Neukölln war Deutschlands schlechteste Lage. Bis 1989. Die Mauer grenzte den Berliner Stadtteil im Osten ein – der Flughafen Tempelhof im Westen. Hier zogen Leute hin, die anderswo aus rassistischen Motiven heraus nur schwer Wohnungen fanden: die „Gastarbeiter“. Vor allem die aus der Türkei. Mit einem Schlag wurde dann aber aus der Randlage die Stadtmitte und es begann das, was Experten „Gentrifizierung“ nennen, Menschen mit Geld ziehen her und verdrängen so die Menschen ohne Geld. Dieser Prozess ist in Neukölln nach über 30 Jahren immer noch nicht abgeschlossen.
Deswegen leben in Neukölln zwei unterschiedliche Welten Tür an Tür – oder präziser: Straßenzug an Straßenzug. Im Süden, nahe des stillgelegten Flughafens, macht es sich Soja-Sören chic. Seine Eltern und Großeltern haben ihm mit ihrer Arbeit ein sorgenfreies Leben beschert. Im Norden lebt Yassin. Erst war es sein Großvater, der nach Deutschland zog. Mit ihm kam Yassins Vater, damals selbst noch ein Kind. Die Erträge ihrer Arbeit haben nur für einen bescheidenen Wohlstand gesorgt: Längst nicht jedes Kind schläft in einem eigenen Zimmer, Yassin muss selbst arbeiten und hat früh eine eigene Familie gegründet.
Von den Menschen zwischen 18 und 24 Jahren ist immer noch 36 Prozent vom Geld der Familie oder von staatlichen Transfers abhängig. Mehr als jeder dritte junge Volljährige kann demnach nicht für sich selbst sorgen. Das Statistische Bundesamt führt diesen Trend darauf zurück, dass immer mehr sich gegen eine Lehre und für ein Studium entscheiden – räumt aber auch ein, dass immerhin 6,8 Prozent der Menschen zwischen 15 und 24 Jahren weder in Bildung noch Beruf ist. Während der Pandemie war der Anteil noch höher.
Fehlende Berufschancen scheiden als Grund dafür aus, dass der Teil der jungen Menschen größer wird, der nicht arbeitet. „Die Jugenderwerbslosigkeit in Deutschland hat sich binnen 15 Jahren halbiert“, teilt das Statistische Bundesamt mit. Auch die aktuellen Ausbildungszahlen zeigen, dass jeder eine Lehrstelle bekommt, der eine will. Vorausgesetzt er ist ausreichend gut ausgebildet – aber das ist ein anderes Thema.
Stattdessen lautet das Thema: Junge Menschen, die von anderen leben und welche, die aus eigener Kraft überleben können. Hier gehen die Wege von Yassin und Soja-Sören auseinander. Und auch die von ihren Frauen. Türkinnen bekamen im Jahr 2010 ihr erstes Kind im Schnitt mit 22,2 Jahren, wie eine Studie des deutschen Familienministeriums ergeben hat. Deutsche Frauen waren 2011 im Schnitt schon 29,0 Jahre alt, wenn sie ihr erstes Kind bekommen haben. Bis 2021 ist dieses Durchschnittsalter auf 30,1 Jahre gestiegen, wie das Statistische Bundesamt mitgeteilt hat.
Die Familienentwicklung von türkischen Einwanderern ist nur schlecht erforscht, räumt das Bundesinstitut für Familienforschung ein. Das Institut selbst hat vor acht Jahren Zahlen und Erkenntnisse zusammengetragen. Ein Ergebnis dieser Studie lautet, dass kulturelle Einflüsse zäher und langlebiger sind, als das Anhänger von Multikulti gerne propagieren. Das gilt auch fürs innerdeutsche Verhältnis. So war im Osten 25 Jahre nach der Wiedervereinigung die Zahl unehelich geborener Kinder deutlich höher als im Westen, wo die uneheliche Geburt als verpönt galt, als die Kirchen in der alten BRD noch eine wichtige Rolle spielten.
Laut dem Bundesinstitut für Familienforschung dauert es mehrere Generationen, bis sich das Geburtenverhalten türkischer Einwanderinnen dem deutscher Frauen nähert. Umso besser die Frau gebildet ist, desto schneller geht es. 2015 bekamen jedenfalls noch 44,9 Prozent der Türkinnen hierzulande drei oder mehr Kinder – bei den deutschen Frauen traf das aber nur auf 13,9 Prozent zu.
Ebenfalls ein Ergebnis der Studie: Für türkische Einwanderinnen spielen die in Deutschland lebenden und die in der Türkei lebenden Türken als Heiratsmarkt eine deutlich größere Rolle als die Deutschen, die sie hierzulande kennenlernen. Vereinfacht ausgedrückt: Es ist viel wahrscheinlicher, dass sie Yassin heiraten, statt Soja-Sören.
Wer mit dem ersten Kind wartet, bis sie über 30 Jahre alt ist, die kann sich Soja-Sören als dessen Vater leisten. Bis dahin wird er schon eine Stelle gefunden haben: an irgendeinem Institut für Politikwissenschaften, als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag oder sogar als gut bezahlter „Aktivist“ in einer NGO. Bevor Soja-Sören Vater wird, hat Yassins Ältester schon Rechnen und Schreiben gelernt – und Yassin selbst Verantwortung übernommen.
In Neukölln leben Yassin und Soja-Sören nebeneinander her. Sie sind leicht zu unterscheiden. Nicht nur wegen der Haut- und Haarfarbe. Sondern wegen der Attitüde. Yassin tritt als 24-Jähriger mit der Selbstsicherheit und Abgeklärtheit eines Mannes auf, der schon lange Verantwortung trägt. Soja-Sören mit der Unsicherheit dessen, der seine Kindheitsphase in die Länge zieht. Er rempelt auf der Straße Leute an, beleidigt sie, droht ihnen eine Schlägerei an – und ruft die Polizei, wenn die Angepöbelten nicht weglaufen. Denn seine Konflikte soll jemand anderes austragen. So war es sein ganzes Leben lang. Und wenn Mami nicht da ist, muss halt die Polizei kommen.
Soja-Sören ist erst als 20-Jähriger nach Neukölln gezogen. Es ist für ihn eine passende Kulisse, in der seine verlängerte pubertäre Rebellion spielen kann. Yassin ist hier groß geworden. Für ihn sind Arbeit, begrenzte Budgets und zu enge Wohnungen keine Sozialromantik – passend zum Soziologieseminar im zwölften Semester – sondern seine Kindheit. Seine Realität.
Deutschlands Arbeitskräftemangel hat viele Gründe: Ein Staat, der 3,9 Millionen erwerbsfähigen Menschen mit dem Bürgergeld den Lebensstandard von Menschen bietet, die tatsächlich arbeiten. Immer häufiger Menschen, die zu schlecht ausgebildet sind, obwohl sie neun oder zehn Jahre die Schule besucht haben. Oder eine unkontrollierte Einwanderung, die darauf setzt, dass ein Land mit umfassenden Sozialleistungen aber hohen Steuern und Abgaben nicht für schlecht ausgebildete Arbeitsscheue, sondern für gut qualifizierte Leistungswillige interessant sei. Soja-Sören im 13. Semester Philosophie aufwärts ist nur ein weiterer Grund für den Arbeitskräftemangel in Deutschland – aber halt eben doch ein Grund.