Tichys Einblick
Unbildungsdünkel

Verstopfte Netze und Strom aus Luft: Wie Medien und Politiker uns das Verlernen lehren

Man sollte sich nicht zu sehr über die ARD-Geschichte vom stromerzeugenden Fernseher aus Afrika amüsieren. Sie schadet weniger als Politiker, die an Stopfelektronen glauben. Auf naturwissenschaftlichem Gebiet herrscht mittlerweile ein Unbildungsdünkel, der in eine düstere Zukunft führt.

Getty Images | Screenshot: ARD/Tagesschau

Vor einigen Wochen machten die Zuschauer der ARD Bekanntschaft mit Maxwell Chikumbutso, vermittelt durch Jana Genth, Korrespondentin im Studio Johannesburg. Die Journalistin stellte Chikumbutso als Erfinder vor, der einen Flachbildfernseher nach eigenen Worten zu einem, wie es in dem Beitrag hieß, Mikroschallgerät umgebaut hatte, das Energie aus sich selbst erzeugt, um entweder den Fernseher ohne Stromanschluss oder andere Dinge zu versorgen.

„Ein ganz normaler Flachbildfernseher steht auf dem Tisch“, heißt es in Genths Beitrag. „Ein ganz normaler? Naja, nicht ganz: Das Stromkabel fehlt. Maxwell Chikumbutso hat das Gerät ausgeschaltet und erklärt: ‚Jetzt ist es ein Mikroschallgerät, das Energie generiert. Selbst wenn der Fernseher aus ist, können durch ihn andere Dinge mit Strom versorgt werden. Alles andere ist an, der Fernseher ist aber aus. In ihm ist eine Art Generator, an den man andere Elektrogeräte anschließen kann.‘ Wenn sie sich durch weitere Überprüfungen bewahrheiten würde, wäre die Erfindung aus Simbabwe sensationell. ‚Der Fernseher nutzt gewissermaßen kostenlose, erneuerbare und grüne Energie. Keine Emissionen, kein Verbrauch, keine Rohstoffe. Er nutzt die Funkwellen und wandelt sie um‘, so Chikumbutso.“

Die Frage, die selbst der Korrespondentin durch den Kopf gegangen sein muss, nämlich, warum noch nicht überall in der Welt ein emissions- und rohstoffloser Maxwell-Energieerzeuger steht, beantwortet der Erfinder auch. Es liegt an der Arroganz von Weißen im globalen Norden, die ihm das Aushebeln des Energieerhaltungssatzes einfach nicht zutrauen. „Seine Ideen“, hieß es bei Genth beziehungsweise in dem Beitrag der ARD-Hauptnachrichtensendung, „könnten ein ganz großer Wurf sein. Und doch werde ihm in weiten Teilen Europas nicht einmal zugehört, kritisiert Chikumbutso.“ Die Deutsche Welle spitzte die Tagesschau-Geschichte vom Energieerzeugungsfernseher (interessanterweise im Wirtschaftsressort) noch etwas weiter zum lupenreinen Rassismusfall zu.

Screenshot / Deutsche Welle

Die Angelegenheit nahm einen kurzen, vorhersehbaren Verlauf. Da die Tagesschau hauptsächlich ein älteres Publikum unterhält, finden sich dort Zuschauer in größerer Zahl, zu deren Bildungsbiografie noch ein regulärer Physikunterricht gehört. Sie wiesen die Redaktion auf den 1. Hauptsatz der Thermodynamik hin; die Korrespondentin teilte aus Südafrika mit, ihr sei es leider nicht gelungen, die ihr von Maxwell Chikumbutso benannten amerikanischen Wissenschaftler zu kontaktieren, die ihm die Funktionsfähigkeit seines leider bisher unpatentierten Gerätes bestätigt hätten. Dann verschwand der Tagesschau-Beitrag ganz, dafür erschien eine längere redaktionelle Erläuterung, in der es im weitesten Sinn auch wieder um Wunderfernsehen ging.

„Hohe Qualitätsansprüche an journalistische Arbeit sind uns sehr wichtig“, hieß es dort, „und wir gehen davon aus, dass alle Korrespondentenberichte, die wir veröffentlichen, vorab nach allen journalistischen Grundregeln geprüft wurden.“ Künftig werde das Team gemeinsam daran arbeiten, „die Abläufe weiter zu verbessern“.

Im Fall Maxwell hätte die Prüfung nach allen ARD-Grundregeln darin bestehen können, zumindest einmal den Erfindernamen zu googlen. Dann wäre ein Faktenchecker schneller als der Tagesschau-Gong gleich auf mehrere Fundstellen zu Chikumbutso gestoßen, der seit Jahren als Witzbold durchs Netz geistert, unter anderem mit seinem Tesla, dem eine einzige Ladung für ein ganzes Autoleben reicht.

Screenshot via Twitter / Jana Genth

Nach ein, zwei zusätzlichen Klicks hätte ein Qualitätsanspruchsprüfer außerdem erfahren, dass sich Funkwellen, die beispielsweise Radiostationen aussenden, durchaus in Strom umwandeln lassen, nur erstens mit einer sehr bescheidenen Ausbeute, die unmöglich für den Betrieb eines Fernsehers reicht, und zweitens durch Entnahme der Energie, die der Radiostation erst einmal irgendwoher zufließen muss.

Bei dem Tagesschau-eigenen Perpetuum mobile mit angeschlossenem Rassismusdetektor handelte es sich – und nur deshalb erzählen wir die Chose hier nach – um eine echte Weiterentwicklung, und zwar die des sogenannten Grubenhundes. Am 18. November 1911 veröffentlichte die „Neue Freie Presse“ in Wien den Leserbrief eines Dr. Ing. Erich R. von Winkler zu dem Erdbeben im Ostauer Kohlenrevier, das er im Kompressorenraum der Grube erlebt haben wollte. Doktor Winkler reihte darin ziemlich mutwillige Absurditäten im Technikerjargon aneinander, etwa den „heftigen Ausschlag (0,4 Prozent) an der rechten Keilnut“ nach dem ersten Erdstoß. „Nach zirka 55 Sekunden erfolgte ein weit heftigerer Stoß, der eine Verschiebung des Hochdruckzylinders an der Dynamomaschine bedingte, und zwar derart heftig, daß die Spannung im Transformator auf 4,7 Atmosphären zurückging.“

Auf den Jokus mit dem heftigen Ausschlag von 0,4 Prozent und der Spannung in Atmosphären folgte dann der Satz, der dem ganzen Unternehmen und überhaupt dieser Textsorte später ihren Namen gab: „Völlig unerklärlich ist jedoch die Erscheinung, daß mein im Laboratorium schlafender Grubenhund schon eine halbe Stunde vor Beginn des Bebens auffallende Zeichen größter Unruhe gab.“

Spätestens nach der Verballhornung des Grubenhunt, also der in Bergwerken üblichen Kohletransportlore, hätten Redakteure der „Neuen Freien Presse“ stutzig werden können. Sie wurden es aber nicht. Hinter dem Brief steckte ein Ingenieur namens Arthur Schütz, ähnlich gewitzt wie Chikumbutso. Schütz wiederum nahm hier eine Form auf, die ein angeblicher „Zivilingenieur J. Berdach“ in einem Leserbrief an die gleiche Zeitung geprägt hatte, in dem er über tellurische und kosmische Erdbeben sinnierte. Das Schreiben des angeblichen Berdach stammte von dem großartigsten Satiriker Österreichs, Karl Kraus. Und Kraus verschaffte auch dem Grubenhund-Brief eine weitreichende Popularität.

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Er behandelte die Blamage der „Neuen Freien Presse“ nicht als Anekdote, sondern als exemplarischen Fall für den Zustand der Presse. „Die Wissenschaft ist konsterniert“, schrieb er in der „Fackel“: „Sie fühlt, daß der Antigelehrte, der unter der Maske eines Dr. Ing. Erich Ritter von Winkler die Neue Freie Presse beriet, zwei Fliegen von einem Grubenhund hat schnappen lassen. Denn nicht allein der Journalismus, jene Offenbarungsmacht, die sich jeder Analphabet zulegen kann, wenn er zur Druckerschwärze greift, ist durch den Fall entblößt, sondern auch die Wissenschaft selbst. Nicht nur die Allwissenheit des Trottels hat den Kredit verloren, sondern auch die Spezialdummheit der Wissenschaft. Was hier ein Fachmann geschrieben hat und was die Fachleute noch mehr als die Journalisten beklagen müssen, ist nichts Gelinderes als die ad-absurdum-Führung des wissenschaftlichen Tonfalls.“

Seit diesem Aufsatz von Kraus gilt „Grubenhund“ als Sammelbegriff für Leserbriefe und im weiteren Sinne auch für andere Texte, die den in einer Redaktion geschätzten und geübten Tonfall imitieren, um ihr einen eigentlich offensichtlichen Unfug unterzuschieben. Im Fall der „Neuen Freien Presse“ funktionierte die Mischung aus Doktortitel, gestelztem Wissenschaftsjargon und imitierter Präzision („nach zirka 55 Sekunden“) prächtig. Zu den späten und erfolgreichen Grubenhunden gehört der Sokal Hoax, ein Aufsatz, in dem der Mathematiker Alan Sokal erklärte – und zwar ausdrücklich „ohne den geringsten Beweis oder ein Argument“ – dass es sich bei der Gravitation um ein soziales Konstrukt handelt. Die Fachzeitschrift „Social Text“ druckte den Jokus 1996 unter dem Titel „Transgressing the Boundaries: Toward a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity“ brav ab. Später schaffte es eine Wissenschaftlertruppe um die Britin Helen Pluckrose, vier ganz ähnlich gestrickte Texte, die das dekonstruktivistisch-wokistische Weltbild verhöhnten, in diversen Fachjournalen unterzubringen, sogar mit Peer Review.

Der qualitative Entwicklungssprung der Tagesschau-Erfindungserfindung liegt darin, dass die Grubenhunde früher noch von Scherzbolden außerhalb aufgezogen und zur Redaktion geschickt werden mussten. Heute erledigt das eine hauseigene Redakteurin mit nur einer findigen Ortskraft. Wie bei Kraus, Schütz und Sokal passte bei der Tagesschau alles so vollkommen, wie es sich kaum ein Parodist aus allen zehn Fingern hätte saugen können: das Energieschöpfungswunder, der missachtete globale Süden, der Rassismus Europas und nicht zuletzt das Selbstverständnis des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als Wahrheitsbringer, der die Mauer der Ignoranz am Ende doch durchbricht, egal, ob es um Massenvergewaltigungen auf dem Oktoberfest oder Strom aus der Luft geht.

Die Redakteure der „Neuen Freien Presse“ empfanden ihren Grubenhund 1911 immerhin noch als große Peinlichkeit. Wie Fanial im „Rosenkavalier“ dachten sie „Blamage! Blamage! In meinem Palais“. In der Flaggschiffsendung eines mit mehr als 8 Milliarden Abgabeneuro ernährten Medienapparats gingen die Verantwortlichen wesentlich abgeklärter mit der Angelegenheit um. Außer der oben zitierten Erklärung, man werde in Zukunft noch besser prüfen, zog Maxwells Mär keine Folgen nach sich, schon gar keine personellen. Allerdings wäre es der Gipfel der Ungerechtigkeit, die Südafrika-Korrespondentin der ARD zu feuern. Dieser Text erscheint auch, um sie gegen mögliche Strafaktionen zu verteidigen. Denn Jana Genth fügt sich in ein großes Panorama des Obskurantismus, und dort auch nur als kleines Schmuckelement.

Strukturell, um einmal das Lieblingswort anderer Leute zutreffend zu verwenden, strukturell unterscheidet sich der stromproduzierende Fernseher wirklich nicht von dem nicht mehr ganz so tief gekühlten Huhn, das nach Annalena Baerbock „das Netz an der Grundlast“ stabilisiert. Wobei eine Vertreterin derselben Partei auch erklärt, so etwas wie Grundlast sei in Zukunft nicht mehr nötig. Beziehungsweise „so was von gestern“, wie die damalige energiepolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion Sylvia Kotting-Uhl dem Plenum erklärte („Allein Ihre Unfähigkeit, sich unter Energieversorgung etwas anderes als Grundlast vorzustellen, das ist so von gestern wie Sie selbst. Die Zukunft wird flexibler sein, spannender, ja, auch anspruchsvoller: nicht mehr nachfrage-, sondern angebotsorientiert.“) Bevor sie ihren Abgeordnetenposten bekam, wirkte Kotting-Uhl als Dramaturgin an der Landesbühne Baden und leitete einen Kinderladen. In der gleichen Rede erläuterte sie übrigens auch, Flüssigsalzreaktoren würden vor allem gebaut, um atomwaffenfähiges Material herzustellen.

Der Wunderfernseher aus Simbabwe gehört in keine andere Kategorie als die Stopfelektronen, die Atomkraftwerke – und nur die – nach Ansicht des grünen Parteivorsitzenden Omid Nouripour Wind und Sonnenstrom im Netz den Weg versperren.

Bei den verstopfenden Elektronen handelt es sich gleich um ein doppeltes Wunder, erstens, weil für Sonnen-, Wind- und Biogasstrom ein gesetzlicher Einspeisevorrang gilt, und zweitens, weil es ja zu den grünen Grundargumenten zählt, dass die drei verbliebenen Atomkraftwerke so gut wie gar nichts zur Stromversorgung beitragen. Ihre Elektronen stören trotzdem überall.

Nouripour steht an der Spitze einer Regierungspartei, Baerbock, Kotting-Uhl und andere entscheiden tatsächlich über die Energieversorgung beziehungsweise Nichtversorgung von 82 Millionen Menschen mit. Bei Claudia Kemfert handelt es sich um eine medial allgegenwärtige Vertreterin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, die kürzlich, um Sokal noch einmal zu zitieren, „ohne den geringsten Beweis oder ein Argument“ die Menge der Stromspeicher im ZDF mit „noch und nöcher“ zusammenfasste. Jeder Einzelne von ihnen übt mehr Macht und Einfluss aus als eine ARD-Korrespondentin in Johannesburg.

Die installierte Kapazität der Wind-, Solar- und Pflanzengasanlagen in Deutschland liegt bei gut 133 Gigawatt, sie reicht also aus, um an sonnigen und windigen Sommertagen mehr Strom zu erzeugen, als das Land überhaupt verbrauchen kann, zumindest für ein paar Stunden mit Idealwetterlage. An weniger idealen trübstillen Tagen tragen die Anlagen weniger als drei Prozent zur Stromversorgung bei, von der Primärenergieerzeugung ganz zu schweigen, in der Strom gerade 20 Prozent ausmacht. Alle Speicherkapazitäten zusammen reichen, um Deutschland rechnerisch (je nach Verbrauch) 20 bis 40 Minuten zu versorgen. Diese Fakten kann jeder nachlesen, so leicht übrigens wie den 1. Hauptsatz der Thermodynamik.

Sie verbergen sich allerdings in einem so dichten Mythengestrüpp, dass viele Konsumenten von Kemfertauftritten, Tagesschaumeldungen und anderen Medien mit hohen Qualitätsansprüchen von allein nicht mehr herausfinden. Und viele möchten den Märchenwald auch gar nicht verlassen. Auf kaum einem Gebiet herrscht eine ähnlich große Sehnsucht nach Wundertätern und Erlösern wie hier. Daran wirken auch die oben zitierten Medien mit, die wie die ARD längst keine Grubenhunde mehr von außen brauchen. Das Wunderportal T-Online veröffentlichte vor Kurzem einen Beitrag über das „Wunder von Feldheim“, einen Text, der auch unter der Zeile „Wie ein deutsches Dorf sich frei von Putin machte“ erschien.

„Michael Raschemann blickt verzückt über den Acker“, hebt der Bericht an. „Die Sonne knallt, es ist weit über 30 Grad heiß, die Luft ist drückend schwer. Aber in der Höhe weht der Wind – und das ist für Raschemann das Wichtigste, deswegen ist der Bauingenieur so beschwingt. Denn die Feldheimer Windräder in Brandenburg drehen sich.“ Das beschriebene Wunder besteht darin, dass 56 Windkraftanlagen das gerade einmal 130 Einwohner zählende Feldheim, einen industrielosen Ortsteil von Treuenbritzen, rechnerisch versorgen. Darauf, dass sich das Verhältnis von Rotoren und Einwohnern selbst bei größter Mühe schlecht auf ganz Deutschland übertragen lässt, geht die ebenfalls sehr verzückte Autorin nicht ein. Dafür finden sich die schönen Sätze in ihrem Report: „Die Trafos arbeiten hart, verwandeln Gleich- in Wechselstrom, bereit für die Einspeisung ins Feldheimer Netz.“ Könnte der hart arbeitende Trafo auch noch sprechen, würde er vermutlich sagen: Ich bin kein Wechselrichter, Madame.

Screenshot / t-online

In einer Reportage von Deutschlandfunk Kultur über das gleiche autarke Mirakeldorf ist von „55 Windenergieanlagen“ die Rede, „die jährlich 112 Megawatt Strom produzieren“. Abgesehen davon, dass es bei Stromproduktion Megawattstunden heißen müsste – nur ein bisschen über zwei Megawattstunden pro Anlage und Jahr wäre selbst für den Ortsteil von Treuenbrietzen etwas zu wenig. Man ahnt, dass der Autorin installierte Leistung und Erzeugung leicht durcheinandergingen.

Der Autor dieses Textes zählt das nicht auf, um die Autorinnen der Feldheim-Erzählungen bloßzustellen, genauso wenig wie Jana Genth oder andere. Aber hier wirken und werken Journalistinnen, die buchstäblich nicht wissen, wovon sie schreiben. Offenbar gibt es auch in der Redaktion niemanden, ganz ähnlich wie bei der Tagesschau, dem etwas auffällt. Wie soll eine Redakteurin, wie soll ein Redakteur dieser Medienhäuser dann einen Nouripour oder eine Annalena Baerbock für ihre physikalischen Vorstellungen kritisieren?

Die Chefreporterin von T-Online Miriam Hollstein hielt es in einem Twitterbeitrag übrigens für möglich, dass radioaktive Substanz und Substanz schlechthin irgendwann verschwindet.

Medienvertreter dieses neuen Typs zeichnen sich dadurch aus, dass sie offen für alles sind. Sie wehren sich zwar gegen die Behauptung, es gebe nur zwei biologische Geschlechter. Aber gerade auf dem Gebiet von Physik, speziell Energieerzeugung, halten sie prinzipiell nichts für unmöglich.

In Leitartikeln und Bundespräsidentenreden kommt die Wendung der gespaltenen Gesellschaft öfter vor. Die Spaltung zwischen dem Teil der Bevölkerung, der auf ein naturwissenschaftliches Grundlagenwissen zurückgreifen kann, und dem, der alles glaubt, existiert tatsächlich. Leider bestimmt sie zu weiten Teilen die Politik. Und zwar vor allem dadurch, dass sich weder eine Außenministerin noch ein Parteivorsitzender oder ein Chefredakteur der Tagesschau für ihren Obskurantismus schämen. Es herrscht, anders als in Karl Kraus’ Zeiten, auch unter den Oberen und Wohlgesinnten auf dem Gebiet der Naturwissenschaften geradezu ein Unbildungsdünkel.

Obskurantismus bietet einen Ausweg aus den Zumutungen des Rationalitätsprinzips, das uns laufend Wünsche und Visionen ruiniert. Die Glaubensgewissheit, die sich sprachlich in ein wissenschaftshuberisches Abrakadabra einkleidet, gehört zu den mächtigsten Strömungen der Zeit. An amerikanischen Universitäten läuft die Debatte über den westlichen Rationalismus schon längst, den die Gesellschaft dringend loswerden sollte. Und sie sickert auch wie alles aus diesen Dekonstruktionsfabriken in deutsche Hochschulen ein. In der Zeitschrift „Mittelweg“ schrieb der Hamburger Soziologieprofessor Frank Adloff mit der unvermeidlichen Begeisterung über „alternative, nichtwissenschaftliche Formen des Wissens“, die er vor allem in den „Kosmologien und Moralwelten des globalen Südens“ vermutet. In seinem Text ruft er dazu auf, „neue Hybride des westlichen und indigenen Denkens“ zu schaffen.

Bei Ullstein erschien gerade der Sammelband „Unlearn Patriarchy“ (es handelt sich um ein Buch in deutscher Sprache mit englischen Textbausteinen als Wichtigkeitsanzeiger). Die Autorin Kübra Gümüşay befasst sich darin mit „Unlearn Sprache“, die Publico-Lesern ebenfalls bekannte Teresa Bücker mit „Unlearn Familie“, eine Friederike Otto mit „Unlearn Wissenschaft“, die Pädagogin Margret Rasfeld verlangt „Unlearn Bildung“.

Das fügt sich zu einem konzisen Programm. Nach Ansicht der Autorinnen sollen Patriarchat und alle anderen Schädlichkeiten nicht einfach nur dekonstruiert, sondern kulturell mit all ihren Spuren getilgt, also verlernt werden, weil sie das falsche westliche Denken repräsentieren. Dieser Befund stimmt so weit sogar; es gibt durchaus auch Richtiges im Schwerstverwirrten. Der medizinische Ausdruck für den von ihnen angestrebten Zustand des Verlernens lautet Amnesie.

Bei dem Wunderfernseher aus Simbabwe handelt es sich übrigens um einen ersten astreinen Hybrid aus westlichem und afrikanisch-indigenen Denken. Wobei der westliche Anteil deutlich mehr als die Hälfte beträgt. Maxwell Chikumbutso konnte sein Gegenüber ganz gut einschätzen, ähnlich wie die freundlichen Herren aus Nigeria, die immer wieder anbieten, die Millionenhinterlassenschaft verstorbener Prinzen nach Europa zu transferieren. Also dorthin, wo die neuen Schamanen und Schamaninnen gerade das große Zeitalter des Verlernens begründen.

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