Die Mitte-Studie der Universität Leipzig versteht sich als „vielbeachtetes Barometer politischer Einstellung in Deutschland“. Als ein solches Barometer zeichnet sie in ihrer jüngsten Ausgabe wieder ein düsteres Sittengemälde der bundesdeutschen Bevölkerung. Danach offenbart bis zur Hälfte der Bundesdeutschen – dies wären hochgerechnet 38 Millionen Menschen ab 14 Jahren – mehr oder weniger ausgeprägte „autoritäre Aggressionen“. 17 Prozent sind „manifest ausländerfeindlich“, 14 Prozent „manifest chauvinistisch“. Bei 4 von 10 Befragten – hochgerechnet 28 Millionen Einwohnern – wird eine „manifeste Verschwörungsmentalität“ diagnostiziert. Allerdings: Die Studie wirft inhaltlich wie methodisch eine Reihe von Fragen auf, konzentriert sich strikt auf eine politische Seite, die rechte, und bläht den Kreis der angeblich antidemokratischen Bevölkerung gehörig auf. Das Auffinden so vieler „Problembürger“ durch diese und andere verwandte Studien ist von weitreichender politischer Tragweite: Es dient als Auslöser und Rechtfertigung für den „Kampf gegen rechts“, etwa den neuen milliardenschweren Maßnahmenkatalog der Bundesregierung „gegen Rassismus und Rechtsextremismus“.
Seit 2002 untersucht eine Arbeitsgruppe des Leipziger Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung im Zwei-Jahres-Rhythmus rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. 2018 wurde die Reihe offiziell „Leipziger Autoritarismus-Studien“ getauft, in Abgrenzung zur Mitte-Studie der Universität Bielefeld. Beteiligt an der jüngsten Ausgabe sind die Heinrich-Böll-Stiftung und die Otto-Brenner-Stiftung.
Die neue über 300 Seiten starke Analyse mit dem Titel „Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität“ vereint 13 Beiträge: neben dem Vorwort der Herausgeber Oliver Decker und Elmar Brähler den Haupttext zur Autoritarismus-Studie und Beiträge zu Themen wie „autoritäres Syndrom“, „Verschwörungstheorien“, AfD-Wähler, Antisemitismus, Antifeminismus, Antiziganismus.
Deutschland 2020 – aus Sicht der Autoritarismus-Studie
Zur Einstimmung auf die Umfrageergebnisse stellen Decker und Brähler fest, ihre Erhebung bestätige „erneut das dauerhaft hohe Niveau antidemokratischer Einstellungen in der deutschen Bevölkerung“. „Weiterhin ist das Denken vieler Menschen in der Bundesrepublik durch Chauvinismus und die Abwertung von Migrantinnen und Migranten geprägt. Neben diesem Ethnozentrismus ist nach wie vor die Neo-NS-Ideologie verbreitet: Mit dem tradierten Antisemitismus, der Verharmlosung der Verbrechen des Nationalsozialismus, dem Sozialdarwinismus und der Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur wird diese Ideologie zwar weniger offen geäußert als der Ethnozentrismus, gehört aber seit Langem zum geteilten Ressentiment in antidemokratisch-autoritären Milieus.“ So finde beispielsweise der Antisemitismus neue Ausdrucksformen in Verschwörungsmythen, der Antifeminismus werde zu einer weiteren Brückenideologie antimoderner Bewegungen und viele Menschen seien inzwischen für Muslimfeindschaft und Antiziganismus empfänglich. Gegenwärtig nehme ferner die Gewalt gegen Juden zu. Die Krux an den derzeitigen „Hygiene-Demonstrationen“ sei, dass „die Demonstrierenden verschiedenste geheime Organisationen am Werk (sehen), die aus dem Hintergrund das Geschehen lenken würden“: eine „Weltregierung“, die „Pharmalobby“ oder „jüdische Milliardäre“. In der Vergangenheit habe man die Ausländerfeindlichkeit als Einstiegsdroge in den Rechtsextremismus bezeichnet. Nun träten die Verschwörungsmythen hinzu.
Mit dem Begriff „Mitte(-Studien)“, 2006 eingeführt, wolle man auf den Punkt bringen, „dass rechtsextreme Einstellungen schon lange in der Mitte der Gesellschaft angekommen“ seien. In der Gegenwart radikalisierten sich „Ressentiments, die bereits vor Gründung der AfD in der Mitte der Gesellschaft weitverbreitet waren und nun in ihr sichtbar werden. … Was jetzt als Rassismus, Ethnozentrismus und Neo-NS-Ideologie, als Antisemitismus und Antifeminismus seinen Ausdruck findet, speist sich aus anderen Quellen. Unsere These ist, dass sie Ergebnis einer autoritären Dynamik in der Mitte der Gesellschaft sind.“ Aber, loben Decker/Brähler, „immerhin werden die Staatsbürgerinnen und -bürger nicht mehr als ‚Volk‘ angesprochen, wollen seit einigen Jahren die großen Parteien keine ‚Volksparteien‘ mehr sein … Gerade in Deutschland ist der Begriff des Volkes eng mit imaginierter ethnischer Homogenität assoziiert; ferner grenzt ein ‚Volk‘ sich entweder gegen ein ‚Außen‘ bzw. ‚Fremde‘ ab oder gegen ein ‚Oben‘, die ‚Eliten‘ oder ‚Mächtigen‘.“
Erhebungsmethode
Die Erhebung wurde von USUMA im Mai/Juni 2020 als schriftliche Befragung durchgeführt. Die Stichprobe bestand aus gut 2.500 Personen zwischen 14 und 91 Jahren. Verwendet wurde in der Regel eine fünfstufige Skala von „lehne voll und ganz ab“ bis „stimme voll und ganz zu“ (Studie, S. 35). Dabei wurden Befragte, die die im Ergebnis oft stark genutzte Antwortmöglichkeit „teils/teils“ wählten, als „latentes“ Potenzial für unerwünschte Haltungen wie den Rechtsextremismus eingestuft – was den Kreis der tendenziell antidemokratischen Einwohner automatisch erhöht. Ein zumindest fragwürdiges Verfahren. Unentschiedene Wähler werden ja auch nicht einfach rechten Parteien zugeschlagen.
Dazu noch eine Anmerkung: Die von den Forschern vorgegebenen Statements sind mit Absicht pointiert und inhaltlich einseitig formuliert. Damit scheint es allerdings für die Befragten nicht immer leicht, sich zu positionieren, zumal konkrete Frageformulierungen unterschiedliche Assoziationen wecken können. Dass sich viele Personen für die mittige Antwort „teils/teils“ entscheiden, muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass alle sich genieren, „unanständig“ zu wirken. Sie könnten auch schlicht Schwierigkeiten haben, sich zu positionieren bzw. zum Ausdruck bringen, dass sowohl an der vorgegebenen Aussage als auch an deren Gegenteil „etwas dran ist“. Was spielt sich genau im Kopf von Befragten ab, die die drastische Behauptung: „DIE AUSLÄNDER kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen“ mit „lehne völlig ab“, „überwiegend ab“, „stimme überwiegend zu“, stimme voll und ganz zu“ oder „stimme teils zu, teils nicht zu“ quittieren? Gedanken und Emotionen sind, zumal bei politisch komplexen Themen, schwer in Fragebogen-Kategorien zu übersetzen.
Rechtsextremismus
Rechtsextremismus wird anhand der Bewertung von 18 Statements zu sechs Thematiken erhoben, die aktuellen Zahlen werden mit früheren Zahlen verglichen. Als Befragte mit „manifester“ Zustimmung ausgewiesen sind 2020:
Neo-NS-Ideologie
- Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur: 3,2 Prozent (Ost 8,8 % | West 1,8 %)
- Antisemitismus: 3,6 Prozent (Ost 5,4 % | West 3,2 %)
- Sozialdarwinismus: 2,1 Prozent (Ost 4,0 % | West 1,7 %)
- Verharmlosung des Nationalsozialismus: 2,3 Prozent (Ost 3,6 % | West 2,0 %)
Ethnozentrismus
- Chauvinismus [Glaube an die Überlegenheit des eigenen Landes]: 14,1 Prozent (Ost 21,9 % | West 12,1 %)
- Ausländerfeindlichkeit: 16,5 Prozent (Ost 27,8 % | 13,7 West %)
Ein „geschlossen rechtsextremes Weltbild“ wird bei denjenigen Bürgern kritisiert, die durchschnittlich allen 18 Aussagen manifest zustimmen. Betroffen sind exakt 4,3 Prozent aller Befragten, 9,5 Prozent der Ost- und 3,0 Prozent der Westdeutschen. Formal höher gebildete Befragte zeigen sich über fast alle Dimensionen hinweg seltener rechtsextrem, wobei die Forscher zu Recht mutmaßen, sie besäßen ein größeres Wissen um sozial erwünschte Antworten. Männer werden als häufiger rechtsextrem als Frauen identifiziert. AfD-Sympathisanten seien verglichen mit anderen Wählern „mit Abstand am häufigsten rechtsextrem eingestellt“, aber auch Teile der Unions- (14%), Linke- und SPD-Wähler (gut 9 %) werden als klar ausländerfeindlich eingeschätzt.
Die „teils/teils“-Antworten im Sinne latenter Zustimmung hinzugerechnet, weisen zahlreiche Statements hohe Zustimmungsquoten auf. Dem Satz „Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen“ wird von 60 Prozent der Befragten nicht widersprochen. Die Aussage „Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“ unterstützt gut die Hälfte der Befragten. Die Einschätzung „Was unser Land heute braucht, ist ein hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland“ stößt ebenfalls bei 50 Prozent eher auf Sympathie. Und über 40 Prozent der Befragten bestätigen: „Durch die israelische Politik werden mir die Juden immer unsympathischer.“
Weitere Dimensionen der politischen Einstellung
Angesichts der behaupteten weiten Verbreitung antidemokratischer Einstellungen ist bemerkenswert, dass die große Mehrheit der Befragten (93 %) „hinter der Demokratie als Idee“ steht sowie hinter deren Festlegung in der Verfassung (77 %). Mit der „Demokratie, wie sie in der Bunderepublik Deutschland funktioniert“, sind allerdings nur 58 Prozent zufrieden – und gerade mal ein gutes Drittel der Bundesbürger vertraut politischen Parteien. 90 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu: „Wir sollten tun, was wir können, um gleiche Lebensbedingungen für alle zu schaffen.“
In puncto real existierende Demokratie werden deutliche subjektiv empfundene Anerkennungsdefizite sichtbar. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung fühlt sich „als Mensch zweiter Klasse“, mehr als jeder Dritte „im Umgang mit Behörden und Ämtern ausgeliefert“. Erstmals erfragt wurde in diesem Kontext „die Anerkennung von Politikern“ durch Bürger: Fast 6 von 10 Befragten stimmen hier ganz pauschal zu, dass „wer sich für die Demokratie als Politiker engagiert, auf jeden Fall unsere Anerkennung verdient“; jeder Fünfte tendiert allerdings zur Ansicht: „Politiker sind selber schuld, wenn sie in der Öffentlichkeit oder im Internet beleidigt werden.“
Die Studie enthüllt eine beachtliche Gewaltakzeptanz. Die Aussage „Ich bin in bestimmten Situationen durchaus bereit, auch körperliche Gewalt anzuwenden, um meine Interessen durchzusetzen“ unterstützen 10 Prozent der West- und 9 Prozent der Ostdeutschen. Jeder sechste Befragte akzeptiert gewaltbereite Dritte.
Die „Muslimfeindschaft“ sei stark ausgeprägt, heißt es. Jeder vierte Studienteilnehmer bejaht zum Beispiel, „Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden.“ Mehr als jeder zweite Befragte ist der Ansicht, dass Sinti und Roma „zur Kriminalität neigen“. Fast vier Fünftel der Befragten halten Homosexualität für etwas „völlig Normales“. Jeder Dritte bejaht allerdings das vorformulierte Statement „Ich finde es ekelhaft, wenn sich Homosexuelle küssen“.
Oliver Decker und Elmar Brähler halten fest, die Verbreitung rechtsextremer Einstellungen in Deutschland habe sich seit 2002 in der Tendenz rückläufig entwickelt. Dennoch gehe damit eine Polarisierung der Gesellschaft und eine Radikalisierung der rechtsextrem Eingestellten einher. Speziell die größere Verbreitung rechtsextremer Überzeugungen in Ostdeutschland, gerade unter den jüngeren Befragten, zeige Handlungsbedarf an. Positiv lasse sich hervorheben, dass Hierarchie- und Ungleichwertigkeitsvorstellungen auf abstrakter Ebene eher abgenommen haben. Dabei dürfe aber „die Abwertung anderer nicht mit steigenden Zuwanderungszahlen rationalisiert werden“. Die Gefahren für die Demokratie, so die Forscher, liegen in der Verbreitung extrem-rechter Einstellungen, im Verlust von politisch-institutionellem Vertrauen, in der gesellschaftlichen Polarisierung, die mit einer Radikalisierung und Enthemmung am rechten Rand einhergehe, und in der Diffusion und „Modernisierung“ extrem rechter Narrative. Für manifest Rechtsextreme gelte: „Wenn sie wählen gehen, dann überwiegend die AfD; ferner sind sie depriviert und gewaltbereit; ihr Misstrauen gilt den gesellschaftspolitischen Institutionen, ihren Repräsentantinnen und Politikern.“
Das autoritären Syndrom
Gefahndet wurde auf der psychoanalytischen Ebene auch erneut nach dem autoritären Syndrom im Bundesbürger. Die Forscher unterscheiden hier zwei Hauptbestandteile (Grafik S. 196): Unter „Sadomasochismus“ subsumiert sind: autoritäre Aggression, autoritäre Unterwürfigkeit und Konventionalismus. „Projektivität“ umfasst die Kategorien: Verschwörungsmentalität und Aberglaube, die beide bedeuteten, dass „Sinn, Muster und Motive in der äußeren Umgebung gesucht und die Welt in Schwarz und Weiß, Gut und Böse gespalten“ wird. Aggression, Unterwürfigkeit und Konventionalismus werden in neun Statements abgefragt, unter anderem mit:
- Gegen Außenseiter und Nichtstuer sollte in der Gesellschaft mit aller Härte vorgegangen werden: stimme ziemlich/voll und ganz zu: 33 % | Unruhestifter sollten deutlich zu spüren bekommen, dass sie in der Gesellschaft unerwünscht sind: 53 %
- Wir brauchen starke Führungspersonen, damit wir in der Gesellschaft sicher leben können: 44 %.
- Bewährte Verhaltensweisen sollten nicht in Frage gestellt werden: 33 % | Traditionen sollten unbedingt gepflegt und aufrechterhalten werden: 51 %.
Wann ist man eigentlich ein Verschwörungstheoretiker?
Wann immer man in Nachrichten von (rechten) Demonstrationen hört, werden neuerdings reflexhaft auch „Verschwörungstheoretiker“ mit „Verschwörungsmentalität“ gesichtet. In der vorliegenden Studie wird diese, wie gesagt, nebeneinander gestellt mit Aberglaube (Esoterik), verstanden als Zuwendung zu Glücksbringern, Wahrsagerei, Wunderheilern und Astrologie. Allerdings, darauf weisen die Autoren zu Recht hin, gibt es einen gravierenden Unterschied: Während sich Verschwörungsmythen klar auf das Gemeinwesen und damit die Politik und Realität beziehen, gehe es beim Aberglaube darum, sein Schicksal in die Hände von übernatürlichen guten Geistern legen zu können.
Erhoben wurde die „Verschwörungsmentalität“ in Form der drei Statements:
- Die meisten Menschen erkennen nicht, in welchem Ausmaß unser Leben durch Verschwörungen bestimmt wird, die im Geheimen ausgeheckt werden: 30 % klare Zustimmung
- Es gibt geheime Organisationen, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben: 38 %
- Politiker und andere Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte: 33 %
Ein gesondertes Buchkapitel konzentriert sich auf die derzeitige Pandemie. 42 Prozent der Umfrageteilnehmer äußern hier eindeutig die Befürchtung: „Die Corona-Pandemie hat wahrscheinlich schlimme Folgen für mich und die Menschen in meiner Umgebung“. Stattliche 6 von 10 Personen glauben fest, dass die Corona-Pandemie „unsere Kultur nachhaltig verändern (wird)“. Als „Verschwörungserzählungen“ firmieren die Aussagen: „Die Hintergründe der Corona-Pandemie werden nie ans Licht der Öffentlichkeit kommen“ bzw. „Die Corona-Krise wurde so groß geredet, damit einige wenige davon profitieren können“, denen über 60 bzw. rund 50 Prozent der Befragten stärker zuneigen.
Als Verschwörungsmentalität definiert die Studie „die grundlegende Bereitschaft, hinter gesellschaftlichen und politischen Phänomenen ein intendiertes und geheimes Handeln kleiner, mächtiger Gruppen zu vermuten. … Problematisch wird es …, wenn gesellschaftliche Prozesse nicht auf die sozialen Bedingungen des Handelns zurückgeführt, sondern reflexartig personalisiert werden.“ Die Personalisierung von Widersprüchen anstelle von Kritik an ihnen „verschafft ihren Trägerinnen und Trägern das Gefühl von Sicherheit und Kontrolle, weil sie die scheinbaren Machenschaften zu durchschauen glauben und überzeugt sind, den ‚Feind‘ identifizieren zu können.“
Zum irrationalen Umgang mit der Realität gehört für die Forscher auch „die abwehrende Haltung gegenüber den Formen etablierter Rationalität …, wie etwa der Wissenschaft, den öffentlich-rechtlichen Medien oder den ‚Mainstream‘-Diskursen bestimmter als elitär wahrgenommener Expertinnen und Experten“.
Der Wunsch, in einer als kontrollierbar empfundenen Welt zu leben
Den „Verschwörungs-Milieus“ wird ein „Narrativ“ zugeordnet, „das Angst, Überforderung und Ohnmacht bindet und dem (regressiven) Wunsch Raum gibt, in einer als kontrollierbar empfundenen Welt oder einem versöhnten (Ur-)Zustand mit der Natur zu leben.“ „Verschwörungsmentalität und Aberglaube können also als Versuch verstanden werden“, heißt es in der Studie, „mit der realen Undurchschaubarkeit und Ohnmacht angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse umzugehen.“
So weit, so gut. Die oben zitierten drei Aussagen als Lackmustest für eine Empfänglichkeit für Verschwörungstheorien sind wohl bemerkt von den beteiligten Forschern formuliert worden. Womöglich würden Personen bei einer offenen Fragestellung von sich aus nicht unbedingt von „geheimen Organisationen“ reden, die die Welt regieren. Vielleicht würden sie eher ausdrücken, dass sie des Öfteren irritiert sind, weil sie keinerlei Einblick haben, wie einzelne politische Entscheidungen, Verhältnisse und Entwicklungen zustande kommen, welche Gruppierung wie wo und mit welchem Zweck und Ziel Einfluss ausübt, erst recht auf EU- oder UN-Ebene.
Nun sind bzw. scheinen bei vielen politischen Entscheidungen die Verantwortungsträger identifizierbar zu sein, etwa Parlamente oder Regierungen. Eine Reihe von Vorgängen auf nationaler und internationaler Ebene, zum Beispiel weltweite Migrationsbewegungen und -politiken, sind aber nicht vollständig im Sinne von Kausalbeziehungen auf erkennbare Ursachen und dafür zuständige Personen zurückführbar. Viele Geschehnisse sind dennoch in Teilen „Mensch-gemacht“. Allein der Deutsche Bundestag führt eine (Lobby-)Liste mit fast 2.300 Verbänden, „die Interessen gegenüber dem Bundestag oder der Bundesregierung vertreten“. ´Das Transparenzregister der EU verzeichnet über 12.100 Organisationen, davon fast 3.300 sogenannte Nichtregierungsorganisationen. Das alles sind leibhaftige Handlungsträger – deren Einfluss auf die Politik jedoch oft eher im Dunkeln bleibt. So gesehen stellt sich die interessante Frage, wie sich der vorbildliche vernunftgesteuerte Bürger ohne Verschwörungsgedanken das Funktionieren der realen Welt erklärt, der die Forscher selbst ja, wie gesagt, „Undurchschaubarkeit“ und ein mögliches Hervorrufen von „Ohnmacht(sgefühlen)“ bescheinigen.
Laut Studie haben Verschwörungsmentalität und Aberglauben auch eine große Bedeutung für das Zustandekommen von rechtsextremen Einstellungen. „Ob Menschen, die unter gesellschaftlicher, politischer oder wirtschaftlicher Deprivation leiden, zum Rechtsextremismus tendieren, hängt maßgeblich damit zusammen, inwieweit sie ihre Probleme projektiv, das heißt mit der Ausbildung einer Verschwörungsmentalität oder von Aberglauben bearbeiten.“ Das Leipziger Autorenteam deutet die Umfrageergebnisse im Ergebnis als weite Verbreitung des autoritären Syndroms. Die „bereits seit langen Jahren hohe Verschwörungsmentalität“ zeige, dass deren Existenz keine Reaktion auf die COVID-19-Pandemie sei. Die Autoren führen aus, den einzelnen Menschen stünden in der modernen Gesellschaft „viele Lebensmöglichkeiten offen, doch tragen sie nun auch individuell Verantwortung für ihre Wahl … Die Ambivalenz, die mit solcher Art Autonomie verknüpft ist, wird in Krisenmomenten besonders virulent, wie beispielsweise in der COVID-19-Pandemie … . Weder reichen die eigenen Ressourcen aus, um die Spannungen durch die Bedrohung auszuhalten, noch steht ein ‚starker Führer‘ zur Verfügung.“ Dies begünstige Autoritarismus.
Schwachstellen der Studie
1. Stichprobe
Während in früheren Erhebungen nur deutsche Staatsangehörige befragt wurden, finden jetzt auch Bürger ohne deutsche Staatsbürgerschaft als Teil der Gesamtstichprobe Berücksichtigung, „weil wir alle, die in der Bundesrepublik wohnen, als Teil der deutschen Bevölkerung verstehen“. Auffällig: Es wird 30 Jahre nach dem Mauerfall immer noch konsequent nach Ost- und Westdeutschland differenziert. Im Gegensatz dazu wird in der Ergebnisdarstellung, warum auch immer?, überraschender Weise nicht nach Migrationshintergrund differenziert.
2. Fragestellungen
Die Studie kämpft mit dem Grundproblem, dass die Konkretisierung von Begriffen anhand ausgewählter Statements auch subjektiv gefärbt und tendenziös sein kann. Viele Items enthalten interpretationsfähige Schlüsselwörter („Unruhestifter“, „gesellschaftliche Regeln“), die man so oder so auslegen kann. Bei einem Großteil der Statements ist zweifellos konsensfähig, dass die Items zur Messung von Vorurteilen sinnvoll gewählt sind („Die Juden arbeiten mehr als andere Menschen mit üblen Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen.“| „Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind in der Geschichtsschreibung weit übertrieben worden“ usw.). Bei einem anderen Teil wäre zu diskutieren, ob hier abgebildet wird, was abgebildet werden soll.
Ist derjenige zwangsläufig ein rechter Nationalist, der meint: „Wir sollten endlich wieder Mut zu einem starken Nationalgefühl haben“? Spricht es für Feindseligkeit gegenüber Juden, wenn jemand findet: „Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns“ oder „Wir sollten uns lieber gegenwärtigen Problemen widmen als Ereignissen, die mehr als 70 Jahre vergangen sind“? Beweist eine Person einen fragwürdigen Charakter, wenn sie der Auffassung ist, „Traditionen sollten unbedingt gepflegt und aufrechterhalten werden“, „Menschen sollten wichtige Entscheidungen in der Gesellschaft Führungspersonen überlassen“ oder „Unruhestifter sollten deutlich zu spüren bekommen, dass sie in der Gesellschaft unerwünscht sind“?
Weltbild der Forscher
Alle einschlägigen (Mitte-)Studien wie auch die vorliegende konzentrieren sich stark auf die „rechte“ politische Sphäre, interessieren sich kaum für link(sradikal)e und starr religiöse Akteure, weisen also blinde Flecken auf.
Generell ist das in der Forscher-Community hoch gehaltene abstrakte Postulat der „Gleichwertigkeit“ aller Menschen schwer auf den Alltag herunter zu brechen. Welche konkreten Meinungsäußerungen sind mit dem Glaubenssatz vereinbar? Wie übersetzt sich die Gleichwertigkeit in Rechte, Pflichten und Teilhabe des Individuums bzw. der politischen, sozialen, ethnischen und religiösen Gruppen in einem Staatsgebilde? Selbst wenn die Leipziger Forscher das „Volk“ als Bezugspunkt durch „alle Personen, die in der Bundesrepublik wohnen,“ ersetzten, würde dies schwerlich garantieren, dass Gruppen sich nicht gegen ein „Außen“ bzw. „Fremde“ oder gegen die „Eliten“ bzw. ein „Unten“ abgrenzen. Weil sich schlicht alle sozialen Gruppen nach bestimmten Merkmalen und Interessen voneinander abgrenzen – „Migrantenverbände“ hierzulande zum Beispiel deutlich von der („weißen“) „Mehrheitsgesellschaft“.
Gesamteindruck
Unter dem Strich kommt der Autoritarismus-Studie das Verdienst zu, grundsätzliche politische und psychologische Fragen aufzugreifen. Sie blendet jedoch Gefährdungen, die nicht von „rechts“ kommen, aus und produziert durch ihr Untersuchungsdesign und ihre Interpretationsmuster eine überhöhte Anzahl von Problembürgern. Diese werden wohl bemerkt anhand von Einstellungen im Kopf, nicht Worten und Taten vermessen, wobei eine Reihe von als nicht wünschenswert gewerteten Einstellungen unter dem Aspekt der Meinungsfreiheit durchaus legitim und legal ist. Und den Widerspruch zwischen ihren düsteren Ergebnissen und der festgestellten hohen Zustimmung zur Demokratie und Verfassung vermag die Studie letztlich nicht zu erklären.