Tichys Einblick
Überhangmandate und Ausgleichsmandate

Nach den Landtagswahlen in Hessen (Oktober 2018) und Sachsen (1. September 2019)

In beiden Fällen spielte und spielt die Verbindung von Mehrheitswahl und Verhältniswahl infolge des Zweistimmen-Wahlrecht eine problematische Rolle, die Wahlanfechtungen geradezu heraufbeschwört.

© bizoo_n/Getty Images

Wir haben es oft genug gehört und gelesen: Bei Wahlen mit zwei Stimmen, wie sie in Deutschland für Bundestags- und Landtagswahlen üblich sind, ist entgegen dem Wortsinn die Zweitstimme entscheidend für die Sitzverteilung in den Parlamenten und nicht die Erststimme. Die Erststimme hat demnach angeblich keinen Einfluss auf Mandatsverteilung und Regierungsbildung.

Probleme kann es mit den zwei Stimmen geben, weil für die beiden Stimmen der Wähler unterschiedliche Wahlprinzipien gelten: Für die Erststimme das Mehrheitswahlrecht, für die Zweitstimme das Verhältniswahlrecht. Widersprechen sich beide Prinzipien bei bestimmten Wahlausgängen, dann gebühre dem Verhältniswahlrecht der Vorrang. Meinte das Bundesverfassungsgericht.

Das oberste deutschen Gericht hat das unerbittlich durchgesetzt, indem sie den Gesetzgeber auf Bundesebene gezwungen hat, gesetzlich zu regeln, dass Überhangmandate einer Partei auf Grund der Erststimmen-Ergebnisse durch überproportionale Wahlkreisgewinne mit Ausgleichsmandaten für andere Parteien solange kompensiert werden müssen, bis das Ergebnis auf Grund der Zweitstimmen durch die Mandatsverteilung genau abgebildet ist. Genau das hat 2017 zur Aufblähung des Bundestages auf 709 anstatt 598 Sitzen geführt.

Die andere problematische Folge: Die Listenmandate, die nach Willen des Gesetzgebers nur 50 Prozent aller Mandate ausmachen sollen, bekommen eine Mehrheit, weil Überhangmandate aus Wahlkreismandaten immer mit deutlich mehr Ausgleichsmandaten von den Parteilisten ausgeglichen werden müssen.

Was sollen diese nicht leicht zu verstehenden theoretischen Überlegungen? An zwei praktischen Beispielen soll im Folgenden dargestellt werden, welches Unheil nach der Durchführung von Wahlen nach dem Zwei-Stimmen-Wahlrecht drohen kann.

Hessen

Gegen das vom Bundesverfassungsgericht festgelegte Prinzip, das das Wahlergebnis exakt dem mehrheitlichen Wählerwillen bei dem Zweitstimmen-Ergebnis widerspiegeln soll, wurde nach Meinung des Autors bei der letzten Landtagswahl in Hessen Ende Oktober 2018 verstoßen.

Er hat deshalb wie ein weiterer Wähler Einspruch gegen die Mandatszuteilung nach der Landtagswahl erhoben. Weil die folgende Regierungsbildung von CDU und Grünen nur eine Stimme Mehrheit hat (69 von 137 Mandaten), geht diese Mehrheit verloren, wenn dem Stimmverhältnis bei den Zweitstimmen entsprechend die Zahl der Abgeordneten auf 138 erhöht werden und dieses zusätzliche Mandat der Oppositionspartei AfD nach dem geltenden Hare-Niemeyer-Verfahren zugesprochen werden müsste. Erfreulich für die Bürger ist das nicht, denn der hessische Landtag, der eigentlich nur 110 Abgeordnete haben soll, würde von 137 auf 138 Sitze noch weiter aufgebläht und anstelle einer Koalition von zwei Parteien wäre eine echt große Koalition mit drei Parteien notwendig.

An diesem Sachverhalt, der keine Neuwahlen nötig machen muss, kaut das Hessische Wahlprüfungsgericht (der tatsächlich ein mit Richtern und Abgeordneten besetzter Parlamentsausschuss ist) nun schon seit Anfang 2019. Mit einer Entscheidung dieses Ausschusses ist nach dessen Mitteilung auf Anfrage nicht vor Herbst/Winter dieses Jahres zu rechnen.

Eigentlich ein parlamentarischer Skandal, diese Entscheidung auf die lange Bank zu schieben, zumal mit Widerspruch und genauso langer Behandlung dieses Widerspruches durch den Hessischen Staatsgerichtshof zu rechnen ist. Und dann steht auch noch die Frage im Raum, ob da nicht das Bundesverfassungsgericht das letzte Wort in dieser Sache sprechen muss.

Sachsen 

Das problematische Verhältnis von Mehrheitswahlrecht und Verhältniswahlrecht spielt auch bei der anstehenden Landtagswahl in Sachsen eine bemerkenswerte Rolle.

Der Sächsische Staatsgerichtshof hat, während die (Brief-)wahl schon 14 Tage lief, entschieden, dass die AfD nur mit einer Liste von 30 anstatt 61 Kandidaten antreten darf. Dass es vorher nach dem Willen des Landeswahlausschusses sogar nur 18 sein sollten, bleibt an dieser Stelle unerörtert.

Wenn nun die AfD auf Grund des Zweitstimmen-Ergebnisses Anspruch auf mehr als 30 Mandate hat, kann die Partei das dadurch „heilen“, dass Wahlkreise von AfD-Kandidaten gewonnen werden, die nicht durch Plätze auf der 30 Kandidaten umfassenden AfD-Landesliste abgesichert sind.

Dadurch gewinnt die Abgabe der Erststimmen eine Bedeutung, die ihr nach dem deutschen Wahlrecht gar nicht zusteht: Wahlkreisgewinne durch Erststimmen können die Mehrheitsverhältnisse im kommenden sächsischen Landtag und dann auch die Regierungsbildung entscheidend beeinflussen.

Es laufen jetzt verstärkt spezielle Erststimmen-Aktionen, die den Gewinn von Wahlkreisen durch die AfD-Kandidaten verhindern sollen. Das dürfte vor allem in den Wahlkreisen der Fall sein, in denen AfD-Kandidaten antreten, die nicht auf der Landesliste „abgesichert“ sind. Nur durch solche Wahlkreisgewinne könnte die AfD mehr als 30 Mandate erreichen.

Ob die potentiellen Wähler der anderen Parteien ihre zwei Stimmen splitten und dann in vielen Wahlkreisen dem aussichtsreichen CDU-Kandidaten oder in Leipzig und Dresden dem aussichtsreichen Kandidaten der Grünen ihre Erststimme geben, ist völlig offen. Wenn sie es in größerer Zahl tun, dann haben sie mit zwei Stimmen zum gewünschten mandatswirksamen Wahlergebnis beigetragen.

Das gilt freilich auch für den umgekehrten Fall:

Wähler anderer Parteien splitten ihre Stimmen und geben ihre Erststimme den AfD-Kandidaten, weil sie damit für „ausgleichende Gerechtigkeit“ für die Kürzung der AfD-Liste sorgen wollen. Das kann vor allem bei CDU-Wählern der Fall sein, die eine Linke Koalition verhindern wollen.

Wenn ihr CDU-Wahlkreiskandidat einen sicheren Platz auf der Landesliste hat und der AfD-Kandidat keinen, macht es aus Sicht dieser Wähler Sinn, beide Stimmen zu nutzen, um eine aus ihrer Sicht „bürgerliche Mehrheit“ zu erreichen. Auch das läuft bei dieser Fallgestaltung darauf hinaus, dass diese Wähler zwei Stimmen zur Verfügung haben, um ihren speziellen Wählerwillen durchzusetzen.

Wenn das Wahlergebnis in Sachsen am 1. September so aussieht, dass es viele Wähler gewesen sind, die ihre Stimmen wie beschrieben SO oder SO gesplittet haben, dann kann der Landeswahlausschuss und danach der Sächsische Staatsgerichtshof darüber brüten, wie sie das drohende Unheil einer Wahlwiederholung, das sie selber angerichtet haben, verhindern können. Aber vielleicht wollen sie Wahlwiederholung gar nicht verhindern, wenn die AfD aus ihrer Sicht bei der Wahl am 1. September zu gut abschneidet.

Da ist aber noch ein weiteres Problem, auch ausgelöst durch die Regelung mit Überhangmandate und Ausgleichsmandaten einerseits und die Begrenzung der AfD-Liste auf 30 Bewerber andererseits:

Wenn die CDU Überhangmandate auslöst, die die AfD nicht für Ausgleichsmandate nutzen kann, ist es bei knappen Wahlausgang möglich, dass die linken Parteien eine Mehrheit durch die Ausgleichsmandate bekommen, die sie bei Ausgleichsmandaten auch für die AfD nicht gehabt hätten.

Auch das kann zur Klärung beim Bundesverfassungsgericht enden.


Diplom-Kaufmann Dieter Schneider ist als praktizierender Wahlbeobachter ein Wahlforscher besonderer Art.

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