Die Ampel hat die erste Nationale Sicherheitsstrategie in der Geschichte der Bundesrepublik vorgelegt. Sie fasst die obersten Ziele zusammen, unter die das tägliche Handeln der Regierung gestellt wird. Die DDR und die alte BRD brauchten eine solche Sicherheitsstrategie nicht. Sie waren beide Juniorpartner der Siegermächte UdSSR beziehungsweise USA – die gaben vor, wie die grundsätzliche geopolitische Strategie ihrer „Partner“ auszusehen hat. Die konnten bestenfalls in Detailfragen mitreden.
In den 33 Jahren nach der Wiedervereinigung verzichteten Helmut Kohl (CDU), Gerd Schröder (SPD) und Angela Merkel (CDU) auf eine eigene, deutsche Sicherheitsstrategie. Vor allem Merkel regierte tantchenhaft: Sie reagierte auf Krisen, bezog nur Stellung in Fragen, zu denen sie eine klare Mehrheit hinter sich wusste oder vermutete, und ansonsten fasste sie Aufgaben am liebsten gar nicht an. Dass Armee, Straßen- und Schienennetz, Arbeitsmarkt oder das Bildungswesen in einem verheerten Zustand sind, ist auch eine Folge dieser Strategielosigkeit. Diese zu beenden hat sich die Ampel bereits in ihrem Koalitionsvertrag vorgenommen. Grundsätzlich eine richtige Idee, grundsätzlich ein überfälliger Schritt.
Nun liegt die Nationale Sicherheitsstrategie also vor, Kanzler Olaf Scholz (SPD) hat sie zusammen mit vier Fachministern in der Bundespressekonferenz vorgestellt. Die letzten anderthalb Jahre Geschichte haben das Papier beeinflusst. Statt sich selbst griffige Oberziele zu setzen, wirkt die Strategie eher wie eine Reaktion auf Tagespolitik. Unter dem Eindruck des Kriegs in der Ukraine hat die Koalition ins Papier geschrieben: „Das heutige Russland ist auf absehbare Zeit die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum.“ Damit ist faktisch der Kampf gegen Russland zum obersten deutschen Staatsziel erklärt worden – zumindest zum obersten Ziel der aktuellen Bundesregierung.
Nun ist eine solche Strategiesetzung erst einmal etwas Theoretisches. Gelebt wird ein Papier in der Praxis. Und in der Praxis zeigt sich: Deutschland setzt sich kein eigenes Ziel wie etwa eine souveräne Verteidigungspolitik, sondern es ist Getriebener seiner Verpflichtungen im Bündnis Nato. Beispiel Nord Stream. Die Berichterstattung verdichtet sich, dass sowohl die CIA als auch die deutsche Bundesregierung vorab von Plänen wusste, dass ukrainische Geheimdienstkräfte einen Anschlag auf die Gas-Pipeline in der Ostsee planten. Trotzdem konnten diese Kräfte – laut Berichterstattung – ihre Pläne ungestört umsetzen. Stimmt dies, hätte ein nach Eigenständigkeit strebendes Deutschland reagieren müssen. Stattdessen hat es seine Waffenlieferungen an die Ukraine und seine Treueschwüre erweitert. Die Verpflichtungen des Bündnisses Nato und der Kampf gegen Russland kommen vor der Verteidigung der eigenen Infrastruktur.
Auf den Leitsatz, die Bündnistreue und der Kampf gegen Russland kommen vor der eigenen Souveränität, deuten auch weitere der orakelhaften Formulierungen in der Grundsatzstrategie: „Wir leben in einem Zeitalter wachsender Multipolarität. Einige Staaten versuchen, die bestehende internationale Ordnung entsprechend ihrer Auffassung von systemischer Rivalität umzugestalten.“ Chinesische Politiker haben zuletzt die Frage gestellt: Wie lautet diese Ordnung? Wer legt sie fest? Und wer wacht über ihre Einhaltung?
Zu China führt die Bundesregierung einen Eiertanz auf. In der Sicherheitsstrategie heißt es: „In dieser internationalen Lage ist China Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale. Wir sehen, dass dabei die Elemente der Rivalität und des Wettbewerbs in den vergangenen Jahren zugenommen haben; zugleich aber bleibt China ein Partner.“ Übersetzt bedeutet dieser verbale Eiertanz: Deutschland sieht in China ebenso einen Gegner wie in Russland, ist aber nicht stark genug, sich dazu zu bekennen. Zu wichtig ist China für Deutschland als Handelspartner. Zu mächtig ist das militärische Potenzial der Nation mit anderthalb Milliarden Einwohnern. Wie genau Deutschland mit China umgehen will, soll noch mal eine eigene China-Strategie regeln.
Praktisch bedeutet die jetzt vorgelegte Sicherheitsstrategie, dass Deutschland mehr für seine Verteidigung ausgeben wird. Was der damalige amerikanische Präsident Donald Trump schon 2017 gefordert hat, wird die Regierung Scholz nun einlösen: Deutschland wird künftig eine Summe für Verteidigung ausgeben, die mindestens zwei Prozent seines Bruttoinlandproduktes entspricht. Das wird Deutschland massiv herausfordern, wie Finanzminister Christian Lindner (FDP) einräumte. Wollte Deutschland das Zwei-Prozent-Ziel gleich schaffen, müsste es entweder massiv Steuern erhöhen oder Subventionen streichen. Deswegen rechnet die Ampel vorerst das „Sondervermögen“ beim Zwei-Prozent-Ziel mit ein.
An dieser Stelle zeigt sich die neue Schwäche Deutschlands. An dem Tag, an dem die Regierung die erste Sicherheitsstrategie in der Geschichte des Landes vorstellt, bekennt sie sich zu Taschenspielertricks. Beim Haushalt werden die Ausgaben fürs Militär zuerst herausgerechnet, um die „Schuldenbremse“ einzuhalten. In der Verteidigungspolitik werden sie wieder mit hineingerechnet, um das Zwei-Prozent-Ziel zu erreichen. Das klingt überhaupt nicht nach einer Wirtschaftsmacht, die ihre Sicherheit systematisch strategisch plant.
Die Bundesregierung bezieht in die Sicherheitsstrategie nicht nur militärische und außenpolitische Fragen ein. Wirtschaftskraft, Lieferketten und die Versorgung mit Arznei oder Lebensmitteln gehören ebenfalls dazu. Grundsätzlich ist ein solches Gesamtkonzept sinnvoll. Doch auch hier hapert es in der Umsetzung. Davon spricht schon die Besetzung während der Bundespressekonferenz: Vier Minister hat Scholz mit auf den Termin genommen. Den Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) aber nicht. Während Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) darüber reden, dass eine starke Wirtschaft elementar zur deutschen Sicherheit gehört, hält Habeck Vorträge darüber, dass Deutschland seine Wirtschaft halt runterfahren müsse, wenn es an Strom mangelt.
Die Nationale Sicherheitsstrategie soll die Eckpfeiler der deutschen Politik einrammen. Eine sinnvolle Idee. Doch die Einwanderung kommt in dieser Strategie so gut wie nicht vor. Der Raumfahrt schenkt das Papier zum Beispiel mehr Aufmerksamkeit als der Frage, wen und wie viele wir in Deutschland aufnehmen wollen. Also geht in dieser Frage das chaotische Wursteln weiter.
Das Papier, das die Bundesregierung nun beschlossen hat, sei „nicht der Endpunkt, sondern der Ausgangspunkt“, sagt Scholz. Jetzt komme es darauf an, das Arbeitsprogramm umzusetzen, ergänzt Baerbock. In dieser Frage sind sich die beiden also noch einig. Ein bis zuletzt nicht geklärter Punkt bleibt aber die Gründung eines Nationalen Sicherheitsrates. Den wird es nicht geben – weil beide sich nicht darauf einigen konnten, wer das Gremium führt.
In den USA gibt es einen solchen Nationalen Sicherheitsrat. Ihn führt der Präsident. Stärker als in den USA hat Deutschland innenpolitische Fragen in die Nationale Sicherheitsstrategie einbezogen. Warum dann ein solches Gremium mit weitreichendem Handlungsspielraum nach Innen von der Außenministerin geführt werden soll, erschließt sich nicht. Zumindest nicht Neutralen. Dieser Vorstoß passt in keine Nationale Sicherheitsstrategie, aber sehr wohl in die Parteistrategie der Grünen: Nämlich mehr Einfluss haben zu wollen, als ihnen der Wählerwille zugestanden hat. Dem hat Kanzler Scholz vorerst einen Riegel vorgeschoben.