Tichys Einblick
Berufsbetreuer und psychisch Kranke

Netflix-Film „I Care a Lot“: Ein gewaltiges Problem, das niemand wahrhaben will

Netflix macht einen klischeehaften Film über den Beruf des Betreuers. Unsere Autorin, selbst in der Branche, schildert, was passiert, wenn Bilderbuch-Konzepte auf die Realität treffen.

IMAGO / Ikon Images

Netflix hat es mal wieder geschafft – der Streaming-Dienst hat mit seinem neusten Hit „I Care a Lot“ in politisch korrekter Rollenbesetzung wichtige Aufklärungsarbeit geleistet. Thema diesmal: Berufsbetreuer und ihr herzloses Mafiosi-Handwerk. In dem erst vor ein paar Wochen angelaufenen Streifen jagt die eiskalte Protagonistin, Betreuerin und Geschäftsfrau Marla Grayson hilflose alte Rentner – sogenannte „Goldstücke“ – die sie entmündigen, im Pflegeheim einsperren und dann wie eine Weihnachtsgans ausnehmen kann.

Die lesbisch-feministische Vollblut-Kapitalistin hat die Rechnung aber ohne den kleinwüchsigen Sohn ihres neusten Fanges gemacht und gerät so in ein wildes Katz- und Mausspiel mit der russischen Mafia. Obwohl sichtlich überspitzt, fürchte ich, dass diese „schwarze Komödie“ das gesellschaftliche Bild des raffgierigen Gangster-Betreuers weiter verfestigen könnte – dabei ist unser Berufsalltag in Wirklichkeit leider nicht ansatzweise so aufregend. Betreuer sind verpflichtet, im Sinne ihrer Klienten zu handeln und deren Interessen durchzusetzen, wenn sie es selbst nicht mehr können. Eine so miese Masche, bei der sich Ärzte, Betreuer und Heimleitung aus Geldgier miteinander verschwören, könnte allein wegen der umfangreichen gesetzlichen Bestimmungen in Deutschland nie funktionieren. Mal ganz abgesehen davon, dass die meisten Betreuer ehemalige Sozialarbeiter sind, deren Gutmenschentum viel weiter ausgeprägt ist als der Sinn nach irgendeiner Form von Bereicherung und Profitmaximierung.

Der Typ Betreuer

Das ist der erste große Irrtum der in der amerikanischen Verfilmung, aber auch in den deutschen „Qualitätsmedien“ immer wieder plattgetreten wird. Den Typ Geschäftsmann – mal ganz zu schweigen vom Typ Gangster – habe ich in den knapp acht Jahren, in denen ich in diesem Bereich arbeite, und in dem ich mit vielen Betreuern in Berührung gekommen bin, noch nie persönlich kennenlernen dürfen. Was ich aber zuhauf erlebt habe, sind Betreuer, die sich im Wunsch, ihre Betreuten zu retten, völlig verausgaben. Sie übernehmen Aufgaben, die eigentlich ein Pflegedienst ausführen müsste, setzen sich in guter alter Sozialarbeitermanier stundenlang mit ihren Klienten zum Kaffee trinken an den Tisch und schießen ihnen sogar etwas von ihrem persönlichen Geld dazu – mich würde es nicht mal wundern, wenn die ihre Klienten bei sich zuhause auf dem Sofa einquartieren und ihnen noch ein Süppchen kochen.

Heft 04-2021
Tichys Einblick 04-2021: Wie im Irrenhaus - Politik gegen den gesunden Menschenverstand
Selbst wenn man wollte, kann man als Betreuer aber auch nicht gerade reich werden – leider, ich würde zu gerne in einem schicken Penthouse-Loft arbeiten und BMW fahren. Man kann sich zumindest in Deutschland aber nicht einfach – wie im Film dargestellt – eine fiktive Zahl von Arbeitsstunden, die einem gerade so in den Kram passt, vom Konto eines seiner Schäfchen bezahlen lassen. Die Betreuervergütung ist seit Juli 2019 pauschal festgesetzt, muss immer erst beantragt und anhand eines Vergütungsbeschlusses vom Amtsgericht bewilligt werden. Laut Vergütungstabelle ist die Höhe der Pauschale von der Qualifikation des Betreuers abhängig, die drei Kategorien umfasst: Ohne Ausbildung, mit einschlägiger Ausbildung und mit Hochschulstudium. Daneben ist die Höhe der Vergütung davon abhängig, ob der Betreute in einer stationären Einrichtung (wie etwa im Heim) oder außerhalb lebt und ob er vermögend ist oder nicht.

Der letzte entscheidende Faktor ist die Länge der Betreuung – zu Beginn gibt es nämlich etwas mehr Geld, nach spätestens zwei Jahren stagniert der Betrag dann aber. Das heißt: Wenn Sie nicht als Taxifahrer in den Beruf eingestiegen sind, sondern studiert haben, können Sie für einen mittellosen Betreuten im Heim in den ersten drei Monaten der Betreuung 317,00 € abrechnen – wäre er vermögend, sind es 10 € mehr. Im 4. bis 6. Monat kriegen sie nur noch 208 €, usw … Nach zwei Jahren dann nur noch 102 €. Zum Vergleich: Lebt der mittellose Betreute nicht im Heim, gibt es am Anfang noch 339 € und nach zwei Jahren noch 171 €. Warum ich mich hier vornehmlich auf mittellose Betreute beschränke, liegt schlicht daran, dass etwa 95 % aller Betreuten in Deutschland mittellos sind – also ein Vermögen von unter 5.000 € besitzen.

Dazu muss man wissen, dass die Vergütung gesetzlicher Betreuer bis vor dem 27.07.2019 ganze 14 Jahre lang nicht erhöht wurde. Die Betreuer konnten zwischen 2 und 8 Stunden pro Betreuten und Monat abrechnen, der höchst Satz pro Stunde lag nach denselben Kategorien wie heute etwa bei 44 €. 2018 führte das Bundesministerium der Justiz dann eine umfangreiche Studie durch, die ergab, dass Betreuer durchschnittlich 3,3 Stunden abrechnen konnten, aber im Durchschnitt 4,1 Stunden arbeiteten – das heißt sie arbeiteten zu einem Viertel ihrer Zeit umsonst. Das war der Anstoß für die leichte Vergütungserhöhung und die Änderung der Abrechnung hin zu Fallpauschalen. Netter Nebeneffekt: Durch die Pauschalabrechnung kann man nicht mehr so einfach nachvollziehen, wie viele Stunden bezahlt und wie viele tatsächlich erbracht wurden.

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Unabhängig davon, ist der Job auch nach dem neuen Vergütungssystem nur dann überhaupt machbar, wenn man sein Büro wie ein kleines Unternehmen betreibt, also wie in unserem Fall ein Betreuer mit zwei Angestellten etwa hundert Klienten versorgt. Medien wie die Welt klagen zwar, dass schon die durchschnittlich Versorgung von 37 Klienten, „eine angemessene Versorgung kaum ermöglicht“, in echt haben sie aber einfach keine Ahnung von der Betreuerpraxis und können sich wie so oft nicht vorstellen, dass man Qualität und Quantität durchaus miteinander vereinbaren kann und muss.
Von wegen allmächtig

Neben der Profitgier ist der entscheidende Irrglauben, der viele Kritiker besorgt und um den sich auch der Netflix-Kracher dreht, die vermeintliche Allmacht des Betreuers, von der im wirklichen Leben wirklich nicht die Rede seien kann. Das fängt schon damit an, dass in Deutschland niemand gegen seinen Willen eine Betreuung aufgezwungen werden kann, wenn es dafür keinen triftigen Grund gibt – auch nicht, wenn sich wie im Film eine Hausärztin und eine Betreuerin verschwören. Die meisten Betreuungen werden von Ärzten oder Sozialarbeitern angeregt, wenn ein Patient mit Feuerwehr und Polizei in die Rettungsstelle einer Klinik eingeliefert wird, weil er zum Beispiel mit einer Gartenhacke auf seinen Nachbarn – einen miesen Verbrecher wahlweise Geheimagenten oder Außerirdischen – losgegangen ist. Da ist nicht mehr so viel zu diskutieren in punkto Zurechnungsfähigkeit. Selbst wenn irgendein hundsgemeiner Arzt aus Bosheit, oder weil ihm jemand ein paar Kröten zugesteckt hat, irgendjemanden für unmündig, dement oder wahnhaft erklärt, der es eigentlich gar nicht ist, würde er damit spätestens vor Gericht grandios scheitern. Das Amtsgericht beauftragt nämlich in jedem Fall, auch bei Eilanträgen, einen unabhängigen psychiatrischen Gutachter und im Zweifelsfall – zum Beispiel, wenn der Betroffene nicht selbst vor Gericht angehört werden kann – auch noch einen unabhängigen Verfahrenspfleger. Das sind oft Rechtsanwälte, manchmal auch andere Betreuer, die sicherstellen sollen, dass die Interessen des Betroffenen gewahrt werden. Erst dann trifft das Gericht die Entscheidung, gegen den Willen eines Menschen eine Betreuung einzurichten oder etwaige andere Zwangsmaßnahmen zu veranlassen.

Je nach Problem des Betroffenen werden dem Betreuer unterschiedliche Aufgabenkreise zugesprochen – das reicht von der Vermögens- und Gesundheitssorge bis zur Vertretung vor Behörden und der Aufenthaltsbestimmung. Manchen Betreuten, die am Tag gern mal 30 verschiedene Verträge bei allen möglichen Online-Händlern abschließen und danach leugnen, den Himalaya-hohen Schuldenberg selbst verursacht zu haben, kann zum Schutz noch ein Einwilligungsvorbehalt auferlegt werden – denn dann ist jeder Vertrag ohne Zustimmung des Betreuers unwirksam. Selbst wenn der Betreuer alle Aufgabenkreise und damit die „ultimative Macht“ über seinen Klienten hat, kann er aber immer noch keine weitreichenden Entscheidungen ohne Einwilligung des Betreuungsgerichts treffen. Das betrifft zum Beispiel Unterbringungsmaßnahmen zur Heilbehandlung bei psychisch Kranken, die einen ganz erheblichenTeil aller Betreuten ausmachen.

Selbst wenn die absolute Notwendigkeit zur Unterbringung besteht, sind dem Betreuer oft die Hände gebunden, weil das Gericht die Unterbringungsanträge nicht oder nur für einen sehr kurzen Zeitraum genehmigt. Der Betreuer kann in so einem Fall im Prinzip nur abwarten, bis der Betreute mit Polizei und Feuerwehr in ein Krankenhaus gebracht und wegen akuter Eigen- und Fremdgefährdung nach PsychKG (Gesetz für psychisch Kranke) untergebracht wird, weil er jemanden angegriffen oder sich selbst massiv verletzt hat. Einer unserer Klienten trat an U-Bahnhöfen gerne Frauen auf die Füße, schlug sie zum Teil sogar und schubste sie irgendwann auch noch durch die Gegend – eine Unterbringung wurde abgelehnt, stattdessen galt ein nicht durchsetzbares „Hausverbot“. So hart wie das klingt, aber wir warteten eigentlich nur noch auf den Tag, an dem wir ins Büro kommen und auf dem AB die Nachricht hören, dass er eine Frau vor die einfahrende Bahn gestoßen hat. Das ist alles andere als Allmacht, das ist Ohnmacht.

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Neben Zwangsmaßnahmen bedarf auch jeder andere größere Eingriff in das Leben und die Vermögenswerte eines Betreuten der vorherigen Genehmigung des Amtsgerichts. Wenn man die Wohnung kündigen will, Geld von Sparkonten auf das Girokonto verlagern möchte oder den Verkauf von Vermögenswerten anregt, um z.B. Heimkosten zu bezahlen. Das sich ein Betreuer dabei irgendwie bereichern kann, ohne dass das Amtsgericht davon Wind bekommt, halte ich im Normalfall für illusorisch. Dass die gerichtliche Kontrolle wegen der Überlastung der Rechtspfleger unzureichend ist, kann ich aus meiner Erfahrung ebenfalls nicht bestätigen. Der Betreuer muss jedes Jahr einen Bericht verfassen und alle Vermögenswerte und Kontobewegungen des letzten Jahres minutiös genau nachweisen. Jede einzelne Ein- und Auszahlung muss belegt werden – und zwar auf den Cent genau. Die Rechtspfleger sind nicht nachlässig, sondern eher kleinkariert. Das Porto hat nicht selten mehr Wert als der Gegenstand der Beanstandung.

Die ein oder andere Verlockung gibt es natürlich trotzdem. Wir bekamen zum Beispiel mal einen demenzkranken Mann ohne Angehörige als neuen Klienten, der gerade frisch in ein Heim gezogen war. In seiner Wohnung, die zur Abklärung der Vermögensverhältnisse gesichtet werden musste, lagen 200.000 € in Bar herum, von denen, wie sich später herausstellte, offiziell niemand wusste – da habe ich auch ne Sekunde überlegt, mein Studium über den Haufen zu schmeißen und eine Karriere als Verbrecher einzuschlagen. Solche Fälle, in denen sich Betreuer wirklich unbemerkt Geld unter den Nagel reißen könnten, sind aber verdammt selten. Da ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mitarbeiter des Pflegedienstes Oma Gerdas Goldkettchen stibitzt, sicher um einiges größer. Was tatsächlich häufiger vorkommt, sind übrigens Angehörige, die sich munter am Geld der Großeltern bedienen. Sie verursachen zum Teil ganz erhebliche Vermögensschäden durch Diebstahl und Veruntreuung. Da bestellt sich der Sohn hier mal einen Laptop, da mal einen neuen Fernseher und hebt noch ab und zu Tausend Euro ab und schon sitzt Mutti auf dem Trockenen.

Mehr statt weniger Kompetenzen

Alles in allem ist das Risiko, was durch „kriminelle Betreuer“ ausgeht, eher ein Mythos als eine reale Gefahr für hilflose Menschen. Der Handlungsspielraum von Berufsbetreuern ist gesetzlich sehr eng festgelegt und wird immer enger und enger geschnürt, sodass man manchmal das Gefühl kriegt, man darf bald gar nichts mehr machen. Im Büroalltag ist das vor allem nervig, weil uns aus irgendwelchen Datenschutzgründen oder ähnlichem Mist oft die Auskunft oder sogar die Kooperation verweigert wird – das verlangsamt die gesamte Betreuungsführung und ist am Ende nur zum Schaden des Klienten, weil ihm wegen fehlender Unterlagen zum Beispiel staatliche Leistungen versagt werden können. Ähnliches erleben übrigens auch die Heime, in denen die Sozialarbeiter inzwischen nicht mal mehr befugt sind, Schlüpfer und Nachthemden für alte Damen zu bestellen, die selbst nicht fähig sind, so „neumodische Geräte“ wie das Internet zu bedienen.

Viel härter trifft die Überreglementierung aber den Umgang mit akut psychotischen Menschen. Die Schutzgesetze zur Wahrung ihrer Freiheit werden seit Jahren immer mehr in die Absurdität ausgedehnt. Unter dem Stichwort Psychiatrie-Kritik werden Betreuer, Sozialarbeiter, Ärzte und Behörden durch politische Entscheidungen immer handlungsunfähiger und viele von ihnen durch ausuferndes Gutmenschentum gleichzeitig handlungsunwilliger. Was die Leute nicht begreifen, ist, dass man den Betroffenen schadet, wenn man sie in einer akuten Phase ihrer Krankheit nicht durch Zwangsmaßnahmen unterbringt. Man gibt sie ihrem Wahn und der Verwahrlosung preis. Zustandsverschlechterungen, Krankheiten, Missbrauch und Todesfälle durch nekrotische Wunden oder Suizide sind die Folge. Zum anderen sind sie eine erhebliche Gefahr für jeden unbescholtenen Bürger, der zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort ist – der Fall Hanau, sollte das erneut in aller Grausamkeit bewiesen haben.

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