Was ist die NATO heute? Ein Relikt des Kalten Krieges, das den Schuss der Auflösung des Warschauer Paktes nicht gehört hat? Oder eine nach wie vor aktuelle Allianz von derzeit 30 Mitgliedstaaten, die sich gemeinsam gegen die Gefahren einer im Umbruch befindlichen Welt wappnen wollen? In der Tat hat die nordatlantische Allianz einen weiten Weg hinter sich: Gegründet 1949 von 12 Staaten, um die Sowjetunion aus Westeuropa heraus und die Deutschen klein zu halten, hat sie seit dem Zusammenbruch des Ostblocks mit Legitimationsproblemen zu kämpfen. Der ewige Friede ist aber nicht ausgebrochen und die Geschichte nicht zu Ende: Russland rüstet sich mit hochmodernen Waffen und China drängt mit starkem Selbstbewusstsein auf die weltpolitische Bühne. Tätigkeitsfelder gibt es auch heutzutage mehr als genug.
Allianz von Ungleichen
Die NATO ist mittlerweile aber völlig aus dem Gleichgewicht geraten. Die Europäer finden kaum noch statt, die Friedensdividende haben sie reichlich eingefahren und das Militär vernachlässigt. Die Klage ist bekannt, zählbare Änderungen lassen auf sich warten. Nicht so die US-Amerikaner: Als einziges, zur globalen Machtprojektion fähige Land, dominieren sie die Allianz nach Belieben. Nicht erst Donald Trump beklagte die systematische Schwäche der Europäer, aber er hat die Kritik an der NATO mit der Vokabel „überflüssig“ auf die Spitze getrieben. Der französische Präsident Emmanuel Macron reihte sich mit der Bezeichnung „hirntot“ in die schrillen Bewertungen ein. Eine Antwort auf die offenkundig massiven Verspannungen innerhalb des Bündnisses muss nun her, soll der Weg ganz ins Abseits aufgehalten werden.
Nun stellt auch noch „China … eine potentielle Bedrohung dar“ so Thomas de Maizière. Als ob das eine Überraschung wäre. Die NATO soll sich in Zuge anstehender Reformen auch möglichen Gefahren aus dem wachsenden Neureich der Mitte zuwenden.
Sultan Erdogans Erpressungspotential
Einzelne Mitgliedstaaten tun sich regelmäßig damit hervor, eigene Interessen vor die der restlichen Allianzmitglieder zu stellen. Höheren Blockadehürden dürfte beispielsweise die Türkei aber niemals zustimmen, würde sich damit doch ihr Erpressungspotenzial verringern. Die Beispiele sind bekannt: Nach Türkei-kritischen Äußerungen der Kurz-Regierung erzwang Erdogan, die Zusammenarbeit der NATO mit Österreich einzuschränken. Hinzu kommen dessen Alleingänge in Nordsyrien und bei der Suche nach Gaslagerstätten im Mittelmeer, der Kauf eines russischen Raketenabwehrsystem, sowie der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach. Dass sich Erdogan und Macron persönlich befehden, macht den Kohl kaum noch zusätzlich fett.
Die NATO wird sich entscheiden müssen, was ihr wichtiger ist: ein Allianzmitglied Türkei mit Erpressungspotential aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips. Oder eine aufstrebende Mittelmacht vor der Clubtür, von wo aus sich ebenfalls genügend Steine finden ließen, um NATO-Glasscheiben einzuwerfen. So oder so wird diese Entscheidung in Washington fallen, die Europäer dürfen dazu gerne ihre Meinung äußern. Eine EU, die Erdogans Autokratenstaat die Anwartschaft für einen Beitritt offenhält, besitzt keine Glaubwürdigkeit.
Eine Formsache dürfte hingegen sein, künftig die Staats- und Regierungschefs von EU-Staaten ohne NATO-Mitgliedschaft am Rande von Gipfeltreffen einzuladen. Davon verspricht man sich, die von der Volksrepublik China ausgehenden Gefährdungen für die freie Welt verdeutlichen zu können. Ob es gelingt, damit die chinesische Expansion über Kredite und Infrastrukturvorhaben in einigen europäischen Staaten einzudämmen, wird sich zeigen. Der Erfahrung nach sitzt Bedürftigen das vorhandene Hemd näher als ein vager späterer Rock.
Wie hältst Du es mit China?
„Wir müssen die Konsequenzen des Aufstiegs Chinas diskutieren“ so Jens Stoltenberg. „China ist kein Feind. Es bietet den NATO-Partnern riesige wirtschaftliche Möglichkeiten“ äußerte der NATO-Generalsekretär. Man beobachte Pekings Vorgehen im südchinesischen Meer ganz genau und sehe, „dass sie unsere Werte und Prinzipien der Demokratie nicht teilen – das zeigt sich etwa in Hongkong oder im Umgang mit Minderheiten“.
Im NATO-Reformbericht von 2010 unter Leitung der früheren US Außenministerin Madeleine Albright fand sich das Wort China kein einziges Mal, die Bedrohung durch Terrorismus wurde nur gestreift – und die Experten empfahlen, mit Russland eine „strategische Partnerschaft“ einzugehen. Diese Träume sind vorbei: Nachdem Russland die ukrainische Halbinsel Krim 2014 völkerrechtswidrig annektiert hat, rotieren seither NATO-Soldaten zum Schutz der Bündnispartner nach Polen und in die baltischen Staaten. Der zweigleisige Ansatz im Umgang mit Moskau aus Abschreckung und Dialog soll fortgesetzt werden. Es liege an Russland und nicht an der NATO, Gesprächsangebote wieder anzunehmen, betonte de Maizière.
Macron auf der Anklagebank
Der Ex-Verteidigungsminister sieht in der NATO nach wie vor eine „Lebensversicherung“ für Deutschland, das Bündnis müsse seine Relevanz aber aufs Neue beweisen. Die Arbeit in der internationalen Expertengruppe habe ihm verdeutlicht, dass so manche Debatte sehr deutsch sei: etwa jene über das lange verabredete Ziel, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung in Verteidigung zu stecken. Der Expertenbericht bekennt sich zu dieser Marke, die bis 2024 alle NATO Mitglieder erreichen sollen. Für die Bundesrepublik wünscht er sich, dass in der Öffentlichkeit „offener und ohne übertriebene Schärfe über neue russische Waffensysteme“ sowie über die „Kosten von Sicherheitspolitik oder nukleare Abschreckung“ gesprochen werde.
Scharf wendet sich der CDU-Politiker gegen die Forderung Macrons nach einer strategischen Autonomie der Europäer: “Es ist unstreitig, dass die EU mehr für ihre eigene Sicherheit tun muss – aber nicht autonom.“ Wie die deutsche Verteidigungsministerin halte er solche Vorschläge für „entweder naiv oder gefährlich“. Kritik übte de Maizière nicht zuletzt an der Europäischen Union. „Ich fände es gut, wenn die EU mehr handelt und weniger übertrieben redet“. In der Zusammenarbeit mit der NATO gebe es eine „Diskrepanz zwischen Rhetorik und Taten“. (Siehe Süddeutsche Zeitung vom 2. Dezember 2020)
Grob im Ton vergriffen
Ob das der richtige Ton dem französischen Präsidenten gegenüber ist, darf bezweifelt werden. Man muss dessen Meinung keineswegs teilen, aber Macron in aller Öffentlichkeit als naiv oder gar gefährlich zu bezeichnen, geht auch unter engen Partnern ein paar Schritte zu weit. Das sind Erdogan-Töne, die verbieten sich im Interesse einer vertrauensvollen Zusammenarbeit. Dem französischen Präsidenten und engen Partner zu antworten, wäre normalerweise Sache der Kanzlerin. Der französische Präsident wird bei seinen wiederholten Vorschlägen auch ureigene französische Interessen im Hinterkopf haben. Das ist nicht verwerflich, jedes Land hat eigene Interessen. Die Atmosphäre wird aber vergiftet, wenn diese pauschal als halbgare Ideen eines Egoisten abgetan werden.
Gegenvorschlag: Sich mit den Franzosen an einen Tisch setzen und in ernsthafte Gespräche eintreten. Im Ergebnis eines ersten Schrittes könnte man sich auf abgestimmte militärische Maßnahmen verständigen, um den europäischen Pfeiler der NATO wieder halbwegs aufzurichten. Das wäre gut für die NATO, gut für die Europäer und auch noch im Sinne der Amerikaner. Schließlich fordern diese seit langem höhere Verteidigungsanstrengungen der Europäer. Das bringt noch lange keine strategische Autonomie, aber würde wenigstens die Glaubwürdigkeit steigern. Das wäre schon mal was.