Tichys Einblick
Schaufenster-Politik

Neun-Euro-Ticket: Experten rechnen mit „abschreckenden Zuständen“

Mit dem Neun-Euro-Ticket können die Deutschen bundesweit den öffentlichen Nahverkehr nutzen. Doch schon die Ausnahmen zeigen, dass die Aktion der Bundesregierung kein Beitrag zur Lösung ist – sondern neue Probleme schafft.

IMAGO / MiS

„Kotz durchs Fenster“. Mit diesem unfreundlichen Slogan übersetzten deutsche Hoteliers und Gastronomen einst den Namen der Organisation „KdF“, die im Nazi-Staat billige Urlaube für „Volksgenossen“ anbot. Diese waren an Orten wie Konstanz, Westerland oder dem Schloss Neuschwanstein nicht ausschließlich gerne gesehen: Denn sie brachten meistens wenig Geld, dafür aber schlechte Manieren mit. Wie es dann zur Wortschöpfung „Kotz durchs Fenster“ gekommen ist, kann sich jeder selbst erklären.

Nun steht der Sommer 2022 an und der bringt das „Neun-Euro-Ticket“ mit sich. Eigentlich soll es Berufspendler dazu bringen, das Auto stehen zu lassen und die Freuden des öffentlichen Nahverkehrs zu entdecken, um dann für immer dem Dämon auf vier Rädern abzuschwören. Mit den so weniger verbrauchten Rohstoffen soll Wladimir Putin in die Pleite getrieben und der Krieg in der Ukraine beendet werden. Das ist der Plan. Ein wenig zugespitzt formuliert – vielleicht. Aber das ist tatsächlich die Idee hinter dem Neun-Euro-Ticket.

Jetzt ein Blick auf die deutsche Realität: Wann testet man ein Ticket, das Menschen überzeugen soll, sich im Berufsverkehr künftig anders zu verhalten? Richtig. In der Urlaubszeit. Die ersten öffentlich diskutierten Pläne handeln dann auch nicht davon, künftig das Auto stehen zu lassen, um zum Beispiel von Mainz-Weisenau nach Astheim mit dem öffentlichen Nahverkehr zum Arbeitsplatz zu fahren. Das sind dann zwei Stunden statt 20 Minuten. Pro Strecke. Aber was macht man nicht alles, um Putin in die Knie zu zwingen.

Nur: Öffentlich diskutieren Nutzer bereits andere Pläne. Als die Bundesregierung die Details zum Neun-Euro-Ticket veröffentlichte, trendeten auf Twitter sofort die Hashtags: „#Sylt“ und „‚#9EuroTicket“. Dahinter steckt die Idee, die Insel mit Hilfe der günstigen Bahnkarte zu „fluten“. Also in Massen an dem Platz aufzutauchen, den die Auserlesenen für sich reserviert sehen. Ein Nutzer baute ein Meme, ein Bild, auf dem zu sehen ist, wie ein Sturm die Insel bedroht. Dazu der Spruch: „Reisende auf 9-Euro-Tickets mit Dosenbier“. Kotz durchs Fenster lässt grüßen.

Die Sylt-Aktion vereint im Scherz linke wie rechte Nutzer. Die einen wollen die Reichen stören, die anderen die Aktion der Bundesregierung torpedieren. Davon abgesehen wird das Neun-Euro-Ticket nicht unkompliziert. Was in der Idee den Testkunden ein einfaches Reise-Erlebnis bescheren sollte, macht sie vertraut mit dem Tarifdschungel in Deutschland: Das Ticket gibt es für jeweils 9 Euro für die Monate Juni, Juli und August. Aber es gilt nur im Nah- und Regionalverkehr. ICE, EC und IC sind davon ausgeschlossen. Zudem beteiligen sich nach übereinstimmenden Medienberichten ausländische Unternehmen wie Thalys nicht an dem Ticket, ebenso wie das Privatunternehmen Flix nach derzeitigem Stand nicht mitmachen soll. So genannte Museumsbahnen sind ebenfalls von dem Neun-Euro-Ticket ausgenommen.

Was den eigentlichen Zweck des Tickets betrifft, das Umsteigen der Berufspendler auf den öffentlichen Nahverkehr, kommen Zweifel auf. Dass der Preis zeitlich nur begrenzt lang so niedrig ist, wissen die Pendler. Bevor sie ihr Auto also allzu schnell verkaufen, werden sie sich vorher schon informieren, was die Monatskarte normal kostet. Spoiler-Alarm: deutlich mehr als 9 Euro, Tendenz steigend. Und dann müssen Strecken, die nicht auf dem Arbeitsweg liegen, noch extra bezahlt werden. Soll das Ticket seinen Zweck erfüllen, sind es also die Umstände, die den Pendler vom Umstieg überzeugen müssen.

Wer einen längeren Weg zur Arbeit hat und wer nicht gerade an Knotenpunkten wie Bahnhöfen lebt, für den bedeutet öffentlicher Nahverkehr oft ein deutlich höherer Zeitaufwand. Zumal die deutschen Industrie- und Gewerbegebiete in der Regel viel seltener vom Nahverkehr angefahren werden als die Innenstädte.

Hinzu kommt das Problem mit der Auslastung. In Städten und Kreisen, in denen die Schülerbeförderung über den öffentlichen Nahverkehr organisiert wird, gibt es schon jetzt entsprechende Stoßzeiten, in denen sich in Bahnen, vor allem aber in Bussen, kaum noch ein Platz findet. Dieses Problem könnte sich verstärken, fürchten die Fahrgastverbände. Vor allem in der Testphase, wenn das Neun-Euro-Ticket den öffentlichen Nahverkehr preislich interessant macht.

Deswegen hat sich „Pro Bahn“ (PB) dafür ausgesprochen, die Fahrradmitnahme auf stark genutzten Strecken zu verbieten, solange das Neun-Euro-Ticket gilt. Das sei der einzige Weg, „noch mehr Chaos zu verhindern“, wie PB-Sprecher Karl-Peter Naumann in der Rheinischen Post gesagt hat. Doch da winkt das Bundesverkehrsministerium ab. Die Idee des praktischen Tickets trifft jetzt auf deutsche Bürokratie: Wenn der Fahrgast normal ein Dauerticket hat, das die Mitnahme des Fahrrads erlaubt, dann darf er es auch weiterhin mitnehmen. Wer als Neukunde ein Neun-Euro-Ticket erwirbt oder wer ein Abo hat, das die Fahrradmitnahme ausschließt, der muss prüfen, ob auf den Strecken, die er nutzen will, ein partielles Verbot für Fahrräder vorliegt. Verstanden? Falls nein. Das normale Tarifsystem der Bahn ist genauso kompliziert.

Ohnehin fragt sich Pro Bahn, ob das Neun-Euro-Ticket „zu Ende gedacht“ sei. Naumann fordert die Bahn daher auf, zusätzliche Züge einzusetzen: „Ohne zusätzliche Regionalzüge, die mit Regionalisierungsmitteln bestellt werden müssen, erwarten wir hier chaotische und abschreckende Zustände.“ Die zusätzlichen Züge sollten eher auf touristisch gefragten Strecken fahren. Denn vor allem dort rechnet Pro Bahn mit dem zusätzlichen Andrang.

Das Chaos könne schon zu Pfingsten einsetzen, befürchtet die Bahn-Gewerkschaft EVG: „Ich rechne mit Räumungen überfüllter Züge und wegen Überlastung gesperrten Bahnhöfen“, sagte der EVG-Vorsitzende Klaus-Dieter Hommel. Die Unternehmen seien nicht ausreichend auf den Andrang der Kunden vorbereitet. So seien die Züge von Dresden nach Bad Schandau zum Beispiel schon jetzt an jedem Wochenende überfüllt.

Das Neun-Euro-Ticket könnte denn auch ein „kurzes Strohfeuer“ werden, fürchtet der rheinland-pfälzische CDU-Chef Christian Baldauf. Statt dem kurzfristigen Anreiz brauche es langfristige Investitionen. Denn: „Der gesamte Nahverkehr ist massiv unterfinanziert. Die Verkehrsträger sind schon jetzt übervoll“, sagt Baldauf. Vor allem müsse die Infrastruktur ausgebaut werden. Auch würde er ein 365-Euro-Ticket fürs ganze Jahr vorziehen. Dann würden Verbraucher dauerhaft entlastet und der öffentliche Nahverkehr eine breitere Kundenschicht erhalten.

Rheinland-Pfalz ist ein Beispiel für das von Baldauf beschriebene grundsätzliche Problem mit der Infrastruktur: Durch das Land führt die Nord-Süd-Achse. Mit Folgen für die Menschen am Mittelrhein. Denn die Strecke wird für den Güterverkehr gebraucht. Tag und Nacht. Allerdings bringt das entsprechenden Lärm mit sich. Aber auch mit Folgen für den Verkehr: Die starke Auslastung der Strecke erschwert den weiteren Umzug des Güterverkehrs auf die Schiene oder die Möglichkeiten zusätzlicher Passagier-Verbindungen. Doch zusätzliche Strecken sind nicht in Sicht. Wenn sie kämen, wäre es interessant, wie die Grünen in Hessen und Rheinland-Pfalz, wo sie jeweils an der Regierung beteiligt sind, zu neuen Brücken über den Main oder die Mosel stehen.

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