Boris Johnson, der frühere Bürgermeister von London und zeitweilige Außenminister ist ein Mann, der zur Frivolität neigt, das kann man kaum bezweifeln. Politik ist für ihn ein großes, nicht immer sehr ernstes Spiel. So wie Johnson als Student und als Mitglied des berüchtigten und elitären Bullingdon Club – wie es zumindest gelegentlich behauptet wird – auch schon mal nach einem Saufgelage des Clubs zusammen mit seinen ehrenwerten Freunden die Einrichtung eines Gasthauses in ihre Einzelteile zerlegt haben soll, so führte er England vor wenigen Jahren aus der EU hinaus. Jedenfalls war es ihm zu verdanken, dass die Brexiteers das Referendum über den Austritt gewannen. Einen wirklichen Schlachtplan für die Umsetzung des Austritts besaß Johnson leider nicht. Und auch, wenn es mehr als genug Gründe gibt, die EU skeptisch zu sehen, Johnsons Brexit-Coup ähnelte doch ein wenig dem berühmten Angriff der englischen leichten Kavallerie-Brigade auf kaum einnehmbare russische Artilleriestellungen während des Krimkrieges (1854), über den ein französischer General bemerkte, ein solch tollkühner Angriff sei zwar absolut großartig, aber so könne man leider nicht Krieg führen, das sei Wahnsinn („c’est magnifique mais ce n’est pas la guerre, c’est de la folie“).
Die Burka als Streitobjekt – Johnson schafft es einmal mehr in die Schlagzeilen
Seitdem Johnson nicht mehr Außenminister ist – er trat vor einem Monat zurück, weil er mit den Plänen der Premierministerin für einen weichen Brexit nicht einverstanden war – hat er wieder mehr Zeit, sich innenpolitischen Themen zu widmen und ist auch wieder als Journalist tätig. So schreibt er unter anderem für den Daily Telegraph. Man muss es ihm lassen, er versteht es Schlagzeilen zu produzieren. Vor kurzem publizierte er einen Artikel, in der er sich gegen (!) das Verbot der Burka (Vollverschleierung) und des Niqab (Gesichtsverschleierung, die die Augen frei lässt) wandte, wie andere Länder in Europa es praktizieren. Allerdings schrieb er auch, die Burka sei eine gänzlich „lächerliche“ Bekleidung und Frauen, die sie trügen, sähen aus – so wörtlich – wie „Briefkästen“ (diese sind in England relativ hoch und rund) oder wie „Bankräuber“. Unmittelbar darauf brach ein shit storm aus. Johnson wurde vorgeworfen, seine Äußerungen seien „islamophob“, ja sie seien rassistisch. Solche Vorwürfe kamen nicht nur von der politischen Linken im engeren Sinne des Wortes oder von etlichen Vertretern islamischer Verbände, sondern auch aus den Reihen der Konservativen Partei, einerseits von Politikern respektive Politikerinnen, die selber Muslime sind, andererseits aber auch von prominenten Vertretern des eher linken, EU-freundlichen Parteiflügels. Ruth Davidson, die Vorsitzende der schottischen Konservativen, die wie viele andere Gegner des Brexit froh wäre, Johnson politisch ein für alle mal unschädlich machen zu können, meinte sogar, die Burka sei eben einfach ein religiöses Symbol genauso wie ein Kreuz, das manche Männer und Frauen um den Hals trügen, nicht mehr und nicht weniger. Für das Tragen einer solchen religiösen Bekleidung dürfe man niemanden kritisieren. Mit dieser Bemerkung hatte die Diskussion dann einen vorläufigen, schwer zu unterbietenden Tiefpunkt erreicht. Wer bis dahin Ruth Davidson für eine kluge und begabte Nachwuchspolitikerin gehalten hatte, war nun eines Besseren belehrt.
Nun wird man zugeben müssen, dass Johnsons Bemerkungen taktlos und wenig klug waren. Wer so stark polemisiert, erschwert natürlich jede sachliche Diskussion, wobei man sich freilich fragen mag, ob diejenigen, die Johnson jetzt kritisieren, an einer sachlichen Diskussion überhaupt je interessiert waren. Dennoch, es wäre weitaus klüger gewesen, wenn Johnson sich an seinem Amtsnachfolger als Bürgermeister, Sadiq Khan, selber übrigens Moslem, orientiert hätte, der sich 2016 beunruhigt über die wachsende Zahl von Niqab-Trägerinnen in London äußerte, denn wenn eine Kommunikation zwischen unterschiedlichen Menschen stattfinden solle, müsse man das Gesicht des Gegenüber sehen, sonst sei eine solche Kommunikation einfach nicht möglich. Man könnte also durchaus konstatieren, dass Johnson – einmal mehr – in ein Fettnäpfchen getreten war. Macht ihn das freilich zum islamophoben Anwalt der Intoleranz oder gar zum Rassisten?
Die Inflationierung des Islamophobie-Vorwurfes
Es dürfte allgemein bekannt sein, dass die große Mehrheit der Muslime weltweit die Vollverschleierung explizit nicht für ein Gebot des Islam hält, und offenbar gibt es für ein solches Gebot keinen wirklichen Anhaltspunkt im Koran oder den Hadithen (der außerkoranischen Überlieferung von Worten des Propheten). Faktisch befürworten in der islamischen Welt nur die Vertreter von fundamentalistischen respektive salafistischen Auslegungen der muslimischen Tradition die Vollverschleierung, die auch das Gesicht der Frau, nicht nur ihre Haare ganz oder weitgehend unsichtbar macht. Das erklärt, warum auch ein muslimisches Land wie Marokko, dessen Herrscher sich als Nachfolger des Propheten und „Befehlshaber aller Gläubigen“ sieht, die Herstellung von Burkas (allerdings einstweilen nicht von Niqabs) und ihren Verkauf vor kurzem verboten hat. Macht das den marokkanischen König nun zum Islamhasser oder gar zum Rassisten? Wohl kaum. Auch darf man nicht übersehen, dass es ja gerade der Sinn der Burka und auch des Niqab ist, die Trägerin für die Blicke der Männer unattraktiv werden zu lassen, ja mehr noch, sie als Frau und sogar als Person verschwinden zu lassen, weil man glaubt, dass im öffentlichen Raum eben nur Männer sichtbar sein dürfen. Von daher wird eine Burkaträgerin, ob nun aus eigenem Antrieb oder unter dem Druck ihrer männlichen Umgebung, eben doch zu einem gesichtslosen Objekt, weil nur ein solches Objekt nicht die Begierde der Männer weckt, wie die Befürworter der Burka meinen. Genau darauf wollte Johnson wohl, wenn auch in sicherlich wenig geschickter und sehr provokanter Form hinweisen.
Man sollte auch nicht vergessen, dass er ja ein Verbot der Burka ausdrücklich ablehnte, obwohl man für ein solches Verbot vermutlich durchaus juristische Argumente finden könnte. Namhafte Juristen auf dem europäischen Kontinent sehen das jedenfalls so, und eine ganze Reihe von Staaten haben entsprechende Gesetze verabschiedet. Man muss daran erinnern, dass in einem liberalen Rechtsstaat das Individuum zwar sehr weitgehende Freiheitsrechte besitzt (und sich daher natürlich nach eigenem Geschmack kleiden und seine Religion frei ausüben kann), aber eben nicht das Recht, sich selber in rechtswirksamer Form in die Sklaverei zu verkaufen – obwohl das zumindest im angelsächsischen Bereich bis ins späte 18. Jahrhundert in Form der „indentured servitude“ durchaus möglich war. Im Grunde genommen beruht der ganze freiheitliche Verfassungsstaat auf der Annahme, dass ein Verzicht eines Menschen auf seine angeborene Freiheit nie rechtswirksam sein könne. Wer in einem freiheitlichen Staat lebt, kann eben nicht auf sein Person-Sein verzichten. Das könnte auch in diesem Fall durchaus ein relevantes Argument sein.
Die Heuchelei triumphiert
Aber wie immer man diese Dinge sehen mag, der Ketzerprozess gegen Boris Johnson, der jetzt offenbar eröffnet werden soll, zeigt, wie die inflationäre Verwendung von Schlagworten wie Islamophobie und Rassismus jede Diskussionskultur zerstört. Ja, Johnson ist ein frivoles enfant terrible, das an guten Tagen kein Fettnäpfchen auslässt und sei es noch so tief, und ja, mit Johnson zusammen in derselben Parlamentsfraktion zu sitzen, gleicht vermutlich oft der sprichwörtlichen Busfahrt, bei der die Marx-Brothers am Steuer sitzen. Aber hier wird doch ersichtlich mit zweierlei Maß gemessen. Einer der prominentesten Atheisten der westlichen Welt ist heute der Naturwissenschaftler und Darwin-Verehrer Richard Dawkins. Sein Hass auf jede Form von Religion kennt keine Grenzen und er hat sich unter anderem zur Überzeugung bekannt, dass die katholische Erziehung eines Kindes genauso schlimm sei, (wenn nicht schlimmer) wie ein sexueller Missbrauch dieses Kindes.
Nun hasst Dawkins nicht nur den Katholizismus, sondern auch andere Konfessionen und Religionen, nicht zuletzt auch den Islam, den Protestantismus vielleicht etwas weniger. Aber dennoch wäre es nicht fern liegend, ihn wegen seiner Bemerkungen als „katholophob“ einzustufen – wenn es ein solches Wort gäbe – und deshalb zu ächten, wenn der Katholizismus den gleichen Schutz genösse wie die konservativen Varianten des Islam. Aber das geschieht natürlich nicht, denn Kritik, auch extreme Kritik an christlichen Konfessionen gilt eben in westlichen Gesellschaften grundsätzlich mittlerweile als legitim, wenn man sich nicht gerade, in sagen wir, Polen aufhält, wo man das anders sehen mag.
Hier offenbart sich dann in der Diskussion über den islamischen Fundamentalismus, und darum, nicht um den Islam an sich geht es hier ja, doch ein hohes Maß an Heuchelei. Das Erschreckende dabei ist, dass sich viele Politiker einer bürgerlichen Partei wie der Tories, sei es aus Opportunismus oder einfach nur, um einen verhassten Rivalen in der eigenen Partei mit wenig Aufwand loszuwerden, diese Heuchelei selber zu eigen machen. Sie wollen Johnson durch ein regelrechtes Disziplinarverfahren innerhalb der Partei demütigen. Ihnen scheint nicht klar zu sein, dass dadurch ein Großteil ihrer Wähler politisch heimatlos wird, denn unter den Stammwählern der Tories dürften diejenigen die Mehrheit bilden, die über die Burka ähnlich denken wie Johnson, falls sie nicht sogar ein Verbot befürworten. Es sind diese Wähler, die die urbane Linke zum „gammon-vote“ rechnet, weil ihre rötlichen englischen Gesichter angeblich so aussehen wie gepökeltes Schweinefleisch (gammon), ohne die die Tories auf absehbare Zeit nicht wirklich mehrheitsfähig sein werden. In England ist schon einmal eine ziemlich chaotische rechte Protestpartei aus dem Nichts aufgetaucht, Ukip, und hat das Land durch den Brexit tiefgreifend verändert, denn ohne Ukip hätte es kein Referendum über die EU-Mitgliedschaft gegeben. Glaubt man in Zukunft gegen Derartiges gefeit zu sein, weil die Ukip-Wähler alle Rentner sind, die demnächst sterben werden? Es könnte sich bald erweisen, dass diese Rechnung nicht aufgeht und den linken Flügel der Konservativen Partei, der von Politikerinnen wie Ruth Davidson angeführt wird, ein sehr böses Erwachen erwartet.