Keine Verkehrswende, dafür eine deftige Niederlage für grüne Verkehrspolitik: In der Hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden wird keine sogenannte »Citybahn« gebaut. Das ergab am Sonntag ein Bürgerentscheid. Eindeutig das Ergebnis: 62,1 Prozent stimmten gegen den Bau, 37,9 Prozent machten ihr Kreuz auf den keineswegs neutral gestalteten Stimmzetteln bei »Ja«. Bemerkenswerte 46,2 Prozent der Bürger beteiligten sich an der Abstimmung.
Als »verpasste Chance für die Wiesbadener Verkehrswende«, wertete die Grünen-Fraktion im Landtag das Ergebnis. »Das Projekt hätte Stau verringert, das Stadtklima verbessert und den Stadtbäumen eine Verschnaufpause gewährt, denn insbesondere die Stadtbäume leiden unter Luftverschmutzung und Klimawandel.«
Die Citybahn sollte Wiesbadens Verkehrsprobleme lösen, versprachen die Planer. Eine neue Schienenstrecke quer durch die Stadt sollte Mainz und Wiesbaden verbinden und Nachbargemeinden im Taunus anbinden, eine »Jahrhundertchance«, wie Wiesbadens Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende (SPD) vermeldete. Die letzte Straßenbahn Wiesbadens fuhr 1955, flexiblere Busse traten an ihre Stelle, teilweise sogar als Elektrobusse mit elektrischer Oberleitung.
Die Propaganda für eine Citybahn (klingt besser als Straßenbahn) vor allem mit dem Argument »Klimaschutz« lief auf Hochtouren. Polemisch wurden Kritiker der Bahn als rückwärtsgerichtete Autonarren abgemeiert. Die wiesen auf die hohen Kosten der Bahn von rund einer halben Milliarde Euro hin, sowie auf die Folgen einer über zehn Jahre währenden Großbaustelle in der Innenstadt und auf zerstörte alte Alleen. Mit der neuen Straßenbahn solle es noch enger in den bereits gedrängten Straßen der Innenstadt werden. Die Linie bietet kein Netz und ist für Bewohner der abseits gelegenen Stadtteile keine Alternative.
Vor der Abstimmung tat das Rathaus alles, um auf den Straßen der Innenstadt das perfekte Chaos anzurichten und drastisch vor Augen zu führen, wozu man in der Lage ist. Straßen wurden für Autos gesperrt, grüne Wellen wurden gestoppt, der Verkehrsfluss maximal behindert. Auf wichtigen Straßen wurden »Umweltspuren« eingerichtet. Die sind meist leer, die Autos stauen sich auf der verbliebenen Spur daneben. Auf einer Reihe von Straßen dürfen nicht einmal mehr Anwohner parken. Mehr Radverkehr, mehr Bus und Bahn und weniger Autos hätten die Grünen gern.
Wiesbaden ist damit für denjenigen eine Reise wert, der sich Verkehrspolitik ansehen will, die allein auf das Motto »Auto raus« reduziert ist. Damit wird auch eine vernünftige Diskussion über teilweise problematische Verkehrssituationen in den Städten verhindert.
Der grüne Verkehrsdezernent Andreas Kowol hatte schon vor dem Entscheid gedroht, deutlich mehr Busspuren einzurichten und damit dem Autoverkehr noch weniger Platz einzuräumen. Er nimmt gern die Schützenhilfe der NGO »Deutsche Umwelthilfe e.V.« (DUH) an, die kräftig in die Landeshauptstadt hineinregiert und auch gegen Wiesbaden auf Einhaltung der NOx-Grenzwert geklagt hat. Die Stadt habe, so Kowol, vor Gericht ein Versprechen abgegeben, im Jahr 2020 den Grenzwert für NO2 unter 40 µg/m3 zu erfüllen, das auch eingehalten werden müsse. Das gehe nur mit Autos raus.
Eine zentrale Rolle spielt eine Luftmessstelle an der Ringkirche in der Innenstadt, die einen Monatsmittelwert von 44 µg/m3 meldet. Die Position dieser Messstelle verstößt allerdings gegen die Richtlinien der EU. Zudem muss man diesen absurd niedrigen Grenzwert mal mit den erlaubten NO2-Werten am Arbeitsplatz von 950 µg/m3 und in der Schweiz mit 6.000 µg/m3 vergleichen. In Amerika liegt der Grenzwert für Straßen bei 100 µg/m3 und damit etwas mehr als doppelt so hoch wie in unseren Straßen. Mit der Gesundheit der Menschen haben die EU-Richtlinien nichts mehr zu tun.
Die DUH hatte vor dem Bürgerentscheid mit Fahrverboten gedroht, wenn die Bürger nicht für die neue Straßenbahn abstimmen. In einem Brandbrief an den Wiesbadener Oberbürgermeister droht der Verein mit einer Fortsetzung der Klage gegen die Stadt. Im Februar 2019 hat die Stadt vor Gericht einen ganzen Maßnahmenkatalog präsentiert, wie die gemessenen Werte noch um ein paar Mikrogramm pro Kubikmeter unter den Grenzwert gedrückt werden sollen. Damit gab es kein Dieselfahrverbot in Wiesbaden. Der Abmahnverein will jetzt von der Stadt bis zum 20. November hören, wie die Luft »besser« werden soll.
»Da sie in ihrem Schreiben ein großes Augenmerk auf die Entscheidung zur City Bahn am 1. November legen, ist es mir aber ein Anliegen, Ihnen vor der Abstimmung hiermit zumindest eine Zwischennachricht zukommen zu lassen,« schreibt devot Verkehrsdezernent Kowol am 22. Oktober an die DUH zurück. »Dass sie die Fortschritte, die wir bei verschiedenen Maßnahmen bereits erzielt haben, würdigen, freut mich – und alle Fachämter sowie unseren umfassenden Mobilitätsdienstleister ESWE Verkehr, die jeden Tag hart dafür arbeiten.«
Er listet die Erfolge auf: »So hat sich der Radverkehrsanteil auf dem ersten Ring seit Einführung der Umweltspuren verdoppelt, die Fahrzeit der Busse auf dem höchst belasteten Abschnitt zwischen Bahnhofstraße und Oranienstraße hat sich um ein Drittel verkürzt.«
»Ihre Wahrnehmung, dass eine solch große verkehrliche Veränderung auch kritische Diskussionen hervorruft, ist zutreffend. Dies ist vermutlich auch darauf zurückzuführen, dass die Umgestaltung des Verkehrsraumes aktuell in einem Tempo geschieht, dass die Wiesbadenerinnen und Wiesbadener aus den vergangenen Jahrzehnten nicht gewohnt waren.«
Die Kritik der Wiesbadener berührt ihn allerdings nicht: »Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass die im Luftreinhalteplan festgeschriebene baldige Vervollständigung der durchgehenden Umweltspur durch diese Debatten nicht beeinträchtigt wird«, flötet er der DUH zu.
Und fährt fort: »Mit ihrem Appell für das Projekt treten Sie daher bei mir offene Türen ein. Gemeinsam mit dem Oberbürgermeister, der Mehrheit der Stadtverordnetenversammlung, der Bürgerinitiative Pro CityBahn und weiteren lokalen Akteuren wie Fridays for Future werbe ich seit Monaten mit Veranstaltungen, Publikationen, Videos und persönlichen Gesprächen für eine Zustimmung am 1. November. Erst kürzlich hat der Magistrat ein umfassendes Sachinformationsblatt mit den wichtigsten Argumenten für das Projekt per Post an alle 170.000 Haushalte der Stadt versandt.«
Die Abstimmung in Wiesbaden zeigt, was geschieht, wenn grüne Traum-Verkehrspolitik auf Realität stößt. Für die Mehrheit der Bürger ist die Verkehrspolitik zum Alptraum geworden. In vielen Straßen der Innenstadt darf nicht mehr geparkt werden, die Anwohner müssen sehen, wo sie ihr Auto abstellen. Es sind schon dramatische Zustände erreicht worden. Lange Verkehrsstaus strapazieren die Nerven der Bürger, sie kosten Zeit und Schaden erst recht der Umwelt.
Traumtänzer maßen sich an, die halbe Innenstadt für neue Straßenbahnschienen aufzureißen. Und hoffen dass dies gelingt. Doch sie bekommen noch nicht einmal fertig, eine alte Eisenbahnstrecke wieder in Gang zu setzen. Die führt seit rund 130 Jahren vom Wiesbadener Bahnhof durch den Taunus in die Nachbarsiedlungen Taunusstein, Bad Schwalbach und weiter ins Ahrtal. Sie wurde lange Jahre mit Schienenbussen bedient, transportierte zuverlässig Pendler morgens in die Stadt und abends wieder heim. Also die Realisierung des grünen Traums vom Nahverkehr.
Die unter Denkmalschutz stehende idyllische Strecke wurde von der Bahn eingestellt, der letzte reguläre Zug verkehrte 1983, die Pendler bevorzugten das flexiblere Auto.
Ein Eisenbahnverein versuchte, die Strecke mit Sonderfahrten auf alten dampflokbespannten Zügen unter vielen Mühen aufrechterhalten. Lastwagen beschädigten eine Eisenbahnbrücke, verschiedene Weichen sind kaputt, die Strecke wurde daraufhin gesperrt. Es gab Arbeitskreise, Kommissionen, eine Machbarkeitsstudie – doch ein Zug fährt bis heute nicht. Wiesbadener stimmten bei einer Zeitungsumfrage mehrheitlich für die Reaktivierung dieser Bahn.
Im grünen Himmel ist Jahrmarkt, auf den Straßen dagegen herrscht Verkehrschaos, das kostet Zeit, Geld und Nerven. Ein naheliegendes und verhältnismäßig einfaches Projekt können sie nicht realisieren, dafür von einem Jahrhundertgroßprojekt träumen. Davon haben die Bürger Wiesbadens offenbar die Nase voll – wie vermutlich auch in vielen anderen Städten.