Nur wer seine Vergangenheit kennt, kann seine Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten. Wer diesen Ausspruch des Alt-Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker auf das derzeitige Verhalten der russischen Regierung zum Maßstab macht, kann nichts Gutes berichten. Mit dem gestrigen Verbot der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ zeigt der Kreml endgültig, dass er in der sowjetischen Vergangenheit nichts Anrüchiges erkennt und entsprechend dazu bereit ist, auch seine Gegenwart nach alten Traditionen zu bestimmen.
Die Vorgänge um den Regime-Kritiker Nawalny, wie auch eine ganze Reihe von Verurteilungen politisch Andersdenkender, sprechen eine klare Sprache. So aggressiv sich das diktatorische Putin-Regime nach innen gibt, so tritt es auch nach außen auf. Immerhin fordert der russische Herrscher eine Art neues Jalta-Abkommen, in dem wie schon im Februar 1945 der Westen der Aufteilung Europas in Einflusszonen zustimmte und damit mit einem Federstrich die Völker Osteuropas und auch einen Teil Deutschlands der totalitären Herrschaft Stalins auslieferte.
Diesmal geht es um die Aberkennung des Selbstbestimmungsrechts der Ukraine und – wenn auch noch nicht offiziell ausgesprochen – der Baltischen Staaten Litauen, Estland und Lettland. Eine spätere Ausdehnung dieses Anspruchs auf Polen ist nicht ausgeschlossen.
Dieser letzte offensive Akt sowjetischer Außenpolitik scheiterte an der Reaktion der NATO, welche mit der Stationierung von Pershing-Raketen in der Bundesrepublik reagierte. Dann erfolgte der bekannte Zusammenbruch des Sowjet-Imperiums. Es schien mit der Präsidentschaft Gorbatschows und später Jelzins eine lange Phase der Verständigung mit der Staatengemeinschaft und der Demokratisierung in Russland angebrochen zu sein.
Dazu gehörte auch die Aufarbeitung des Terrors der Stalinzeit. Man gedachte öffentlich der Millionen Opfer, deren Zahl auf mindestens 25 Millionen Tote – manche sprechen sogar von geschätzt 60 Millionen Ermordeten. 1991 sei zu einem Symbol des Willens der Aufarbeitung der düsteren Jahrzehnten nach der Oktoberrevolution die Menschenrechtsorganisation „Memorial“ entstanden. Zu ihren Mitbegründern gehörte der Friedensnobelpreisträger und über viele Jahre in Russland verfolgte Andrei Sacharow. Kein anderer als Wladimir Putin wünschte zu Beginn seiner Präsidentschaft im Jahr 2000 „Memorial“ für seine Arbeit viel Erfolg.
Die mittlerweile größte, an demokratischen Idealen ausgerichtete Organisation hat heute Hunderte von Mitarbeitern innerhalb Russlands und Arbeitsgruppen in aller Welt. Auf drei Säulen stütze sich die NGO: erstens die wissenschaftlich-historische Aufarbeitung der Stalin-Zeit, zweitens dem Gedenken an die Opfer durch Mahnmale und Ausstellungen, sowie drittens die kritische Beobachtung der aktuellen Entwicklung. Schon seit Jahren wurde der Druck auf „Memorial“ immer spürbarer. Schließlich wurde die Organisation zu einer feindlichen „Agenten-Truppe“ erklärt – gestern wurde sie von einem Moskauer verboten.