Denken Sie für einen Augenblick an die Menschen in Ihrem Leben, an Ihre Familienmitglieder etwa, an Freunde oder Arbeitskollegen. Wenn Sie die Augen schließen und in Ihre Erinnerung hineinhören, welche Wortkombination, welche eine Frage, welches eine Fragment können Sie diesem Menschen zuordnen?
Ich habe ein klein wenig lang über diese Frage meditiert und mein Gedächtnis befragt. Ich darf Ihnen zwei Ergebnisse verraten.
Es mag von latenter Egozentrik zeugen, doch in Zusammenhang mit Elli und den beiden Kindern »höre« ich hier jeweils Formulierungen, die mich ansprechen.
Die Elli-Formulierung ist: »Sag mal, Schatz?!« – Diese drei Wörter können in der Praxis eine Frage bedeuten, auch mal eine Aufforderung, es kann eine dringende Mahnung sein oder einfach eine Lokalisierung innerhalb der Wohnung; was »Sag mal, Schatz?!« wirklich bedeutet, das hängt jeweils davon ab, wie Elli das »a« in »Schatz« intoniert – »Scha-a–a—atz« bedeutet etwas vollständig anderes als »Scha-ä-schatz«, und wehe ich weiß das nicht!
Zu den beiden Kindern fällt mir dieselbe Formulierung ein: »Mensch, Papa!!« – Nein, das ist keine Frage, es ist eine Reaktion, manchmal eine Reaktion auf gar nichts – zumindest nichts, dessen ich mir bewusst wäre – meist aber ist »Mensch, Papa!!« die laut meinem Nachwuchs angemessene Reaktion auf eine Aufforderung, und die Bedeutung von »Mensch, Papa!« ist zu verorten auf einer Bandbreite von »Na gut, Papa, aus Gnade hebe ich meine Socken dieses eine Mal auf, doch ich tue es – als Zeichen meiner Unabhängigkeit – extra gemächlich«, bis »Paps, du hast doch nicht wirklich gedacht, dass ich die Tür nach mir schließe« – die Erfahrung sowie der Wille, generell Enttäuschungen lieber zu vermeiden, lehren mich, davon auszugehen, dass »Mensch, Papa!!« bedeutet: »Ich nehme deine Existenz wahr, sei dankbar, alter weißer Mann – und: im Übrigen bin ich der Meinung, dass mein Taschengeld erhöht werden muss.«
Indes, auch Zeiten und Denkweisen lassen sich mit prägnanten Sätzen verknüpfen – mitunter auch, selbstredend ausschließlich polemisch und essayistisch, an diesen auf-.
Man möchte ja nicht immerzu über jene Figuren schwätzen müssen, denen das Fühlen leichter als das Denken fällt, die das Gebückte ihre »Haltung« nennen und den Kadavergehorsam die neue »Zivilcourage«, doch dass der Flaneur den Regen ignoriert, hält die Witterung noch nicht davon ab, ihm nass in den Kragen zu rieseln.
Auch jenen, deren politische Himmelsrichtung die Ärzte als Sinister übersetzen, lässt sich heute ein Satzetikett aufkleben, und zwar: »Mein Bauchgefühl sagt mir …«
Je knapper die erwartete persönliche Restlaufzeit wird, umso häufiger und intensiver überlappen sich Weisheit und Ungeduld. Es gab einst Zeiten, da habe ich im Gespräch von Menschen solche Sätze zur Begründung gehört wie »mein Bauchgefühl sagt mir«, oder »meine Intuition sagt« oder »das ist doch klar, dass das gut/böse ist«, und wenn sie so etwas sagten, habe ich weiterdebattiert. Nennen Sie es Weisheit oder nennen Sie es Ungeduld, doch mit Leuten, denen sich als Markenzeichen das »mein Bauchgefühl sagt mir« anheften lässt, mit denen zu reden erscheint mir als Zeit für den sprichwörtlichen Gully.
Was für ein Formulierungsetikett würden wir uns selbst anheften? Was sind die Worte, mit denen wir dieser Tage der Welt begegnen? – Mein Vorschlag wäre ein Zitat aus einer Filmszene, die man heute selbst dann auswendig aufsagen kann, wenn man den Film »Hasch mich – ich bin der Mörder« (Original: »Jo«) gar nicht gesehen hat.
In jener Szene (hier in Deutsch auf YouTube) wiederholt Louis de Funès drei mal dieselbe inzwischen »kultige« Reaktion. Bernard Blier (spielt Inspektor Ducros) präsentiert eine Information, und Louis de Funès reagiert erstaunt mit: »Nein!« – Blier bekräftigt mit: »Doch!«, worauf Funès betont entrüstet ausruft: »Oh!« – Zusammen: »Nein! Doch! Oh!«
Wat Lustiges
Am 10. Januar 2019 meldete das Wahrheitsmagazin Spiegel über den Parteichef der Grünen, Robert Habeck:
Habeck war der häufigste Talkshowgast 2018 (spiegel.de, 10.1.2019)
Das Quartett an der Spitze der jungen Talkshow-Hoffnungen bei ARD und ZDF wird übrigens (laut statista.com) ergänzt von Christian Lindner (FDP), Peter Altmaier (CDU) und Annalena Baerbock (Grüne). Die nächsten Plätze gehen dann weiter an SPD, CDU, CDU, SPD, Die Welt (Alexander), Die Linke, CDU, Jusos, CDU, Grüne, FDP, SPD, Grüne und so weiter.
Wenn Herr Habeck auch nur die Augen aufschlägt, steht der Staatsfunk bereit, davon zu berichten. Herr Habeck ist zu unbeherrscht zum Twittern, und lässt es also sein? Sofort eine Meldung dazu! (tagesschau.de, 7.1.2019, sogar mit Video auf zdf.de, 7.1.2019) – Herr Habeck wird von einem Branchenmagazin als »Politiker des Jahres« geehrt? Das muss berichtet werden! (ZDF.de, 31.2.2019) Habeck gibt ein Buch heraus? Interview mit ihm, augenblicklich! (zdf.de, 13.12.2018) Die CDU hat eine neue Vorsitzende? Was sagt Herr Habeck dazu? (mediathek.daserste.de, 10.12.2018) Dieselbe Vorsitzende hat im Karneval einen Witz gemacht, der Herrn Habeck nicht gefällt, weshalb er allen Ernstes eine Entschuldigung fordert? Das muss der Bürger wissen, sofort! (zdf.de, 6.3.2019) Man weiß wirklich, wirklich nicht, worüber man im Fall Habeck berichten soll? Dann stellen wir ihm doch »Fragen«, die mit »2018 war doch ein Superjahr« beginnen, bieten ihm die Chance, seine Phrasen zu setzen (interessant: er hofft, dass andere Parteien sich den Grünen anschließen), und titeln mit »Habeck möchte Wahlerfolge fortsetzen« (zdf.de, 7.1.2019).
Sie können ja selbst, etwa bei zdf.de, nach Habeck suchen, und Sie könnten glatt den Eindruck gewinnen, dass der Staatsfunk für den Habeck eine 8-Milliarden-Euro-Gratiskampagne fährt.
Diese Woche kann nun jenes Wahrheitsmagazin – endlich! – eine Meldung des »ZDF Politbarometers« zitieren, und glücksselig titeln:
Habeck laut Umfrage beliebtester Politiker in Deutschland (spiegel.de, 28.3.2019)
Was soll man da noch kommentieren? Außer, natürlich: »Nein! Doch! Oh!«
Der Text zu Herrn Habecks übergroßer Beliebtsheitskraft ist bebildert mit einem Foto ebendieses Herrn, mit schmachtendem Blick, samt der Warnung: »Robert Habeck kommt!« – Herr H. schaut sehr zufrieden. – Für einige Journalisten ließe sich vermutlich Ähnliches sagen.
Übrigens: Laut dem Umfrageinstitut INSA, auf dessen Wort ich dann doch etwas lieber baue, ist Herr Habeck in der Beliebtheit »nur« auf Platz Drei (focus.de, 29.3.2019). – Nein! Doch! Oh! – Es könnte glatt sein, dass die Jubelmeldung des ZDF etwas zu früh gekommen ist.
Wat weniger Lustiges
Der Wahn wirft seinen Schatten voraus, länger schon. Nicht nur der Erfolg des Herrn Habeck ist ein Fall für »Nein! Doch! Oh!«, da gibt es mehr, und es ist weniger heiter.
Vor einiger Zeit verbreiten sinistre (im medizinischen Sinne) Medien diese De-Facto-Fake-News:
TERRORISMUS – Rechtsextreme wollten womöglich einen ICE entgleisen lassen – und es auf Flüchtlinge schieben – Alice Weidel gefällt das. (vice.com, 6.11.2018)
Im Münchner Paralleluniversum war man noch ein klein wenig vorsichtiger:
Stahlseil über ICE-Strecke bei Allersberg – Ermittler prüfen auch rechtsextremen Hintergrund (sueddeutsche.de, 6.12.2018)
Beide linkspopulistische Publikationen beziehen sich übrigens auf eine Meldung des »Redaktionsnetzwerk Deutschland« (siehe auch »Neues von der Medienmacht der SPD« bei achgut.com, 20.2.2019).
Einige Monate später nun lesen wir eine andere Meldung zum selben Fall:
U-Haft für ISIS-Terrorist und dessen Ehefrau (…) ISIS-Terrorist Qaeser A. (42) verübte im vergangenen Jahr mit Stahlseilen Anschläge auf ICE-Strecken in Deutschland. (bild.de, 28.3.2019)
Es war wohl doch kein Rechtsextremer. Es war wohl ein Iraker, der samt seiner Frau als Flüchtling nach Europa gekommen war (siehe merkur.de, 29.3.2019) und eine Arbeit in einer Sicherheitsfirma (!) gefunden hatte.
Nein! Doch! Oh!
Alles lange Worte
Ob Sie die fast-schon-lustigen Meldungen mit Herrn Habeck betrachten oder die eher angsteinflößende Meldung mit dem Iraker, der als Flüchtling kam und Deutsche töten wollte, in so vielen Fällen möchte man ausrufen: Nein! Doch! Oh!
Der Mueller-Report ergibt, dass die ganze Russland-Verschwörungstheorie der Trump-Hasser eben das war? (siehe »Trump, der Mueller-Report … und wir«) Nein! Doch! Oh!
Doppelt so viele kriminelle Clans in NRW wie gedacht? (welt.de, 29.3.2019) Nein! Doch! Oh!
Immer mehr Rentner leben in Armut? (bild.de, 28.3.2019) Nein! Doch! Oh!
Und so weiter, und so fort – Nein! Doch! Oh!
Das prägnante »Nein! Doch! Oh!« in heutiger ironischer Verwendung ließe sich so umformulieren: »Wäret ihr auch nur für zehn Cent ehrlich gewesen, dann hättet ihr das ahnen können. Der milliardenschwere Staatsfunk gibt Herrn H. mit den ganz großen Plänen für Europa eine Gratis-Plattform, wo er seine brachialpopulistischen Talking Points absondern kann, Woche für Woche für Woche, kaum hinterfragt, dafür umso mehr angeschmachtet, und jetzt ist er plötzlich beliebt – nein, sowas aber auch! Ihr ladet Leute ein, die innerlich zerrissen sind zwischen Ideologie und Realität, und sie haben gelernt, ihre Zerrissenheit nach außen zu projizieren – und dann wundert ihr euch, dass Willkommenskultur nicht ganz so perfekt klappt, weil alles, was schlimm ist, nur von den pösen rräächten Purschen kommen kann?« – Ach, schuldige Unschuld, das sind alles lange Worte, von daher, kürzer: Nein! Doch! Oh!
Nicht sofort Nein
Ich habe Elli gefragt, welchen Satz sie mit mir verbindet; ihre Antwort war: »Sag nicht sofort Nein!«
Es war mir nicht bewusst! Elli meint, dass ich das täglich sage – und wenn ich darüber nachdenke, dann wirkt das nicht falsch auf mich – und dass mich diese Formulierung charakterisiert. Sie erzählt etwas von einem Gärtner, der versucht, seine »Gedankenpflänzchen« davor zu bewahren, dass die Außenwelt sie schon im Keim zertrampelt.
Wenn ich mich selbst in diesen Tagen zusammenfassen müsste, dann wäre es tatsächlich – immer wieder und immer mehr: »Nein! Doch! Oh!«
Wenn ich es ausrufe, dieses »Nein! Doch! Oh!«, dann spüre ich in mir auch wachsende Ermüdung am Rechtbehalten. Die Realität hat die Angewohnheit, die Realisten zu bestätigen, die Bestätigung der Ideologen findet sich immer nur in deren eigenen Ideen.
Wir sagen, etwas müde, etwas ironisch, und doch auch etwas schmunzelnd: Nein! Doch! Oh! – Viel lieber würde ich ehrlich und unironisch sagen: Oh, ich lag falsch, ihr lagt richtig, es ist alles super geworden! Schön!
Die Häufigkeit, mit der wir heute ironisch ausrufen können, »Nein! Doch! Oh!«, bekräftigt uns darin, auch weiterhin unserem Verstand zu vertrauen. Wir lagen richtig, und wir werden wahrscheinlich weiter richtig liegen.
Realität, Logik und Erfahrung sind bessere Werkzeuge zur Zukunftsvorhersage als Bauchgefühle und spontane Empörung. Manchem, der »im Bauch fühlt«, was wahr ist und was gut, hat sich vielleicht nur ein Furz im Darm verkeilt.
Es ist ein alter Schmerz: Der Kluge zaudert und zweifelt, wo der Dummkopf auf dem Marktplatz hundert neue Dummköpfe bekehrt hat.
Wir sollten unserem Verstand wenigstens halb so viel vertrauen, wie die Gegenseite sich auf ihr »Bauchgefühl« verlässt. Jedoch, wenn wieder mal passiert, was laut denen »keiner hat kommen sehen können«, dann aber sei uns zumindest der Seufzer gegönnt: Nein! Doch! Oh!
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com.
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.