Laut Grundgesetz ist Deutschland ein demokratischer Bundesstaat – das entnimmt der aufmerksame Beobachter schon dem Namen „Bundesrepublik“. Genau das scheint man in Bundespolitik und Medien jedoch weitgehend vergessen zu haben. Und so herrscht allgemeine Überraschung, dass die Konferenz im Kanzleramt dieses mal nicht zur harmonischen Durchwink-Veranstaltung verkommen ist. Noch bevor Kanzlerin Merkel und Berlins Bürgermeister Müller vor die Presse treten, spricht diese bereits von einem „großen Streit“ und „Riesen-Krach“. Die Ministerpräsidenten proben den Aufstand gegen die Kanzlerin, heißt es. Als ob Dissens zwischen Bund und Ländern in einem föderalen System nicht völlig normal sein sollte. Doch nach Monaten einer Coronapolitik von oben herab ist es in der Tat eine kleine Sensation, dass die Zeit des diktierten Konsens anscheinend vorbei ist.
Das hat wohl auch das Kanzleramt so nicht erwartet. Dort erarbeitete Papiere sahen zunächst radikale Maßnahmen vor. Wenn es nach Merkel gegangen wäre, sollten sich Kinder zum Beispiel mit nur einem Freund treffen dürfen. Selbst Grundschüler sollten jederzeit Maske tragen müssen, auch auf dem Schulhof. Und auch für Erwachsene würde gelten: Wer Erkältungssymptome zeigt, müsste sich direkt in mindestens fünftägige Quarantäne begeben. Eine Woche Isolationsurlaub, weil die Nase läuft: Man merkt, dass viele Politiker und „Experten“ nie in einem Betrieb gearbeitet haben.
„Man muss sich das mal vorstellen – dort sitzen alle Ministerpräsidenten zusammen, seit drei, vier Stunden. Das Papier wird richtig auseinandergenommen, da wird richtig rumgezickt“, kommentiert die Bild-Zeitung. Deren Vize-Chefredakteur Paul Ronzheimer ist „völlig verwirrt“ im Angesicht der im Laufe der letzten 24 Stunden insgesamt drei kommunizierten Kanzleramtspapiere: „Ich frage mich, ob Helge Braun eigentlich weiß, was in seinen eigenen Papieren steht.“
Das ganze als „rumzicken“ zu betiteln, scheint leider angemessen. Noch vor der Pressekonferenz berichten Medien über einen absurden Streit zwischen Berlins Bürgermeister Müller, Chef der Ministerpräsidentenkonferenz, und der Kanzlerin. Merkel, offensichtlich frustriert darüber, dass die Länder ihr die Gefolgschaft verweigern, giftet in Richtung Müller, er würde doch „auch mal durch Berlin gehen“. Müller entgegnet, im Tiergarten habe er „noch keinen mit einer Pizza oder einem Döner nachts gesehen“. „Sie gehen doch Abends auch die langen Schlangen vor dem Lieblingsdöner am Ku’Damm entlang“, meint daraufhin die Kanzlerin. Dieses brillante Döner-Duell unserer Staatsführung ist wahrscheinlich mit gemeint, wenn Merkel anschließend in der Pressekonferenz von „ausführlichen und intensiven Beratungen“ spricht.
Markus Söder, der aus München in Sachen Corona seit Monaten schon „die Zügel fester anziehen“ will und schon im Sommer davon sprach, dass die zweite Welle „da sei“, stimmte die Deutschen auf eine Verlängerung und weitere Verschärfung der Anti-Corona-Maßnahmen über das Monatsende hinaus ein. „Ich habe wenig Hoffnung, dass Ende November alles wieder gut ist“, sagte Söder. „Im Zweifel müssen wir auf Sicherheit setzen.“ Die heutigen Beratungen seien „kein großer Wurf“ gewesen. Denn völlig überraschend wurde die Kanzlerin vom Föderalismus erwischt. Dieses mal hat sich mit ihrem absolutistischen Diktieren der Corona-Politik gehörig verrannt. „Das Ding ist abgesoffen“ konstatiert Bild-Reporter Peter Tiede: „Die Volkserziehung ist hier heute gescheitert“.
Doch wenn die Kanzlerin beim nächsten mal auch auf die Egos von Müller und Laschet achtet, wird es wohl wieder wie geölt laufen. Das hat Bayerns MP Söder auch durchblicken lassen: In einer Woche wird man wohl sicher zu einer Einigung kommen. Dieser grundgesetzkonforme Aussetzer in der Corona-Reglementierung wird also hoffentlich ein Einzelfall bleiben – nicht, dass die Länder der Kanzlerin bei der Rettung des Landes nochmal mit ihren blöden verfassungsmäßigen Kompetenzen vor den Karren fahren.