Tichys Einblick
Ohne Reform des Asylsystems geht nichts

„Schaffen wir das noch mal“ – ist die falsche Frage

Ohne eine grundlegende Reform des Asylsystems wird sich nichts ändern. Wir haben uns in Deutschland auf das größte soziale Experiment unserer Geschichte eingelassen. Wie dieses Experiment ausgeht, ist offen. Ein Blick auf unser Nachbarland Frankreich jedenfalls lässt nicht viel Gutes erahnen. Von Berthold Löffler

IMAGO / Ralph Peters

Die deutsche Migrations- und Integrationspolitik steckt in der tiefsten Krise seit dem Kontrollverlust, den Bundeskanzlerin Merkel 2015/2016 ihrem Land beschert hat. Ein häufig erhobener Vorwurf in diesen Tagen lautet: Die politisch Verantwortlichen unseres Landes nähmen die Migrationsprobleme nicht mehr wahr oder leugneten sie. Aber stimmt das wirklich? Erst vor kurzem hat doch die Bundesregierung ein Rückführungsverbesserungsgesetz beschlossen. Allerdings ist das schon das vierte Gesetz dieser Art seit 2015. Jeder nur halbwegs informierte Bürger dieses Landes weiß im Voraus, dass auch dieses Gesetz wirkungslos bleiben wird. Selbst die Autoren dieser Gesetze wissen im Voraus, dass sich nichts ändern wird. Und manchmal geben sie das sogar zu. Bei genauem Hinsehen ist auch das Rückführungsverbesserungsgesetz ein Placebogesetz. Aber vielleicht geht es in Wirklichkeit ja auch um etwas Anderes.

Im September hat DER SPIEGEL (23.09.2023) aufgemacht mit dem Titel: „Schaffen wir das noch mal?“ Der Haken an der Sache: „Schaffen wir das noch mal?“ ist letztlich die falsche Frage, weil sie nur den Symptomen, nicht aber den wirklichen Ursachen der Krise nachgeht. Woran krankt die Migrations- und Integrationspolitik unseres Landes also im Kern?

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Einen Hinweis auf die wirklichen Ursachen liefern in diesen Tagen jene Leute aus Palästina, Syrien, Irak und Afghanistan, die auf unseren Straßen randalieren, Autos abfackeln und ihrem Judenhass freien Lauf lassen. Was bedeutet es, wenn jene, die angeblich als Schutzsuchende in unser Land gekommen sind, sich bei ihren Gastgebern auf diese recht eigenwillige Art und Weise bedanken? Einen Deutungsversuch hat der Nahostexperte, Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik (die Stiftung ist die Denkfabrik, die Bundestag und Bundesregierung in außenpolitischen Fragen berät) jüngst in der Phoenix-Sendung „Unter den Linden“ (30.10.2023) unternommen:

Erstens: Es gebe ein Zuviel an Einwanderung aus den falschen Ländern.
Zweitens: Die politisch-kulturellen Aspekte der Einwanderung per Flüchtlingsticket habe die politische Klasse einfach ignoriert. Hinzuzufügen ist: Keiner der Bundespräsidenten seit Christian Wulff hat es versäumt klarzustellen: Einwanderung aus fremden Kulturkreisen hat als Bereicherung zu gelten. Wer daran zweifelt, macht sich verdächtig.

Jede Therapie beginnt mit der Einsicht in die Krankheit, sagt man. Aber fehlende Einsicht ist hier gar nicht das Problem! Es geht um etwas anderes: Für kosmopolitisch-multikulturalistisch gesinnte Politiker wie Innenministerin Faeser ist Einwanderung immer wünschenswert. Denn ohne Masseneinwanderung keine multikulturelle Gesellschaft. Daher gibt es grundsätzlich kein Zuviel und auch keine Einwanderung aus den falschen Ländern. Jede Zuwanderung ist aus dieser Sicht wünschenswert, weil sie die Multikulturalisten ihrem Ziel der „bunten Wohngemeinschaft Deutschland“ näherbringt.

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Typisch für die kosmopolitisch-multikulturalistische Position ist Karin Göring-Eckardt. Sie hat schon 2015 im Bundestag triumphiert (Zitat): „Wir kriegen jetzt plötzlich Menschen geschenkt.“ Die Flüchtlinge machten Deutschland „religiöser, bunter, vielfältiger und jünger“. Die Unternehmen bekämen die „benötigten Fachkräfte“. Es sei zudem eine „schöne Ironie der Geschichte“, dass Flüchtlinge künftig die Renten von Wählern der AfD bezahlen würden. Und im November 2015 hat sie auf der Bundesdelegiertenkonferenz der GRÜNEN in Halle ihrer euphorischen Grundstimmung Ausdruck gegeben mit dem berühmten Satz: „Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Und ich freue mich drauf“. Dieser Satz kann geradezu als Kurzfassung eines Programms der multikulturellen Umgestaltung des Landes aufgefasst werden.

Zum Programm der gesellschaftlich-demographischen Umgestaltung gehört auch die Neudefinition des „Deutschseins“. Gemeint ist ein „Deutschsein“, das keinen spezifischen kulturellen Gehalt mehr hat. Gewissermaßen deutsch sein ohne deutsch zu sein. Im Deutschland der Zukunft, so die grünalternativen und linksliberalen Multikulturalisten, geht es darum, die kulturelle und gesellschaftliche Vielfalt zu gestalten. Diese „Gemeinschaft der Verschiedenen“ hilft außerdem dabei, den Nationalstaat zu überwinden. Motto: „Kulturelle Vielfalt statt nationaler Einfalt“. Erstaunlicherweise kaum thematisiert: Die Bürger dieses Landes sind gegenwärtig Zeugen eines wildwüchsigen demographischen Umbaus unserer Gesellschaft, dem jede demokratische Legitimation abgeht (so auch Julian Nida-Rümelin).

Unbeschränkte Zuwanderung und multikulturelle Umgestaltung unserer Gesellschaft waren freilich bislang gesellschaftlich nicht mehrheitsfähig. Die Politiker des multikulturalistischen Spektrums haben aber schnell erkannt, dass im individuellen Grundrecht auf Asyl die Möglichkeit steckt, den Volkswillen auszubremsen. Solange das individuelle Asylgrundrecht ein unabweisbarer, menschenrechtlicher Rechtsgrund ist, entzieht er sich der demokratischen Willensbildung. Eine denkbar großzügig gehandhabte Asylrechtspraxis sorgt für eine faktisch unbegrenzte Einwanderung von Flüchtlingen und Migranten. Und genau das bietet die Chance, die demographisch-multikulturelle Umgestaltung des Landes zu beschleunigen, ohne sich dazu eine demokratische Mehrheit beschaffen zu müssen. Das ist auch ein wichtiger Grund, weshalb die deutschen GRÜNEN so verbissen am Art. 16 a GG festhalten und permanent auf eine Ausweitung der Asylgründe drängen, Stichwort „Klimaflüchtlinge”. Ein großzügiges Asylrecht unter dem Leitsatz „Bleiberecht für (fast) alle“ ist aber die Vorstufe eines allgemeinen Menschenrechtes auf Einwanderung. Und genau das ist das Endziel des kosmopolitisch-multikulturalistischen Projektes.

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Auf der anderen Seite steht eine kommunitaristische Orientierung, die nicht unbedingt parteipolitisch festgemacht werden kann. Kommunitaristen lehnen die multikulturelle Gesellschaft ab. Sie wollen eine kulturell relativ homogene Gesellschaft. Natürlich gibt es auch in einer solchen Gesellschaft Leute, die einen anderen kulturellen Hintergrund haben. Aber der Anteil der nicht zur dominierenden Kultur Gehörenden ist insgesamt zu gering, um die kulturelle Hegemonie der Mehrheitsgesellschaft infrage zu stellen. Die kulturell relativ homogene Gesellschaft ist folglich so etwas wie eine Farbtupfergesellschaft.

Es geht also nur vordergründig um die Frage, ob „wir“ das noch mal schaffen oder nicht. Es geht nur vordergründig darum, ob die Kommunen mit dem Ansturm an Migranten fertig werden oder nicht. Es ist im Grunde ziemlich irrelevant, ob sich Bürgermeister und Landräte eine Atempause in der Zuwanderung wünschen. Wohlgemerkt Atempause. Es geht um die sehr viel grundsätzlichere Frage, ob wir die Idee einer prinzipiell grenzenlosen Zuwanderung bejahen. Ob wir eine Gesellschaft wollen, die am Ende eines jahrzehntelangen Einwanderungsprozesses eine multikulturelle Multiminoritätengesellschaft (Herwig Birg) sein wird: eine Gesellschaft, in der die ethnischen Deutschen eine – wenn auch die größte – Ethnie unter vielen sein werden; eine Gesellschaft, in der die deutsche Kultur aber ihren Vorrang verloren haben wird.

Um noch einmal auf Steinbergs These zurückzukommen, nach der Deutschland „zu viele Leute aus den falschen Ländern“ aufgenommen hat. Eines zumindest müssen sich die multikulturalistischen Befürworter einer wahllosen Einwanderung fragen lassen: Selbst wenn einem die kulturellen Folgen der ungeregelten Masseneinwanderung egal sind, welchen rationalen Grund könnten wir haben, systematisch Leute aus Kulturkreisen in unser Land einwandern zu lassen, von denen wir wissen, dass sie unsere Gesellschaft verachten, dass sie ihr feindselig begegnen oder ihr bestenfalls gleichgültig gegenüberstehen?

Wer die multikulturelle Multiminoritätengesellschaft nicht will, muss erkennen, dass die Hauptquelle der illegalen Einwanderung das derzeit geltende Asylrecht ist. Das Asylrechtssystem macht nämlich illegale Massenzuwanderung erst möglich, weil es dysfunktional ist.

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Erstens: Das deutsche und das europäische Asylrecht sind denkbar großzügig konstruiert. Es sendet an jeden Bewohner dieser Welt eine Einladung auf individuelle Prüfung einer Flüchtlings- oder Asylberechtigung (Hans-Peter Schwarz). Und am Ende kommt fast immer irgendeine Bleibeberechtigung heraus. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 2012 außerdem klargestellt, dass auch illegale Migranten einen Rechtsanspruch auf vollumfängliche Prüfung ihres Asylbegehrens haben, also nicht einfach zurückgewiesen werden dürfen.

Zweitens: Dass das Asylrechtssystem dysfunktional geworden ist, hat weitere Gründe, unter anderem: eine Flut von Rechtsvorschriften und Urteilen, an der die Exekutive zu ersticken droht; eine ständig wachsende, absurde Kompliziertheit des Rechts, mit der selbst Experten kaum mehr klarkommen; mit irrwitzigem Aufwand verbundene Verfahren zur Feststellung der Identität der Asylantragsteller; aufwendige Asylanerkennungsverfahren; ausufernde Rechtschutzmöglichkeiten; uferlos weit gefasste rechtliche und tatsächliche Abschiebungshindernisse zugunsten der Betroffenen. Zudem sind die zuständigen Behörden und Verwaltungsgerichte allein schon durch die schiere Zahl des „Massenzustroms“ völlig überfordert, wenn nicht zeitweise sogar lahmgelegt.

Drittens: Ein wesentlicher Faktor dieser Fehlentwicklung sind natürlich die Fehlanreize, auch wenn Innenministerin Faeser genau das bestreitet. Der deutsche Sozialstaat zieht Leute aus aller Welt an. In wohl keinem anderen Land gibt es Wohnung, Gesundheitsversorgung und Geld auf einem derart hohen Niveau.

Viertens: Vor allem aber ist Tatsache: Wir haben es meist gar nicht mit Flüchtlingen, sondern ganz überwiegend mit Migranten zu tun.

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Trotzdem muss kaum ein Migrant, der in Deutschland ankommt, wieder gehen. Egal, ob er einen Flüchtlingsstatus erhält oder nicht. Abschiebungen finden so gut wie nicht statt. Faktisch entscheidet damit nicht mehr der Staat, wer einwandern darf und wer nicht. Faktisch entscheiden die Einwanderungswilligen selbst, ob sie bleiben wollen oder nicht. Damit hat unser Staat eines seiner wichtigsten Souveränitätsrechte aufgegeben. Da drängt sich schon die Frage auf, ob diese Selbstentmächtigung des Staates überhaupt mit dem Demokratieprinzip und dem Prinzip der Volkssouveränität der deutschen Verfassung vereinbar ist.

Die Therapie? Es kommt darauf an, auf welcher Seite man steht. Auf der kosmopolitisch-multikulturalistischen oder der kommunitaristischen Seite. Wer die multikulturelle Multiminoritätengesellschaft will, kann sich zurücklehnen. Es reicht im Prinzip völlig aus, die Dinge im Großen und Ganzen so weiterlaufen zu lassen wie bisher. Dann wird die multikulturelle Multiminoritätengesellschaft ganz automatisch kommen. Und danach sieht es ja auch aus.

Verräterisch in dieser Hinsicht ist z.B., dass der Rückführungsbeauftragte der Bundesregierung, der FDP-Politiker Stamp, viel lieber darüber redet, wie wir noch mehr legale Einwanderungsmöglichkeiten schaffen als darüber, wie wir ausreisepflichtige Personen zur Ausreise animieren. Auch Bundeskanzler Scholz hat jüngst in Nigeria betont, man wolle die illegale Migration eindämmen, vor allem aber die legale Einwanderung fördern. Wenn Scholz heute schon mit einem Deutschland rechnet, das in absehbarer Zeit auf (ökologisch und infrastrukturell irrwitzige) 90 Mio. Einwohner anwächst (BILD vom 10.12.2022), dann ist das auch nicht gerade ein Indiz dafür, dass die Zuwanderung gebremst werden soll.

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Es stimmt schon: Die Bundesregierung möchte die illegale Einwanderung verringern. Aber nicht die Zahl der Einwanderer. Dafür hat die Bundesregierung ein zugegebenermaßen ziemlich gerissenes Rezept entwickelt: Man wandle illegale Einwanderung per Gesetz einfach in legale um, so das zum 1. Januar 2023 in Kraft getretene „Chancenaufenthaltsgesetz“. Danach können auch ehemalige Asylbewerber, deren Asylantrag als offensichtlich unbegründet ablehnt wurde, eine Chancen-Aufenthaltserlaubnis erhalten (§ 104c Abs. 3 S. 1 AufenthG).

Wer die multikulturelle Multiminoritätengesellschaft Deutschland jedoch nicht will, kommt nicht darum herum, den individuellen Grundrechtsanspruch auf Asyl abzuschaffen und durch eine institutionelle Garantie zu ersetzen. Die institutionelle Garantie überlässt es dann der demokratischen Willensbildung in den einzelnen Staaten, wie viele und welche Flüchtlinge aufgenommen werden. Bloße Verschärfungen des Asylrechts haben bisher nichts gebracht. Ohne eine grundlegende Reform des Asylsystems wird sich nichts ändern.

Wir haben uns in Deutschland auf das größte soziale Experiment unserer Geschichte eingelassen. Wie dieses Experiment ausgeht, ist offen. Ein Blick auf unser Nachbarland Frankreich jedenfalls lässt nicht viel Gutes erahnen.


Prof. Dr. Berthold Löffler ist Autor zweier Bücher zu diesem Thema:
Berthold Löffler: Flucht nach Deutschland. Wie Migration Politik und Gesellschaft verändert. W. Kohlhammer Verlag. Stuttgart 2020
Berthold Löffler: Der Riss durch Europa. Kollision zweier Wertesysteme. W. Kohlhammer Verlag. Stuttgart 2020https://www.tichyseinblick.de/kolumnen/spahns-spitzwege/volksaufstaende-katastrophenschutzplan-2012-territoriales-fuehrungskommando-bundeswehr-2022/

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