Nicht die Inhalte des von russischen Spionen aufgezeichneten und „geleakten“ 38-Minuten-Gesprächs von vier hohen Bundeswehroffizieren sind der eigentlich GAU. Denn dieses Gespräch plätschert im Grunde ohne großen Neuigkeitswert vor sich hin. Kerninhalt: Mit dem Marschflugkörper Taurus könnten die Kertsch-Brücke vor der Krim und russische Munitionsdepots zerstört oder beschädigt werden; eine direkte deutsche soldatische Beteiligung sei nicht erforderlich, allenfalls eine Art Support in Sachen Taurus-Schulung ukrainischer Soldaten. Allerdings dauert es dann wesentlich länger bis die Waffe eingesetzt werden kann. Außerdem könnten britische und französische Raketenexperten in der Ukraine vor Ort helfen. Wir haben dazu auf TE am 2. März berichtet.
Nein, es geht um mehr. Es geht um Deutschlands Sicherheit, vor allem um Deutschlands Sicherheit gegen die neue, vierte Dimension von Krieg: nach dem herkömmlichen Krieg zu Lande, zu Wasser und in der Luft den Krieg im Cyberraum. Dass sich Deutschland obendrein lächerlich macht, wenn es zwar eine Fregatte ins Rote Meer schickt, aber es dort bald an Munition fehlt und ein erfolgloses „friendly fire“ gegen eine US-Drohne abzieht, lassen wir mal so stehen. Ebenso wollen wir an dieser Stelle nur erwähnen, dass die Bundesnetzagentur seit geraumer Zeit gezielte Störungen der GPS-Satellitennavigation im nordöstlichen Luftraum über oder angrenzend zu deutschem Hoheitsgebiet beobachtet. Mit größter Wahrscheinlichkeit ausgehend von Moskau.
Aber lassen wir das beiseite und widmen uns kurz zwei bislang nicht analysierten Auffälligkeiten in der Chronologie der Abhöraffäre. Erste Auffälligkeit: Das abgehörte Gespräch fand am 19. Februar statt. Der ins abgehörte 4er-Gespräch einbezogene Brigadegeneral Frank Gräfe, Abteilungsleiter Einsatz im Luftwaffenkommando, war offenbar aus einem Hotel in Singapur zugeschaltet. Er war vermutlich in Singapur, weil dort vom 20. bis 25. Februar 2024 die „Singapur Airshow“ mit 600 Ausstellern, darunter etwa 30 deutsche, stattfand. Zweite Auffälligkeit: Dieses „geleakte“ Gespräch fand am 19. Februar statt, also drei Tage vor der Debatte vom 22. Februar im Bundestag um die Frage der Lieferung von „Taurus“ in die Ukraine (Antrag der CDU/CSU-Fraktion).
Diese Chronologie lässt neben den Inhalten des 4er-Gesprächs und der benutzten Kanäle aufhorchen. Hier bedarf es eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, in dem es dann auch grundsätzlich um Deutschlands Sicherheit und Deutschlands Verlässlichkeit innerhalb der NATO geht. Die CDU/CSU hat angekündigt, dass sie einen solchen Untersuchungsausschuss haben will. Klar, das gehört zur Klaviatur der Opposition. Will die CDU/CSU-Fraktion das wirklich, so muss sie beantragen, dass sich der Verteidigungsausschuss – abweichend von Artikel 44 GG und gemäß Artikel 45 Abs. 2 und 3 – zum Untersuchungsausschuss erklärt. Dafür braucht die CDU/CSU-Fraktion ein Viertel der 38 Stimmberechtigten im Verteidigungsausschuss. Das sind gerundet 10 und damit exakt so viele, wie die CDU/CSU-Fraktion dort Mitglieder stellt.
16 Fragen, die umgehend einer Antwort bedürfen
Wir sind nicht die Opposition, aber als Staatsbürger und Steuerzahler hätten wir gerne Antworten auf einige 16 Fragen:
- Diente dieses Gespräch der Vorbereitung des Verteidigungsministers oder des Bundeskanzlers auf die Bundestagsdebatte am 22. Februar? Was wurde an Pistorius und/oder Scholz weitergegeben?
- Warum nahm der Bundeskanzler nicht an der Debatte am 22. Februar teil? Wie ist das Herumeiern des Verteidigungsministers am 22. Februar zu verstehen?
- Warum beharrt der Bundeskanzler weiter auf seiner Begründung, eine Lieferung von Taurus würde Deutschland zum Kriegspartner machen? Obwohl das 4er-Gespräch eine aktive Beteiligung Deutschlands an Taurus-Einsätzen in der Ukraine ausschloss.
- Wie definiert die Bundesregierung eine – so Kanzler Scholz – zu vermeidende direkte deutsche Kriegsbeteiligung in der Ukraine? Ist sich die Bundesregierung sicher, dass der russische Präsident eine solche Beteiligung nicht willkürlich so oder so definiert?
- Wo befanden sich die vier Gesprächsteilnehmer während des 38-Minuten-Gesprächs?
- War außer Brigadegeneral Gräfe noch jemand zu dieser Zeit in Singapur? Was war der Zweck der Reise nach Singapur?
- Welcher Kanal wurde genutzt?
- Trifft es zu, dass sich ein russischer Agent von sich aus in das Gespräch eingeloggt hat?
- Liegen Erkenntnisse vor, dass Moskau weitere solcher Gespräche ausgespäht hat?
- Warum ging(en) der/die Teilnehmer in Singapur für dieses Gespräch nicht in die halbwegs abhörsichere deutsche Botschaft in Singapur?
- Wie und von wem werden Bundeswehrangehörige in Sachen Abhörsicherheit geschult? Fand eine solche Schulung auch unmittelbar vor der Reise nach Singapur statt, wo sich zur „Singapur Airshow“ nicht nur Tausende von Militärs und Industriellen, sondern auch Tausende von Spionen tummelten?
- Sind für die Schulung zuständig das Bundesamt für Militärischen Abschirmdienst (BAMAD; 1.500 Bedienstete; Etat: 163 Mio.) oder der Cyber- und Informationsraum der Bundeswehr (CIR; 14.000 Bedienstete) inkl. Informationstechnikbataillon 381 in Storkow (800 Bedienstete)? Sind diese Dienste dafür hinreichend qualifiziert? Ist die seit 11/2020 amtierende Chefin des BAMAD, Martina Rosenberg, dafür hinreichend qualifiziert; sie war vor ihrer Ernennung zur BAMAD-Chefin durch die damalige Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer (CDU) rund zwanzig Jahre lang nicht mehr mit Spionageabwehr befasst. Ist der/die zunächst in Storkow tätige und dann nach Bonn versetzte Oberstleutnant Anastasia Beifang (vormals Marc Biefang) zumal nach seinen dienstlich gerügten Einlassungen über Erfahrungen mit Darkrooms ein mögliches Sicherheitsrisiko gewesen?
- Findet zwischen diesen Dienststellen und dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) auch in der Frage der militärisch relevanten Cyber- und Spionageabwehr ein intensiver und qualifizierter Austausch statt? Das BSI untersteht dem Bundesinnenministerium. Der damalige BSI-Chef Arne Schönbohm war von Innenministerin Nancy Faeser Ende 2022 strafversetzt und durch Claudia Platter, vormals Generaldirektorin für Informationssysteme in der EZB, ersetzt worden.
- Liegen Erkenntnisse darüber vor, ob russische Geheimdienste vertrauliche Informationen über Verstrickungen des Bundeskanzlers Scholz in die WireCard-Affäre haben?
- Wie schätzt die Bundesregierung die Wahl des Zeitpunkts ein, zu dem Moskau das abgehörte Gespräch mit knapp zwei Wochen Verzögerung veröffentlicht hat?
- Wie gedenkt die Bundesregierung die Friktionen aus der Welt zu schaffen, die vor allem bei den Nato-Verbündeten Großbritannien und Frankreich durch leichtfertige Aussagen des Kanzlers über britisches und französisches Militärpersonal in der Ukraine entstanden sind? Der britische „Telegraph“ spricht von Berlins größtem Sicherheitsloch seit Ende des Kalten Krieges.
Müssen „Köpfe rollen“?
Weitere Fragen werden sich ergeben. Jetzt schon steht die Frage an, ob „Köpfe rollen“ müssen. Den Verteidigungsminister Pistorius, der als politisch Verantwortlicher für den GAU steht, wird Scholz nicht opfern können. Denn wen hat er dann für dieses Amt? Dilettanten hat er in der Mehrzahl der Bundesministerien ohnehin schon genug. Also wird es das eine oder andere Bauernopfer geben. Wer muss „d’ran“ glauben? Generalleutnant Gerhartz, Brigadegeneral Gräfe, MAD-Chefin Martina
Rosenberger, CIR-Chef Vize-Admiral Thomas Daum? Putin hat schon mal den Krimsekt kaltgestellt.
Irgendetwas Sichtbares muss – neben massiven Reformen zu Ertüchtigung der „Dienste“ – jedenfalls passieren. Aber allein mit einer Entlassung oder Ruhestandsversetzung wird Deutschland Sicherheit nicht besser.