Mit seinem Klima-Beschluss vom 24. März hat das Bundesverfassungsgericht die deutsche Klima-Politik darauf verpflichtet, künftig mit einem CO2-„Restbudget“ von 6,7 Gigatonnen auszukommen. Das ist eine dramatische Einschränkung, die für Wirtschaftsunternehmen und Bürger gigantische Anstrengungen und Kosten mit sich bringen wird. Für andere Staaten gibt es solche Einschränkungen nicht. Für Deutschland bedeutet es einschneidende Wettbewerbsnachteile, während die deutschen Anstrengungen für den Klimaschutz praktisch nichts bringen. Der Freiburger Staatsrechtler Professor Dr. Dietrich Murswiek schreibt in einem Beitrag für das Online-Portal „FAZ-Einspruch“, dass es für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts keine rechtliche Grundlage gibt. Im Interview erläutert er seine Argumente
TE: Herr Professor Murswiek, Sie sagen, mit dem Klima-Beschluss habe das Bundesverfassungsgericht seine richterlichen Kompetenzen überschritten. Wie kommen Sie dazu?
Murswiek: Das Grundgesetz verpflichtet den Staat zwar zum Klimaschutz. Die Umweltschutznorm des Artikels 20a – „Der Staats schützt die natürlichen Lebensgrundlagen auch in Verantwortung für die künftigen Generationen“ – verpflichtet zum Schutz gegen jedwede von Menschen verursachte Umweltbeeinträchtigungen, also auch gegen solche, die auf anthropogene Treibhausgasemissionen zurückgehen. Daraus ergibt sich aber kein konkretes Temperaturziel, auf das die Erderwärmung, soweit von Menschen verursacht, begrenzt werden müsste. Deshalb lässt sich aus dem Grundgesetz auch kein CO2-Restbudget ableiteten, das noch maximal für CO2-Emissionen zur Verfügung steht.
Aber genau dies hat das Bundesverfassungsgericht doch gemacht!
Aber hat nicht das Bundesverfassungsgericht schon immer neue Grundrechte „erfunden“, zum Beispiel das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ oder das „Computergrundrecht“, also ein „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“?
Das sind in Wirklichkeit keine neuen Grundrechte, die das Bundesverfassungsgericht erfunden hat. Das Bundesverfassungsgericht hat durch Interpretation die Inhalte vorhandener Grundrechte für neue oder Anwendungsfelder entfaltet. Was das Bundesverfassungsgericht im Klima-Beschluss macht, ist etwas ganz anderes. Es sagt ja selbst, dass sich aus Artikel 20a kein Temperaturziel ergibt. Also insoweit findet keine Verfassungskonkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht statt, sondern das Gericht bleibt bei seiner Verfassungsinterpretation im Rahmen der bisherigen Rechtsprechung. Und dann macht es diesen unbegreiflichen und aus meiner Sicht juristisch nicht begründbaren Sprung, indem es sagt, was der Gesetzgeber mit dem Bekenntnis zum Pariser Temperaturziel beschlossen hat, sei jetzt Verfassungsrecht.
Aber der Gesetzgeber könnte den Paragraphen 1 des Klimaschutzgesetzes mit seinem Temperaturziel ändern.
Aus Sicht des deutschen Rechts ja, völkerrechtlich aber nicht. Denn die Vertragsstaaten des Pariser Abkommens dürfen nicht vom dort vereinbarten Temperaturziel abrücken. Mit seinem Klima-Beschluss hat deshalb das Bundesverfassungsgericht im wesentlichen einem Anliegen der Grünen zum Durchbruch verholfen. Diese hatten 2018 im Bundestag den Antrag gestellt, Artikel 20a des Grundgesetzes um folgende Formulierung zu ergänzen: „Für die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich verbindliche Ziele und Verpflichtungen des Klimaschutzes binden alle staatliche Gewalt unmittelbar.“ Das war – nicht nur, aber vor allem – auf das Pariser Abkommen bezogen. Der Antrag wurde vom Bundestag abgelehnt. Das Bundesverfassungsgericht macht nun mit seinem Klima-Beschluss die von den Grünen beantragte, aber vom Bundestag abgelehnte Verfassungsänderung in ihrem wesentlichen Inhalt zum geltenden Verfassungsrecht. Damit schwingt sich das Bundesverfassungsgericht selbst zum verfassungsändernden Gesetzgeber auf und überschreitet seine richterlichen Kompetenzen. Es macht sich zum Vollstrecker einer grünen Agenda, für die es bisher keine parlamentarische Mehrheit gab.
Sie sagen doch, dass sich aus dem Pariser Abkommen gar kein Restbudget ableiten lässt. Wo liegt der Fehler?
Das Bundesverfassungsgericht agiert also nach Ihrer Ansicht als eine Art juristischer Arm von Fridays for Future?
Nur radikale Klimaaktivisten und die Grünen-Fraktion im Bundestag sind zuvor auf die Idee gekommen, das Temperaturziel des Pariser Abkommens könnte als rechtlich bindende Verwirklichungspflicht mit der Folge eines für die Staaten verbindlichen Emissions-Restbudgets verstanden werden. Alle Staaten und alle Juristen – mit Ausnahme einiger Aktivisten, die durch „strategische Klimaklagen“ gerichtlich erzwingen wollen, was sich auf demokratischem Wege nicht durchsetzen lässt – sind sich einig, dass das Temperaturziel keine Verpflichtung auf ein Restbudget impliziert. Das Bundesverfassungsgericht übernimmt hier die Position der Grünen-Fraktion, die aus dem politischen Bekenntnis des Pariser Abkommens, das Temperaturziel anzustreben, eine Pflicht zur Erreichung dieses Ziels und damit einen „materiellen Umweltstandard“ herbeiphantasiert hatte.
Dietrich Murswiek ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht an der Universität Freiburg, www.dietrich-murswiek.de. Einen Video-Vortrag von ihm zu „Klimapolitik und Grundgesetz“ mit kritischer Beleuchtung des Klima-Beschlusses finden Sie hier.