Zum Muttertag erschien in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ein Manifest mit der Überschrift: „Schafft endlich den Muttertag ab“.
Denn den Muttertag findet Autorin Julia Schaaf richtig schlimm, weil er Mütter „auf ihre Rolle als Mütter reduziert“, was genau so furchtbar daherkommt wie die Zeichnung, die ihre Zeitung zu ihrem Text stellte.
Die zeigt Käfermütter mit Käferkindern. Schlimmer geht’s nimmer: „Diese Käferchen finde ich richtig schlimm. Mütter als niedliche, etwas tumbe Insekten, die den ganzen Tag nichts anderes zu tun haben, als mit ihrer Brut auf einer Wiese herumzusitzen.“
Mit dem Muttertag verbindet Schaaf traumatische Erinnerungen, die so tief gehen, dass sie selbst jetzt noch etwas zwischen „nie“ und „lange zurück“ durcheinanderkommt, wenn sie darüber schreibt: „Ich konnte mit dem Muttertag noch nie etwas anfangen. Die Zeiten, in denen ich als kleines Mädchen Spaß daran hatte, am zweiten Sonntag im Mai den Frühstückstisch zu schmücken, extradünne Pfannkuchen für meine Mama zu backen oder ihr ein Stickbildchen zu schenken, liegen lange zurück. Hochgehalten wurde dieser Tag der zelebrierten Dankbarkeit in meiner Familie nicht. Es waren die siebziger, achtziger Jahre, die bürgerliche Kleinfamilie war als Ursprung von vielerlei Übel in Verruf geraten“.
An dieser Stelle setzt die Bezahlschranke ein, die ich respektieren will.
Im deutschen Journalismus existiert der Abschaffungsaufruf schon länger als festes Format. Die Überschrift lautet immer: „Schafft endlich xx ab“, es folgen meist Schilderungen über gedankliche Unordnung und frühes Leid. In der zurückliegenden Woche hatte der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow gefordert, die 3. Strophe von Fallerslebens Deutschlandlied als Nationalhymne abzuschaffen, weil er seine, Ramelows, Erinnerung an die Naziaufmärsche von 33 bis 45 nicht ausblenden kann. In der gleichen Woche verlangten Schüler dringend die Abschaffung schwieriger Matheabi-Aufgaben. Und kürzlich rief Kevin Kühnert dazu auf, den Kapitalismus abzuschaffen.
Das erscheint deshalb so merkwürdig, weil in Deutschland keine Muttertagsfeierpflicht, keine Nationalhymnenmitsingpflicht, keine Abiturpflicht und noch nicht einmal eine allgemeine Kapitalismuspflicht existiert, auch keine allgemeine Wehrpflicht, Impfpflicht, Pimpfpflicht oder die Pflicht, eine bürgerliche Kleinübelfamilie zu gründen. Kein Fußballer der Mannschaft muss die Nationalhymne mitbrummen. Es heißt ja schließlich auch nicht mehr Nationalmannschaft. Jeder kann zum Miteigentümer von BMW werden– aktueller Aktienkurs: 68 Euro – aber auch dem Kapitalismus entfliehen. Wer beispielsweise aus dem geschäftigen Süddeutschland in die Kevinstadt Berlin zieht, hat mental schon einmal die Hälfte des Weges nach Caracas hinter sich gebracht. Berlin ist übrigens auch der Hort unbürgerlicher Großfamilien ohne Abiturverpflichtung, Fallersleben wird dort garantiert nicht gesungen, es bietet also in jeder Hinsicht einen Gegenentwurf.
Das heißt auch: Es darf also erstaunlicherweise jeder immer noch sehr vieles, trotz aller Appelle und trotz aller schon im Gang befindlichen Bemühungen, die Räume etwas enger zu machen bzw. zu framen. Jeder darf sogar sofort von hier verschwinden, ohne vorher zu fragen, noch braucht keine Bundesfluchtsteuer gezahlt zu werden. Und wahrscheinlich würde die Kasse sogar die Kosten für eine Therapie zum Aufarbeiten der Erinnerung ans Backen extradünner Muttertagspfannkuchen übernehmen.
Trotzdem lautet im herrschenden Neocalvinismus der Beschluss, irgendetwas, was jemand privat für ein Übel hält, für alle abzuschaffen. Erst einmal die kleinen Dinge; Fleischverzehr, Flugverkehr und Individualverkehr folgen dann etwas später.
Vor diesem Kontrast fällt es stärker auf als jemals zuvor, was für ein erzliberales, weltoffenes, gelassenes Staatsoberhaupt Preußen einmal mit Friedrich II. hatte. Er war Männern wie Frauen zugeneigt, wenn auch nicht Fifty-Fifty, mehrsprachig, hoch gebildet, Stratege, Komponist, Historiker und Musiker; er holte mit den Hugenotten echte und hochqualifizierte Flüchtlinge in sein Reich. Religion war ihm nicht so wichtig, jeder konnte seine oder auch keine und jedenfalls seine Fasson haben, solange er sich ans Allgemeine Landrecht hielt, in das der König übrigens auch schon das Selbstbestimmungsrecht für geschlechtlich nicht klar zugeordnete Menschen hineinschreiben ließ. Für individuelle Fragen suchte und fand er individuelle Lösungen. Als ihm beispielsweise zwei adlige Damen die Frage vorlegten, welcher von ihnen wegen des Adelsrangs der Vortritt beim Kirchgang gebührte, schrieb er an den Rand des Briefs: „Die größere Törin geht voran.“
Gallige Schriften gegen und Karikaturen von sich ließ er bekanntlich tiefer hängen, damit jeder etwas davon habe. Der Gedanke an ein Karikaturennetzwerkdurchsetzungsgesetz wäre ihm völlig fremd gewesen. Wie gesagt, nur allgemeiner Gesetzesgehorsam musste sein. Groß- oder Kleinfamilien, die mit ihren Hochzeitskutschen anderen die Landstraße nach Französisch Buchholz versperrt hätten, wäre das schlecht bekommen. Und nie passte der Monarch besser in die Gegenwart, oder vielmehr, würde er passen mit dieser Staatsmaxime:
„Eine Regierung muss sparsam sein, weil das Geld, das sie erhält, aus dem Blut und Schweiß ihres Volkes stammt. Es ist gerecht, dass jeder einzelne dazu beiträgt, die Ausgaben des Staates tragen zu helfen. Aber es ist nicht gerecht, dass er die Hälfte seines jährlichen Einkommens mit dem Staate teilen muss.“
Kurzum, gegen diesen alten weißen Mann aus dem vorvorvorigen Jahrhundert fallen große Teile des derzeitigen politischen und journalistischen Personals in Deutschland erheblich ab. Das Idealland des Wochenrückblicksschreibers wäre übrigens eins, über dem eine altpreußische Fahne flatterte mit dem goldfadengestickten Spruch von David Bowie: „Die Unterschiede sind es, die man hegen und pflegen muss. Die Gemeinsamkeiten kommen auch ohne uns klar.“
Aber gut, ich versuche mich, diesem Land anzupassen, in dem ich wahrscheinlich so lange festhängen werde, bis Katrin Göring-Kühnert die Bundesfluchtsteuer durchgesetzt hat. Ich werde jetzt also die allgemeine Abschaffung von etwas fordern, was mir ausgesprochen lästig fällt, auch ohne traumatische Kindheitserinnerung. Ich fordere die Abschaffung der Grünen. Denn wer die Spur aufnimmt und sich fragt, woher die Verkniffenheit in diesem Land eigentlich stammt, die Ungelassenheit, diese reiswaffelfahle Lust am Schulmeistern und Denunzieren, das anschwellende Geschlechts- , Rassismus- und Klimanotstandsgetröte und das dazu passende Anbiedermeiern der Medien, der kommt unweigerlich zu diesem Hysteriereaktor, der schon seit Jahren die meisten anderen Parteien und dieses Land verstrahlt, und deshalb dringend abgeschaltet gehört.
Einen ersten Anfang gab es am vergangenen Samstag Abend im Hopfingerbräu am Brandenburger Tor, als ein junger Mann als Vorgruppe von Milo Yiannopoulos auftrat.
Ich vermute, Friedrich II hätte Milo Yiannopoulos zum Tee nach Sanssouci eingeladen, einfach, weil er unterhaltsame Menschen lieber mochte als pietistische Tugendbolde.
Bei der nächsten Kanzler- , Bundespräsidenten- oder Wasauchimmerwahl und auch schon vorher sollte einmal ganz ergebnisoffen die Frage diskutiert werden, ob sich nicht doch irgendwo ein Kandidat (m/w/d) findet, der dem alten Fritz auch nur ein bisschen ähnelt. Kriege könnte er ja mangels Kriegsgerät nicht mehr führen, insofern wäre nichts zu befürchten. Friedrich müsste nicht gleich geklont werden, sondern nur ein wenig als Maßstab in diesem maßstab- und grenzenlosen Gemeinwesen dienen.
Es muss ja nicht für alle Zeiten so bleiben, dass die größere Törin vorangeht.
Der Beitrag von Alexander Wendt ist zuerst bei PUBLICO erschienen.