Fake-News, Post- und Alternativfaktisches sind keine neuartigen Entgleisungen der heutigen Zeit, sondern viel mehr im Menschen und seinen Gesellschaften verwurzelt. So lange begrenzte Wahrnehmungsfähigkeiten unweigerlich unzählige Perspektiven erzeugen und so lange Erklärungen unseres Daseins offen sind, so lange wird auch jede menschliche Verlautbarung unweigerlich ein Wirrwarr von Hypothesen, Theorien und Fakten sein – ganz unabhängig davon, wie sehr einer zudem das vermeintlich Faktische oder Hypothetische gegebenenfalls noch betonen möchte.
„Wahrheit ist nicht die Tochter des Ansehens, sondern der Zeit“, lautet der Vorsatzspruch der ersten Ausgabe des Journal der Erfindungen, Theorien und Widersprüche in der Natur- und Arzneiwissenschaft von 1793. Und weiter heißt es dort in der Einleitung:
„Es ist ein glükliches Bedürfniß des menschlichen Verstandes, bei einzelnen Erfindungen, Beobachtungen und Erfahrungen nicht stehen zu bleiben, sondern sie unter einander zu vergleichen, zu ordnen, den Ursachen nachzuspüren, und allgemeine Gesezze zu bilden. Er schafft sich, von einigen Thatsachen unterstützt, sogleich ein System, und wo Beobachtung und Erfahrung nicht ausreicht, Zusammenhang in dasselbe zu bringen, da geräth er auf Spekulationen, und eine Theorie, eine Hypothese, muss den Mangel ersezzen. Jenes so glükliche Bedürfniß, ohne welches sich niemals eine Sammlung von Kenntnissen zur Wissenschaft gebildet hätte, hielt aber auch oftmals die Fortschritte der Wissenschaften, und zwar besonders der bloßen Erfahrungswissenschaften sehr auf: man schuf zu früh Systeme, ohne hinlänglich beobachtet und erfahren zu haben, und diese mußten die Nachkommen oft wieder verlassen oder beständig daran bessern; – man sezte Spekulationen an die Stelle der Erfahrungssäzze, diese drangen sich mit der Zeit auf, und verdrängten jene; – man verließ oft den Weg der reinen Beobachtung und Erfahrung, vergaß, daß man es mit einer blos auf diese gegründeten Wissenschaft zu thun hatte, und überließ sich leeren theoretischen Spekulationen; – man beobachtet und erfuhr endlich nicht mehr unbefangen, sondern so, wie es ein zu früh angenommenes System, eine vorgefaßte Lieblingsmeinung heischte.“
Hypothese und Theorie werden da von Beobachtungen und Erfahrungen unterschieden. Wenn man sich entsprechend den Überlegungen von Karl Popper einem Wissen über die wirkliche Wirklichkeit auch nur annähern kann – ohne jemals eine unumstößliche Sicherheit erlangen zu können – lassen sich doch über Beobachtungen und Erfahrungen wahrscheinliche Gewissheiten erlangen. Und umso mehr Beobachtungen und Erfahrungen, die sich durch andere Beobachtungen und Erfahrungen verifizieren lassen, während man Trugschlüsse ausdrücklich zu vermeiden sucht, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Gewissheit. Das schließt den grundlegenden Irrtum nicht vollkommen aus (unsere gesamte Wahrnehmung könnte ja zum Beispiel reine Täuschung sein), wir kommen aber auf diesem Weg wenigstens zu lebenspraktisch konsistenten Wahrheiten.
Das gilt für alle Wissenschaft im ureigenen Sinn des Wortes. So also auch für die philosophische, gesellschaftliche, politische Auseinandersetzung, die den interaktiven medialen Diskurs prägt. Das Wahrheitsmaß der öffentlichen Angelegenheiten ist das skeptische Hinterfragen von theoretischen Behauptungen und Mutmaßungen mit möglichst wenig mehrdeutigen, nachvollziehbaren Erfahrungen und Beobachtungen. „Einsicht in einen politischen Sachverhalt heißt nichts anderes, als die größtmögliche Übersicht über die möglichen Standorte und Standpunkte, aus denen der Sachverhalt gesehen und von denen her er beurteilt werden kann, zu gewinnen und präsent zu haben“, hat uns Hannah Arendt hinterlassen.
Das ist nun fraglos einfacher gesagt, als getan. Das Abwägen von Für und Wider ist selten ein leichtes Unterfangen. Es ist ja schon schwer, die eigenen Standpunkte mit ordentlichen Annahmen und plausiblen Begründungszusammenhängen zu belegen. Dasselbe auch noch für mögliche Gegenargumente zu bedenken, um sich wirklich eine Vorstellung zu verschaffen, ist die hohe Kunst im Gebrauch des gesunden Menschenverstandes.
Derartige Auseinandersetzungen sind nichtsdestoweniger der Kern des gesellschaftlichen Miteinanders. Und üben lässt es sich nur, indem man entsprechend handelt. Das friedliche, freiheitliche, demokratische Gemeinwesen gründet auf der politischen Kommunikation ihrer Teilhaber. Die Freiheit der Rede ist damit der Ausgangspunkt aller Freiheiten. Sprechverbote sind andererseits die fundamentalistischen Werkzeuge der Gewaltherrschaft.
Eine freie, offene, selbstbestimmte Gesellschaft muss also alle Beschränkungen der Redefreiheit mit allergrößter Sorgfalt bedenken. Man treibt hier leicht den Teufel mit dem Beelzebub aus. Eine antidemokratische Rede zu unterbinden, wirkt im Akt der Verhinderung erheblich antidemokratischer, als es die ursprüngliche Agitation je vermocht hätte.
Natürlich endet jedes Freiheitsrecht, wenn in einem souveränen, gleichberechtigen Gemeinwesen die Freiheitsausübung des einen die Freiheit des anderen beschränkt. Das kann eigentlich bei der Redefreiheit nur dann greifen, wenn das Reden geeignet ist, andere mundtot zu machen. Bei erschütternden Beleidigungen und üblen Verhetzungen ist das in der Tat vorstellbar. Es bedarf allerdings wohl gewaltiger und vermutlich breit konzertierter Bemühungen, dass man Mitbürger zur Widerspruchslosigkeit treibt. Und sogar dann wird man sich aller Wahrscheinlichkeit dadurch selbst ins Abseits des Diskurses stellen und sich damit der politischen Wirkung berauben. Wenn die Redefreiheit garantiert ist, weist sie ganz erhebliche Selbstheilungskräfte gegen die Versuchungen des Missbrauchs auf.
Daraus ergeben sich zwei Schlussfolgerungen:
- Unser herrschendes strafrechtliches Verständnis von Beleidigung als Ehrverletzung beziehungsweise soziale oder moralische Respektlosigkeit greift tendenziell schon sehr weit in die Redefreiheit ein und geht als Gesprächskulturregulierung deutlich über die Redefreiheitssicherung hinaus; eine Verbesserung der pluralistischen politischen Kommunikation durch weitere Regulierung kann also nicht erwartet werden.
- Angesichts der überragenden konstitutionellen Bedeutung der Redefreiheit für die offene Gesellschaft muss jeder Eingriff den höchsten demokratischen Prinzipien der Gewaltenteilung unterliegen; jedes explizite oder auch nur implizite Delegieren auf Unternehmen, Vereine oder sogenannte Vertreter der Zivilgesellschaft wäre eine Offenbarungseid des Staates, die grundlegende Freiheitssicherung des Gemeinwesens nicht mehr bewältigen zu können.
Das geplante Netzwerkdurchsetzungsgesetz des Bundesjustizministers Heiko Maas ist daher in Gänze unangemessen. Wenn man in der Regierung die Einschätzung des Ministers von einer Zunahme an ehrverletzenden Beleidigungen, „strafbaren Falschnachrichten“ (was auch immer das sein soll) und sogenannter Hasskriminalität teilt, dann ist nicht die Legislative, sondern die Exekutive gefordert und die zuständigen Strafverfolgungsbehörden müssen entsprechend ertüchtigt werden. Im Parlament muss um die entsprechenden Mittel dafür nachgesucht werden. Vorher sollte man aber vielleicht erst einmal etwas genauer hinschauen, ob überhaupt die Tatbestände zunehmen oder ob sie heute nicht einfach sichtbarer sind. Was ja nicht heißt, dass sie uns deswegen mehr schaden müssen. Wie gesagt, die Selbstheilungskräfte eines anständigen öffentlichen Diskurses sind nicht zu unterschätzen.