Im Windschatten des seit 2014 schwelenden Ukraine-Konflikts drängten Finnlands und Schwedens Politiker und Öffentlichkeit spätestens nach den Truppenaufmärschen an der russisch-ukrainischen Grenze zunehmend auf einen Beitritt ihrer Länder in die Nato. Wir haben das hier auf TE verfolgt. Man konnte jedenfalls nur staunen: Beide Länder sind seit 1995 zwar Mitglied der Europäischen Union, aber es sind dies zwei Länder, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg betont neutral-pazifistisch positionierten. Die Nato-Option Schwedens und Finnlands konkretisierte sich dann freilich ganz offiziell nach dem 24. Februar 2022, als Putin einen völkerrechtswidrigen, brutalen Überfall auf die Ukraine gestartet hatte. Die beiden skandinavischen Länder wollen seither so schnell wie möglich unter den Schutzschirm der Nato.
Und Finnland? Dort ist die Erinnerung daran wach, dass es 1809 dem Zarenreich angegliedert wurde, wenngleich es Großfürstentum blieb. Man erinnert sich daran, dass man erst 1917/18 souverän wurde, und man erinnert sich an die zwei sowjetisch-russischen Kriege von 1939/40 und 1941-44. Finnland war damals zwar nie von der Sowjetunion besetzt worden, aber es verlor große Teile Südkareliens. Und: Finnland hat mit 1.300 Kilometern die längste Grenze eines EU-Mitgliedslandes zu Russland. Insofern ist es durchaus nachvollziehbar, dass die Finnen wie ihr Nachbar Estland, mit dem die Finnen mental und sprachlich viel verbindet (Helsinki und Tallinn sehen sich schier als Zwillinge und heißen im Volksmund Tallinki), sorgenvoll gen Moskau schauen.
Dann ging es mit Finnlands und Schwedens Nato-Beitritt überraschend schnell: Mit gewaltigen parlamentarischen Voten im Rücken stellten Finnland und Schweden am 18. Mai 2022 Anträge zur Aufnahme in die Nato: Der türkische Staatspräsident Erdoğan als einer der Staatschefs der 30 Nato-Mitgliedsländer witterte erneut ein gutes Geschäft, indem er erst heftig gegen diesen Beitritt polterte und mit einem blockierenden Veto drohte. Offiziell begründet hatte Erdoğan seine Ablehnung damit, dass die Skandinavier „Gasthäuser für Terrororganisationen“ seien. Er hatte damit die kurdische Arbeiterpartei PKK, die Kurdenmiliz YPG und die der Gülen-Bewegung gemeint.
Alles nur eine Frage des Preises?
Und nun, am Vorabend des Nato-Gipfels von Madrid vom 29./30. Juni 2022 lenkt Erdoğan ein. Er hat sich wieder einmal als Meister der erfolgreichen Erpressung profiliert. Denn ohne einen hohen Preis der Nato ging das nicht ab. Erdoğan hat viel herausgeholt: Laut Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagten Finnland und Schweden Erdoğan ein „hartes Durchgreifen“ gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK zu, die in der Türkei, der EU und den USA als terroristische Organisation eingestuft wird. Zudem wollen Finnland und Schweden eine Auslieferung von Personen prüfen, die in der Türkei unter Terrorverdacht stehen. Ein Waffenexport-Embargo gegen die Türkei steht ebenfalls auf der Kippe. Deutschland und andere Nato-Partner hatten 2019 aus Protest gegen eine türkische Offensive gegen die YPG in Nordsyrien die Rüstungslieferungen in die Türkei teilweise gestoppt. Dazu kommen Zugeständnisse der USA: Die USA werden wohl die schon vor längerer Zeit von Ankara gewünschten F-16-Kampfflieger liefern. Diese Lieferung war gestoppt worden, als die Türkei 2017 das russischen S-400-Raketenabwehrsystem kaufte. Außerdem schlossen die USA danach die Türkei aus dem F-35-Kampfjet-Programm aus. Nun aber kann Erdoğan für seine angestrebte Wiederwahl im Juni 2023 Trophäen herzeigen.
Was bedeutet der Beitritt Finnlands und Schwedens für die Nato?
Für Putin ist diese Nato-Ost-und-Nord-Erweiterung eine Provokation. Man weiß nicht, wie er darauf reagieren wird, zumal ihm auch die baltischen Staaten Nadelstiche versetzen. Litauen etwa hat die Landverbindungen für Lieferungen aus Russland bzw. Belarus in die russischen Enklave Kaliningrad (früher Königsberg) gedrosselt. Und in Estland sieht sich Putin durchaus als Schutzherr für das Drittel der Bewohner, die russischer Herkunft sind. Gegenüber dem UN-Sicherheitsrat freilich sagte Putin, die Beitritte der beiden skandinavischen Länder sehe er nicht als Bedrohung für Russland, aber Russland wisse in puncto Rüstung und Verteidigung darauf zu reagieren. Was immer das heißt.
Sodann ist die Ostsee – bis auf Kaliningrad – mit den beiden neuen Nato-Mitgliedern restlos in Nato-Hand. Zudem hat Erdoğan etwas Distanz zu Putin hingelegt. Für Russland wird es nun noch etwas schwieriger, mit Kriegsschiffen in den Atlantik zu gelangen, nachdem Erdoğan den Russen ja auch die Durchfahrt vom Schwarzen Meer in das Mittelmeer untersagte.
Auf einem anderen Blatt steht: Nachdem sich Europa mit einem Flüchtlingsdeal von Erdoğan abhängig gemacht hatte, macht sich nun die Nato von Erdoğan abhängig? Auch diese Frage haben wir bei TE ventiliert und die Frage gestellt, ob ein Potentat wie Erdoğans Türkei – die offiziell keine westlichen Werte teilt – überhaupt Mitglied einer westlichen Allianz sein kann. Dieser Frage steht freilich eine nicht minder gewichtige gegenüber: Was ist, wenn sich Erdoğan wieder stark an Putin anlehnt?
Vor allem aber: Der Beitritt Schwedens und Finnlands zur Nato ist noch lange nicht in den berühmten trockenen Tüchern. Es folgt jetzt eine gigantische Abstimmungsmaschinerie quer durch alle 30 Mitgliedsstaaten. Erdoğan könnte da noch manche Stolperschwelle einbauen.