Tichys Einblick
Solschenizyn lehrt

Muss man alles verlieren, um frei zu sein?

Mit den Falschen zu Mittag essen → Job weg. In Auto-Industrie arbeiten → Job weg. Gutmenschen wollen dein Haus → Wohnung weg? – Was bedeutet Freiheit in einer Zeit und einem Land, wo man jederzeit fürchten muss, plötzlich alles zu verlieren?

© Sharosh Rajasekher

Die folgende Szene spielt in einem Moskauer Ministerium, zur Zeit von Stalins Herrschaft. Sie stammt aus dem Buch Im ersten Kreis von Solschenizyn. Ein Ingenieur wurde als Häftling in das Ministerium gebracht. Der Minister will wissen, wann der Voice Coder, ein Geheimprojekt, fertiggestellt wird.

Der Minister bekommt keinen Termin, und er versucht, den Ingenieur einzuschüchtern. Um nah an das Gefühl des Originals zu kommen, hat mein Vater (er lässt Sie grüßen und hält uns auch weiterhin für Weicheier) die Szene heute frisch aus dem russischen Original übertragen – ab hier spricht also Solschenizyn, via Wegner-Vater:

Abakumov hatte auch eine Stimme, die wie der Donner laut sein konnte, und er konnte mit ihr Angst einjagen. Aber diesmal fühlte er, dass es kaum hilfreich wäre zu schreien. Es wurde ihm auch klar, dass dieser Häftling eine harte Nuss ist.

Er warnte also nur: »Hören Sie, Häftling, wenn ich Sie nett behandle, dann dürfen Sie nicht vergessen…«

»Und sollten Sie mich grob behandeln, dann würde ich mit Ihnen gar nicht reden, Bürger Minister. Sie können ihre Obristen und Generäle anschreien, diese Leute haben in ihrem Leben zu viel zu verlieren, ihnen mag das alles leid tun.«

»Wie Sie wünschen, wir werden auch mit Ihnen fertig.«

»Da irren Sie sich, Bürger Minister!« – Da konnte man für einen Augenblick einen Funken offenen Hasses in der Brille von Bobynin sehen. – »Ich habe nichts, verstehen Sie, einfach nichts! Meine Frau und das Kind können Sie sich nicht nehmen – eine Bombe hat sie mitgenommen. Und meine Eltern? Die starben schon. Und mein ganzes Vermögen auf dieser Erde – ein Taschentuch, und ein Overall, und die Unterwäsche darunter, ohne Knöpfe (er entblößte seine Brust und zeigte sie ihm) – die gehören dem Gefängnis. Freiheit habt ihr mir schon vor langem weggenommen, und mir diese zurück zu geben übersteigt Ihre Kräfte, weil Sie sie selbst nicht haben. Ich bin etwa 42 Jahre alt, verurteilt habt ihr mich für 25 Jahre, im Arbeitslager war ich schon, gefesselt war ich, die Hunde haben mich auch bewacht, und in der Kompanie mit besonders strengem Regime war ich auch – womit können Sie mir noch drohen? Was wollen Sie mir noch wegnehmen? Meine Arbeit als Ingenieur? Dadurch werden Sie mehr verlieren als ich. Ich werde jetzt rauchen.«

Abakumov öffnete eine Schachtel der ›Troikas‹, die für Kremlin hergestellt wurden, und schob sie Bobynin zu: »Bitte, nehmen Sie von diesen.«

»Nein, danke. Ich bleibe bei meiner Marke. Sonst huste ich.« – Er holte eine Selbstgedrehte hervor. – »Übrigens, versuchen Sie es zu verstehen und geben Sie es weiter, dorthin, wer es da oben braucht, dass Sie stark sind nur so lange, so lange Sie den Menschen nicht alles wegnehmen. Aber der Mensch, dem Sie alles weggenommen haben, ist Ihnen nicht untergeordnet – er ist wieder frei.«

Selbst wenn Du nichts falsch machst

Zurück vom Nobelpreisträger von 1970 – damals waren die Preise doch noch mehr wert – zu den Nachrichten von heute. Hinter vorgehaltener Hand hört man schon länger, dass Menschen echte Angst haben, alles zu verlieren, wofür sie gearbeitet haben, was ihnen wichtig ist – ihre relevanten Strukturen. Zeichen mehren sich, dass wir alles verlieren könnten, als Gesellschaft wie auch als Einzelne.

»Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden«, so heißt es, doch in der Praxis wird es zur Makulatur. Wer sich heute auch nur mit Politikern der Opposition zum Mittagessen trifft, kann seine Stelle verlieren (welt.de, 25.9.2019: »Auf einem Foto mit Jörg Meuthen – Filmförderung trennt sich von ihrem Chef«). Entlasse Einen, erziehe Tausende. Einmal der Opposition die Hand geschüttelt – Job weg. Im schönen neuen Deutschland bist Du jederzeit ein falsches Kopfnicken davon entfernt, alles zu verlieren.

Selbst wenn Du nichts falsch machst, wenn du nie eine abweichende Meinung äußerst und einen Abweichler nicht einmal anschaust, ja sogar vor ihm ausspuckst, selbst dann kannst du alles verlieren. »Wir steuern mit Tempo auf eine Rezession zu«, so wird in welt.de, 24.9.2019 ein Ökonom zitiert.

Menschen verlieren in Deutschland ihre Arbeitsplätze, und viele dieser Menschen haben sich nicht einmal durchs Denken falscher Gedanken oder Grüßen eines Oppositions-Politikers schuldig gemacht. Einige jüngere Beispiele: »Pfeffenhausen: Brandl schließt Werk – 120 Arbeitsplätze betroffen« (br.de, 19.9.2019) – »Entschieden: Sodecia trennt sich von 200 Mitarbeitern« (freipresse.de, 19.9.2019) – »Bis zu 400 Jobs betroffen – Krones baut deutschlandweit Stellen ab« (t-online.de, 17.9.2019) – und so weiter, und so fort.

Es gibt verschiedene Gründe, warum man in Deutschland alles verlieren kann. Nicht nur bei Anhängern der umbenannten SED wird ganz offen von Enteignungen geredet. Die Propaganda wirft den Leichtgläubigen absurd beliebige Zielgruppen hin – aktuell etwa Fahrer von sogenannten »Sports Utility Vehicles«, nicht aber die spritsaufenden Kleinbusse oder die Limousinen der Politiker und Staatsfunk-Bonzen – die Gerngehorsamen bekommen einen Feind vorgesetzt, und so sind sie davon abgelenkt und würden gar nicht merken, wenn ihnen gerade alles weggenommen würde.

Nichts mehr zu verlieren

Wenn wir mit unseren Handlungsmöglichkeiten zufrieden sind, dann nennen wir es Freiheit.

Unsere gefühlte Freiheit (gibt es eine andere?) kann (unter anderem) dann eingeschränkt sein, wenn unser Schützen und Stützen zweier verschiedener relevanter Strukturen in Konflikt gerät. Ein Mensch kann sich verpflichtet fühlen, seinem Arbeitgeber zu Diensten zu sein, oder mit seiner Familie mehr Zeit zu verbringen – zwei relevante Strukturen – und egal was er tut, wird das eine das andere einschränken, er fühlt sich also unfrei.

Was aber, wenn keine relevanten Strukturen mehr existieren würden? Wer dem Menschen alles nimmt, der nimmt ihm auch die Angst davor, dass ihm etwas genommen wird. Wer dir alle greifbaren und externen Kreise zerstört, der lässt dir nur deine inneren Kreise als relevante Struktur.

»In ihren letzten Momenten zeigen Menschen, wer sie wirklich sind«, so sagt der Joker, und es ist natürlich so zynisch wie vermutlich wahr – wer nichts mehr zu verlieren hat, der zeichnet noch einmal nach, was ihm wirklich wichtig ist. Zeige mir deine relevanten Strukturen, und ich sage dir, wer du wirklich bist.

In Markus 10,17-27 kommt ein reicher Jüngling zu Jesus und fragt, was er tun soll, um »das ewige Leben« zu ererben. Man könnte es als »um frei zu sein« umdeuten, um auch als »Ungläubiger« die eigentliche Aussage zu bewahren. Jesus antwortet: »Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm, folge mir nach!« – Der junge Mann aus Markus 10 geht traurig davon. Er will ja frei sein, will »das ewige Leben« erben, will ganz moralisch sein, aber diese Art von Freiheit will er auch wieder nicht.

Der Mensch, der alles verliert, der kann danach handeln, wie er wirklich ist, er ist also im tiefsten Sinne frei – doch will man diese Art von Freiheit wirklich anstreben?

Aufrecht zu stehen

Alles zu verlieren, das bedeutet zuerst nicht Freiheit – alles zu verlieren bedeutet zuerst Leid, viel Leid.

Sie mögen mich für altmodisch halten, aber ich halte die Abwesenheit von Schmerz für besser als Schmerz. Ich bin kein Linker, kein Wir-sind-mehr-Schreier und keiner der Fanatisierten damals im Sportpalast. Ich will weder Schmerz erleiden noch Schmerz zufügen.

Ich will Freiheit leben, schon bevor man alles verliert und dann keine andere Wahl hat.

Die, deren Job es ist, die Zeichen der Zeit zu deuten, lesen da erstaunliche Dinge. Ein Kolumnist sinniert, er werde wohl seine »Bindungen an Deutschland lockerer gestalten.« – Ein anderer raunte vor Jahren irgendwas von einer »Insel mit Vulkan«. Machen wir uns nichts vor: Die »Guten« werden nicht zufrieden sein, bis nicht auch der letzte Abweichler aus dem Exil schreibt, weil er nicht anders kann, als retten zu wollen, was von der Heimat noch zu retten ist.

Wir haben schon einiges verloren und wir werden noch mehr verlieren. Der Staatsfunk wird tun, was der deutsche Staatsfunk eben tut, wird die Masse erziehen, »nehmt uns auch noch den Rest!« zu brüllen, und seine schmierigen Witzemacher – was und wen man dort für solche hält – werden ihre gehirngewaschenen Jünger aufwiegeln, den Leuten, die nicht alles hergeben wollen für den großen Sieg des Globalismus, es eben zu nehmen, »wir sind mehr« und »wir diktieren hier« brüllend.

Wir haben schon jetzt einiges verloren, wir werden noch mehr verlieren. Wer sich nicht mehr an die Orte traut, wo vor wenigen Jahren noch seine Kinder spielten, der hat ein Stück seiner Heimat verloren – gibt es so etwas wie eine »halbe« Heimat überhaupt?

Sagt, was gesagt werden muss! Habt Mut, frei zu sein, bevor ihr alles verliert. Man wird euch später sagen: Hättet ihr frei geredet, bevor ihr alles verloren habt, dann hättet ihr vielleicht nicht alles verloren. Doch wenn ihr frei redet, dann könnt ihr wiederum alles verlieren. Was also raten?

»Aber der Mensch, dem Sie alles weggenommen haben, ist Ihnen nicht untergeordnet«, so sagt der Ingenieur im Moskauer Ministerium bei Solschenizyn. – Denkt und redet schon jetzt, als ob ihr nicht untergeordnet wäre.

Denkt, als ob ihr keine Angst hättet, doch bleibt vorsichtig. Das nämlich ist die Kunst, die es heute braucht: Mit dem Stiefel im Nacken aufrecht zu stehen.


Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com.

Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.

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