Kurz bevor Nancy Faeser am Donnerstag ihre Rede im Bundestag beendete, wandte sie sich an die Union. Die Innenministerin wollte Friedrich Merz noch eins mitgeben: Bei den gemeinsamen, am Dienstag gescheiterten Gesprächen zur Migrationspolitik zwischen Ampel- und Unionsvertretern habe doch eigentlich eine gute Atmosphäre geherrscht, sagt sie: Aber die habe offensichtlich „nicht das widergespiegelt, was im Drehbuch gestanden hat“.
Faesers Vorwurf: Die Union habe ihre Gesprächsbereitschaft nur inszeniert und von Anfang an geplant, die gemeinsame Runde mit einem großen Knall zu sprengen. Womöglich will die Ministerin mit dieser Unterstellung davon ablenken, dass sie selbst seit Tagen nach einem ziemlich verlogenen Drehbuch der Täuschung agiert.
Kurze Rückschau: Die Woche begann am Montag mit einem politischen Paukenschlag. Im Innenministerium verkündete Faeser die Einführung von Grenzkontrollen an allen deutschen Grenzen. Zugleich teilte sie mit, der Union ein Modell für eine „massive Ausweitung der Zurückweisungen“ an den Grenzen vorstellen zu wollen.
Die stiegen natürlich darauf ein und fanden sich zu den Gesprächen ein. Spätestens da wurde deutlich, dass Faeser sie getäuscht hatte. Denn die Innenministerin stellte der Union im Ministerium ein Modell vor, das im Wesentlichen nur angeblich beschleunigte Asylverfahren direkt an der Grenze vorsieht. Zurückweisungen sucht man darin hingegen vergeblich.
Das entsprechende Versprechen vom Vortag war ein großer Bluff gewesen. Trotzdem behauptet Faeser seitdem steif und fest, bei den von ihr vorgeschlagenen Verfahren handle es sich „formal“ um Zurückweisungen. Also quasi Zurückweisungen, zu denen es kommt, nachdem ein Migrant zunächst mehrere Wochen im Land untergebracht wird. Ein schlechter Witz.
Doch damit nicht genug der Täuschung: Faeser hatte am Montag vor der Vorstellung der Einzelheiten auch erklärt, es handle sich um ein Modell, das man „gemeinsam entwickelt“ habe: „Ich stelle Ihnen hier nichts vor, was Nancy Faeser mit dem Kanzler bespricht und ich spreche immer für die Koalition.“
Mittlerweile ist klar: Selbst Faesers schwaches Modell droht bereits im Schredder der Grünen vernichtet zu werden. Denn deren Parteivorsitzende Ricarda Lang erklärte am Donnerstag in der ZDF-Talkshow Maybrit Illner, Faeser (also nicht die Regierung!) habe einen Vorschlag gemacht, „und den werden wir natürlich auch in der Regierung diskutieren“.
Lang steht unter dem Druck der eigenen Partei. Derzeit kursiert ein offener Brief von zahlreichen Parteimitgliedern, in dem diese sich implizit über einen Rechtsruck der Grünen in der Migrationspolitik beschweren. In dem Papier wird schon die bereits vollzogene Abschiebung von 28 afghanischen Straftätern nach Afghanistan als „Dammbruch“ bezeichnet.
Vor diesem Hintergrund könnte selbst das bereits in den Bundestag eingebrachte „Sicherheitspaket“, das nur an den Symptomen des Migrationsdesasters herumdoktert, von den Grünen noch einmal aufgeschnürt werden: Es seien „noch wichtige Fragen offen“, erklärte die grüne Innenpolitikerin Irene Mihalic am Donnerstag im Bundestag.
Den aktuellen Stand der Faeser’schen „Migrationswende“ könnte man entsprechend so zusammenfassen: Die Ministerin will beschleunigte Asylverfahren durchführen, in Zentren, die noch zu bauen sind, mit Personal, das noch nicht existiert, und auf Basis eines Vorschlags, der schon jetzt in der Koalition wieder zerrupft wird. Mit dem Wort „Farce“ ist das noch harmlos umschrieben.
Nur noch grotesk ist auch das Agieren der FDP: Während Justizminister Marco Buschmann den Faeser-Vorschlag verteidigt und am Dienstag sogar mit vorstellte, erklärte Generalsekretär Bijan Djir-Sarai am Mittwoch im Bundestag, es dürfe jetzt niemand „einer Wende in der Migrationspolitik im Wege stehen“. Und weiter: „Es gibt keine Ampel in der Migrationspolitik.“ Das konnte man als Aufkündigung der Koalition verstehen.
Eine entsprechende Zusage gab es bekanntermaßen nicht, trotzdem ging die Union in ein zweites Treffen – nachdem Faeser sie mit ihrem Versprechen von angeblichen „Zurückweisungen“ über den Tisch gezogen hatte. Als der Union Letzteres klar wurde, brach sie die Verhandlungen dann ab – scheinbar.
Denn am Donnerstag bot Merz plötzlich an, doch noch eine weitere Runde zu drehen, jetzt mit einem neuen Vorschlag: Gegenüber den Zeitungen der Funke Mediengruppe brachte er die Idee vor, „dass wir diese Zurückweisungen ab dem 1. Oktober zunächst für drei Monate lang vornehmen“. Danach könne man Bilanz ziehen. Merz wäre bereit, darüber mit den Ampel-Spitzen zu reden – obwohl sich mittlerweile zu Genüge gezeigt hat, dass mit dieser Regierung eine Wende nicht zu machen ist.
Wenn man dem Christdemokraten wohlgesonnen ist, könnte man seine neue Aktion so interpretieren: Merz versucht, die Ampel weiter vor sich herzutreiben. Die zahlreichen Umfaller des CDU-Chefs in der Vergangenheit lassen aber anderes befürchten: Merz erträgt es nicht, dass ihm in den vergangenen Tagen vorgeworfen wurde, zu fundamentaloppositionell zu agieren. Nun will er allen beweisen, dass er doch staatstragend ist, dass er doch nicht so böse ist, wie ihn viele Medien darstellen. Er will doch weiter dazugehören.