für ein Jahr beschlösse. Er sei selber zur Zeit des Anschlags in Afghanistan gewesen und habe mit Angehörigen der auf deutschen Befehl Getöteten gesprochen. Er stelle sich nun vor, diese bekämen Kenntnis davon, wie die Verantwortlichen für den Einsatz mit den Opfern umgingen. Der Präsident solle sich doch bitte überlegen, ob man weiter ohne Die Linke diskutieren wolle. Die Aktion sei keine nachhaltige Störung der Sitzung gewesen und komme wahrscheinlich einem Wunsch aus der Bevölkerung sehr nahe. „So weiter zu verhandeln, halte ich für unwürdig.“
Norbert Lammert macht langatmig darauf aufmerksam, dass alle Fraktionen die Unvereinbarkeit des Hauses mit solchen Demonstrationen beschlossen hätten. (Beifall) Er habe bereits angekündigt, dass er im Wiederholungsfall den Ausschluss anordnen werde. „Das Vorgehen ist unter Berücksichtigung unserer Geschäftsordnung und der Übereinkunft aller Fraktionen des Hauses alternativlos.“ Umständlich reitet er immer weiter auf der „Geschäftsordnungslage“ herum, liest sie anschließend vor und schließt mit den Worten: „Es hat immer einen Konsens darüber gegeben, dass die Regeln dieses Hauses ausnahmslos für alle gelten.“ (Beifall) „Und wir haben die Unverzichtbarkeit dieser Regeln auch im Bewusstsein der historischen Erfahrung für unabdingbar gehalten (Beifall), dass ein deutsches Parlament an dem leichtfertigen Umgang mit den selbst gesetzten Regeln bereits einmal gescheitert ist.“ Der Vergleich mit Weimar ist hier wirklich unangebracht.
Der Hintergrund
Lammert hat in der Sache natürlich Recht, was der Linksfraktion laut eigener Aussage auch bewusst war. Sie sind jedoch die einzige Partei, die sich stets gegen die zunehmenden „humanitäre Friedensmissionen“ der Bundeswehr im Ausland und immer wieder gegen Aufrüstung und Waffenlieferungen ausgesprochen hat.
Seit Ende 2001 – man glaubt es kaum – sind deutsche Soldaten in Afghanistan präsent. Viele Milliarden sind geflossen, über 50 Soldaten fanden den Tod – und die Taliban sind so stark wie zuvor. Was für ein halbes Jahr geplant war, wurde für die Bundeswehr zu einem viele Jahre dauernden Einsatz mit Verwundeten und Gefallenen. Bei dem unter Oberst Georg Klein befohlenen umstrittenen Bombardement zweier Tanklaster waren im September 2009 an die 140 Menschen, darunter zahlreiche Zivilisten, getötet oder verletzt worden. Oberst Klein hatte den Luftschlag befohlen, weil er nach seiner Einschätzung fürchten musste, die durch die Taliban gekaperten Laster sollten als Bomben eingesetzt werden. Die Umstände des Befehls sind umstritten geblieben. Oberst Klein wurde frei gesprochen und später zum General befördert.
„Ich stehe sehr bewusst hinter dem Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten, der Polizisten und zivilen Helfer in Afghanistan“, hatte die Bundeskanzlerin bei der Trauerfeier für drei in Afghanistan getötete Soldaten gesagt. Die deutschen Soldaten leisteten ihren Dienst in Afghanistan, „weil wir verhindern wollen, dass Terroristen uns hier in Deutschland treffen.“
Erinnern wir uns: Wäre Angela Merkel zur Zeit des Irak-Kriegs schon Bundeskanzlerin gewesen, hätte sie auch dort an dem militärischen Angriff im Sinne einer „Friedensstiftung“ teilgenommen. In einer Rede vor dem Bundestag 2002 geißelte sie mit großen Worten die „Alleingänge“ und die „Verantwortungslosigkeit“ von Kanzler Schröder: „Deutschland ist das größte Land in Europa. Und deshalb ist besonders hier eine Politik der Verantwortlichkeit gefragt und nicht eine Politik, die das Fähnchen nach den Meinungsumfragen morgens nach dem Wind hängt.“ (Die Meinung der Bürger interessiert mich nicht, könnte man interpretieren. Ich folge lieber den US.)
Die Aktion als letztes Mittel der Partei DIE LINKE?
Die Aktion im Bundestag legt ganz klar einen Zwiespalt offen: Die deutsche Bevölkerung steht in ihrer großen Mehrheit nicht hinter den sich ausweitenden Auslandseinsätzen, aber das interessiert offensichtlich nicht. So sieht sie ihre Meinung im Parlament in den meisten Fällen nur von dieser einen Partei vertreten, der eine überwältigende Mehrheit an Befürwortern gegenüber steht, gegen die sie keine Chance hat. Seit langem steht auch der „Parlamentsvorbehalt“ – also die Entscheidungshoheit des Bundestags über Auslandseinsätze – „ungehindertem Handeln“ im Wege. Es ist bereits von dessen Abschaffung die Rede.
Die Frage drängt sich auf, ob durch Norbert Lammerts ausufernd begründetes Beharren auf korrekter Durchführung der Regeln letztendlich nicht der eigentliche todernste Anlass für die Plakat-Aktion unter einem Berg von Beschlüssen zu verschwinden drohte. Denn gegen den Strom zu schwimmen – das liegt Lammert so fern, wie er sich nicht vorstellen kann, die Meinung andersdenkender „Populisten“ überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Wie so oft bringt er die „historische Erfahrung“ ins Spiel, ohne zu bedenken, dass Bürokratie und bedingungsloser Gehorsam zur Bewältigung der Expansionspolitik und der Vernichtungspläne im „Dritten Reich“ unverzichtbar waren. Joachim Gauck hat bekanntlich 2014 auf der Münchner Sicherheitskonferenz für eine stärkere militärische Einmischung in der Welt mit dem Aufruf plädiert, Deutschland dürfe sich nicht mehr hinter seiner „historischen Schuld“ verstecken. Die „historische Schuld“ ist halt immer dabei – je nachdem, wofür sie gerade in den Dienst genommen werden kann.
Frieden schaffen mit Waffen?
Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung gab es plötzlich keinen bedrohlichen Gegner mehr, und große Hoffnungen auf „Wandel durch Annäherung“ (Egon Bahr), friedliche Ko-Existenz und fruchtbare Handelsbeziehungen flammten auf. Doch was passierte? Anstatt sich von der Weltbühne zurückzuziehen, wurde die Bundeswehr nun zunehmend für „friedenserhaltende“ und „friedenssichernde“ Interventionen außerhalb der Bundesrepublik eingesetzt. Norbert Lammert würdigte die Bundeswehr zum 50. Jahrestag ihres Bestehens als Grundpfeiler der internationalen Sicherheitspolitik und als „Friedensarmee“.
Das erinnert an Gerhard Schröders abstruse Ankündigung des Jugoslawien-Krieges am 24.3.1999 im Fernsehen: „[…] Der jugoslawische Präsident Milosevic führt dort einen erbarmungslosen Krieg. Wir führen keinen Krieg, aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen.“
Die noch immer im Internet abrufbare WDR-Doku „Es begann mit einer Lüge“ spricht da eine ganz andere Sprache. Und 15 Jahre (!) später gab Gerhard Schröder in einer ZEIT-Matinée den Völkerrechtsbruch offen zu: Nämlich die Bombardierung eines souveränen Staates ohne Mandat des Sicherheitsrats der UNO. Die Bundeswehr ist seitdem von einer Armee zur Landesverteidigung zunehmend zu einer weltweit operierenden NATO-„Friedensarmee“ zur „Abwehr von Terror“ geworden. Augenblicklich ist Deutschland mit etwa 15 Auslandseinsätzen und rund 3.200 Soldaten international im Einsatz.
Doch aufgeklärte Bürger wollen sich nicht mehr derart verbiegen lassen. Jeder Krieg beginnt mit einem Vorwand, mit einer Lüge – um die Bevölkerung zur Unterstützung zu bewegen. Das haben wir beim Irak-Krieg deutlicher denn je gesehen. Die Mächtigen können ihre Strategien noch so sehr als „Friedensaktionen“ umschreiben. Der mündige Bürger weiß: „Humanitäre Interventionen“ bringen weder Frieden noch Sicherheit, sondern erzeugen Zerstörung, Tod von Hunderttausenden, menschliches Elend und – Fluchtbewegungen, deren Folgen die Bürger dann allein „schaffen“ sollen. Die materiellen und seelischen Kosten, die Folgen von Entwurzelung, Heimatverlust und Braindrain werden einzig und allein den Bevölkerungen auferlegt. Kriege zur „Terrorbekämpfung“ schaffen neuen Terror. Und Aktionen für die Sicherheit haben immer nur neue Unsicherheiten, Chaos und tödliche Gefahren verursacht. Das können wir überall beobachten.