Das Corona-Virus hat aus „social distancing“ ein Allermundewort gemacht. Es geht dabei ja um die 1, 5 bis 2 Meter, die wir voneinander Abstand halten sollen. Das ist auf Dauer genauso unerträglich wie das Gegenteil: Menschen, die uns buchstäblich auf den Leib rücken.
Wenn man zwei Meter Abstand von jemandem hält, signalisiert man normalerweise, dass man keinen Kontakt möchte. Wenn man jemandem auf den Leib rückt, ist man aufdringlich und unverschämt. Anthropologen haben herausgefunden, dass 50 bis 75 cm die richtige Entfernung für zwei Menschen sind, die miteinander kommunizieren möchten. Diese richtige Entfernung zeigt sich als Ungezwungenheit im Umgang miteinander.
„Die soziale Geste des Distanzierens
verträgt sich schlecht
mit den Usancen der Massendemokratie.“
Was man Respekt und Manieren nennt, erspart uns die Unhöflichkeit, den anderen mit einem „Bleib mir vom Leib!” auf Distanz zu halten. Kulturanthropologisch führt das bis zum Berührungstabu zurück. Und es gilt auch für die metaphorische Übertragung auf das Geistige: Wenn man mit einer Meinung oder einer Idee nichts zu tun haben will, sagt man, dass man sich davon distanziert.
Grenzwert: Die Unnahbarkeit des Herrn
Das wird besonders sichtbar in den Drohgebärden der Kriminellen, die sich dann Aug‘ in Aug‘, Stirn an Stirn gegenüberstehen. Aber auch das Gegenteil ist ein Ausdruck von Macht: die anderen sich nicht nahen zu lassen, den Zugang zum Machthaber zu erschweren. Den Grenzwert dessen bildet die Unnahbarkeit des Herrn – eine Qualität, die man früher Aura oder Charisma genannt hat. Heute kennen wir das nur noch von den Superstars der Unterhaltungsindustrie und den Spitzenpolitikern. Der Prominente ist nämlich immer auch der Eminente.
Distanz ist aber, erstens, unvereinbar mit der Masse, ihrer Leidenschaft und ihrer Begeisterungsfähigkeit. Hier kann man die gute Masse, die wir suchen, wenn wir ins Fußballstadion oder zum Rock-Konzert gehen, unterscheiden von der schlechten Masse, die uns aufgezwungen wird, wenn wir etwa U-Bahn fahren oder auf die Abfertigung eines Fluges warten. Im einen Fall sucht man das Bad in der Menge, im andern Fall wird man von den Peinlichkeiten unerwünschter Nähe gequält. Und natürlich ist, zweitens, Distanz auch unvereinbar mit Intimität. Dabei geht es nicht nur um die Sphäre der Erotik. Was Social Distancing von uns ja verlangt, ist der Verzicht auf Handschlag, Umarmung, oder die Vertraulichkeit des ins Ohr Flüsterns. Die Welt wird erst in Ordnung sein, wenn wir unser Leben wieder in den drei Registern der Existenz führen können: Intimität, richtige Entfernung und Rangordnung.
Dieser Beitrag von Norbert Bolz erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur, der wir für die freundliche Genehmigung zur Übernahme danken.