Tichys Einblick
Merz, der Boxer mit dem Glaskinn

„Wenn ein Grüner Buh ruft, zuckt Friedrich zurück“

In gut 12 Monaten muss die Union ihren Kanzlerkandidaten küren. Die CDU hat unter Merkel das Kämpfen weitgehend verlernt – und ihr Vorsitzender fällt vor allem durch sein Zurückrudern auf. Selbst seine Unterstützer zweifeln an ihm. Ein anderer Unionspolitiker wartet auf seine Chance.

IMAGO

Auch wenn Bilder und gemeinsame Auftritte etwas anderes suggerieren sollen: Jeder Spitzenpolitiker der CDU beäugt den CSU-Chef Markus Söder argwöhnisch. Und das aus gutem Grund: Söder, damit rechnet jeder, würde 2025 gern die Spitzenkandidatur bei der Bundestagswahl übernehmen, um als erster CSU-Politiker ins Kanzleramt einzuziehen. In der ARD-Online-Sendung „Frag selbst“ erklärte er zwar, er werde dieses Mal anders als 2021 nicht versuchen, die K-Frage der Union für sich zu entscheiden: „Ich helfe sicherlich mit – auch aus Bayern und auch von der CSU – dass dieses Deutschland wieder in Fahrt kommt, aber nicht als Kanzler.“ Darauf gibt allerdings kein Konkurrent etwas.

Am 8. Oktober steht erst einmal die Landtagswahl in Bayern an. Für einen Ministerpräsidenten, der in wenigen Wochen die Wiederwahl mit einem möglichst besseren Ergebnis als 2018 anstrebt, kommt auch gar nichts anderes in Frage als die Beteuerung, ihn ziehe jetzt überhaupt nichts mehr nach Berlin. Aber jeder in München und Berlin weiß, dass er sich nach wie vor für den besten möglichen Unionskandidaten hält. Und es könnte ihm im Oktober gelingen, mit seiner CSU dieses Mal besser abzuschneiden als vor fünf Jahren, als die Christsozialen mit 37,2 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis seit 1950 einfuhren. Eine Forsa-Umfrage vom 2. August sieht die CSU bei 39 Prozent, danach folgen drei Parteien fast gleichauf: die Grünen und die Freien Wähler mit je 14, die AfD mit 13 Prozent. Die SPD käme derzeit auf 9 Prozent, die FDP mit 4 Prozent muss (wie fast immer) um den Landtagseinzug zittern.

Gleichzeitig dürften viele in der CDU dem ehrgeizigen Franken auch dankbar sein. Denn Söder schlug vor oder forderte – je nach Betrachtungsweise –, den Unionskandidaten erst im Herbst 2024 nach den Landtagswahlen in Ostdeutschland zu küren, und nicht schon, wie die CDU es will, im Sommer. Das gäbe allen Beteiligten mehr Zeit, sich in Stellung zu bringen: CDU-Chef Friedrich Merz, NRW-Ministerpräsident Henrik Wüst, der sich ebenfalls zu höheren Aufgaben berufen fühlt – und Söder selbst. TE sprach mit mehreren CDU-Kennern unter der Bedingung der Anonymität vor allem über die Chancen von Merz, seinen Lebenstraum vom Kanzleramt 2025 zu erfüllen.

Einer, der früher in der Machtzentrale arbeitete, die Partei bestens kennt und mit dem Versuch sympathisiert, die CDU wieder bürgerlicher und auch für Konservative wählbar zu machen, sagt: „Merz will unbedingt Kanzler werden. Das ist sein Antrieb: es allen zu zeigen, dass er es schafft, und dass er es besser kann als Merkel.“ Und eigentlich stünden seine Chancen nicht schlecht, sich die Kanzlerkandidatur zu sichern, meint ein führender CDU-Landespolitiker: „Als Parteichef, der von der Basis gewählt wurde, hat er eine starke Position.“ Die Frage lautet: Was macht er daraus? Der Beobachter, der früher im Regierungsapparat arbeitete, zählt die Schwächen des Parteichefs auf.

Zum ersten sein erstaunlich konfliktscheues Verhalten, das nicht zu einem Politiker passt, der Deutschland regieren und in Zukunft mit den Präsidenten der USA, Chinas und Indiens verhandeln will. „Wenn Habeck oder ein anderer Grüner ‚buh‘ ruft, zuckt Friedrich zurück“, meint der Gesprächspartner. Genau das passierte vor fast genau einem Jahr, im August 2022. In Berlin sollte eine Podiumsdiskussion mit dem konservativen US-Senator Lindsey Graham, dem Publizisten Henryk Broder und dem Anwalt Joachim Steinhöfel stattfinden. Die Veranstalter luden Merz ein, er sagte zu. Das wiederum skandalisierte der Grünen-Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz: Unerhört, twitterte er, der CDU-Vorsitzende mache sich mit gefährlichen Rechten gemein.

Merz kuschte, und sagte seine Teilnahme ab. Und zwar mit der gequälten Begründung, die Teilnahme von Steinhöfel sei für ihn nicht akzeptabel. In Wirklichkeit gehört der Anwalt nicht im Geringsten zum sogenannten „rechten Rand“. Einen Namen machte er sich vor allem mit seinen erfolgreichen Klagen gegen Facebook und Youtube wegen willkürlicher Löschungen, er steht also für den zentralen liberalen Wert der Meinungsfreiheit. „Warum“, fragte die NZZ damals, „macht sich Merz so klein?“ Dazu kam, dass sein damaliger Büroleiter Details über die Einladung wie die peinliche Absage einigen Medien steckte, die nicht gerade zu den Merz-Sympathisanten zählen.

Der Parteichef wechselte seinen engsten Mitarbeiter zwar aus – zeigte aber damit gleichzeitig seine zweite Schwäche: „Er hat“, so der eigentlich loyale Merz-Kritiker, „überhaupt kein Händchen für Personal.“ Das zeigte sich auch in der Bestellung von Mario Czaja zum Generalsekretär. Der gehört zwar zu den Talenten der Partei, immerhin gewann er den Berliner Bundestagswahlkreis Marzahn-Hellersdorf, einer Plattenbau-Gegend im Osten, in der die CDU keinen leichten Stand hat. Aber zum Generalsekretär stieg er aus reinen Proporzgründen auf. An seiner Seite, fand Merz, sollte eben das genaue Gegenteil von ihm stehen: ein Ostdeutscher vom Sozialflügel der Partei. Dass Czaja einfach der Biss für den Posten fehlte, merkte Merz erst sehr spät. „Und Czaja“, so ein Parteikenner, „hatte überhaupt kein eigenes Netzwerk mitgebracht.“

Auch das gehört bekanntlich zur Jobbeschreibung eines Parteimanagers. Mit Carsten Linnemann holte Merz dann immerhin jemand, der wie er aus NRW und dem Wirtschaftsflügel stammt, aber Angriffsfähigkeit, strategisches Denken und Netzwerk mitbringt. Mit der Berufung des Wirtschaftsliberal-Konservativen korrigierte Merz auch seinen strategischen Fehler, die Grünen politisch mit Blick auf eine künftige Koalition zu schonen. Wenn das ganze Land wegen der grünen Energie- und Wirtschaftspolitik abstürzt, das ging ihm und seiner Umgebung erst sehr spät auf, dann bleibt dem Oppositionsführer gar nichts anderes übrig, als die Habeck-Partei zum Hauptgegner zu erklären.

Trotzdem bleibt das Adenauer-Haus ein überwiegend selbstverschuldetes Problem des Vorsitzenden. Er unterschätzt auch nach anderthalb Jahren im Amt die Bedeutung der Parteizentrale. Das, glaubt der gut vernetzte Beobachter in Berlin, liege an der politischen Sozialisation des Spitzenmanns: „Er war nur Parlamentarier, bevor er unfreiwillig aus der Politik ging.“ Der Funktionärsapparat sei ihm immer fremd geblieben, in der Fraktion fühle er sich deutlich wohler. Nur: Ein Wahlkampf wird nun einmal nicht von der Fraktion organisiert. Dazu kommt das Bestreben von Merz, dem immer noch großen Merkel-Flügel um des parteiinternen Friedens willen große Zugeständnisse zu machen.

Den wichtigsten Ausschussvorsitzenden-Posten, den die Unionsfraktion beanspruchen kann – den des Haushaltsausschusses – durfte Merkels ehemaliger Kanzleramtschef Helge Braun einnehmen. Auch Merkels früherer Generalsekretär Hermann Gröhe verfügt als Fraktionsvize und stellvertretender Vorsitzender zweier Ausschüsse unter Merz eine herausgehobene Stellung. In der Parteizentrale verzichtete der Parteichef ganz auf einen Personalaustausch. Etliche CDU-Politiker argumentieren, das sei eben der Preis, um den Verein zu befrieden. Und es sei ja bis jetzt auch tatsächlich gelungen, einen großen Zwist mit den Anhängern der Ex-Kanzlerin zu vermeiden.

Manche sehen es aber genau andersherum: Mit seiner Konzilianz habe Merz die Merkelianer überhaupt erst ermuntert, weiter ihre Strippen zu ziehen. Jedenfalls fehlt dem CDU-Chef bis heute eine schlagkräftige Kampagnentruppe, ohne die sich keine Wahlschlacht führen lässt. Das liegt nicht nur daran, dass es im Adenauer-Haus Mitarbeiter gibt, die eine andere Agenda verfolgen als er. Sondern vor allem an der Bräsigkeit des Parteihauptquartiers, die sich vor allem durch Schlafmützigkeit und Dienst nach Vorschrift auszeichnet. Jemand, der Merz nahesteht, erzählt das aus einem Beispiel aus dem letzten Bundestagswahlkampf: Genau in dessen heißer Phase 2021 jährte sich der Bau der Berliner Mauer zum 60. Mal – eigentlich ein idealer Termin für die Partei von Konrad Adenauer und Helmut Kohl, um das Thema Freiheit mit historischem Hintergrund anzureichern, und nebenbei auf die Kumpanei des früheren Juso-Funktionärs Olaf Scholz hinzuweisen. Als jemand ziemlich kurz vor dem 13. August nachfragte, stellte sich heraus: Es gab keinerlei Vorbereitung der Zentrale zu diesem Thema, weder eine Veranstaltung noch Material für Social-Media-Kanäle. Und das nicht mit irgendeiner politischen Absicht. Die Leute im Apparat hatten den Termin schlicht vertüdelt.

Auch diese Mentalität gehört zu der Merkelschen Hinterlassenschaft. Die Kanzlerin wünschte ganz ausdrücklich kein Parteizentrum, das Profilschärfung und programmatische Entwicklung betreibt. Sie brauchte auch keine klassischen Wahlkampagnen. Ihre Methode der „asymmetrischen Demobilisierung“ bestand ja gerade darin, „die Leute auf der anderen Straßenseite einzuschläfern“, wie Merz einmal spottete, also mögliche Konfliktthemen dadurch zu erledigen, dass sie die Positionen der politischen Gegner einfach kaperte, besonders reichlich die der Grünen. Partei wie Fraktion sollten ihr ausschließlich als willige Abnickgremien dienen. Darauf richtete sie auch ihre Kaderpolitik aus: als Generalsekretäre installierte Leute den grenzenlos devoten Hermann Gröhe, der selbst noch grinste, als Merkel ihm bei der Wahlsiegesfeier 2013 auf offener Bühne das Deutschlandfähnchen aus der Hand riss, den aalglatten Karrieristen Peter Tauber und zuletzt Annegret Kamp-Karrenbauer, die nie richtig in dem Job ankam, und auch als Kurzzeit-Parteivorsitzende keine Spuren hinterließ.

In den 16 Merkel-Jahren verlernten die Partei und ihre Zentrale das Angreifen und Kämpfen, und sie verlernten es auf ausdrücklichen Wunsch der Frau an der Spitze. Aber genau diese Fähigkeiten bräuchte sie jetzt dringend, um aus der Opposition wieder an die Macht zu kommen.

Merz, meint der CDU-Kenner in der Hauptstadt, könnte das Versäumnis nicht mehr aufholen, das Adenauer-Haus nicht sofort mit neuen Leuten auf Kampfkurs getrimmt zu haben. Jetzt, gut ein Jahr vor Kür des Spitzenkandidaten, reiche die Zeit nicht mehr, um die Zentrale noch umzukrempeln. Er – oder auch jeder andere Spitzenkandidat – habe nur die Chance, es Franz Müntefering nachzumachen, der 1998 den Wahlkampf für Gerhard Schröder einfach in die von ihm gegründete Kampa auslagerte, und damit das schwerfällige und Schröder nicht unbedingt freundlich gesonnene Willy-Brandt-Haus vorübergehend vom politischen Netz abknipste.

Aber selbst, wenn es gelingt, eine kleine agile Schar von Kampagnenprofis zusammenzutrommeln, bleibt die Frage: Traut sich der Spitzenmann in den politischen Nahkampf? Oder bleibt er der Boxer mit dem Glaskinn, der sich bei jeder Attacke des Gegners in die Ecke flüchtet? Selbst CDUler, die ihm politisch nahestehen, zweifeln mittlerweile daran, dass er noch in den nötigen Angriffsmodus findet. Erst recht nach dessen Herumrudern in der Brandmauer-Frage, mit der linke Parteien und Medien die CDU vor sich hertreiben. Im ARD-Sommerinterview sagte Merz auf die Frage nach der AfD, auf Bundes- und Landesebene werde es unter ihm keine Zusammenarbeit geben. Auf der kommunalen Ebene sei das etwas anders. Allerdings versäumte er das ganz Naheliegende, nämlich darauf hinzuweisen, dass auch SPD, Grüne und sogar die Linkspartei auf Kommunalebene längst hier und da mit der AfD zusammen abstimmen.

Selbst dann, als die politischen Konkurrenten unter Zuhilfenahme von Stichwortgebern aus der CDU anschließend über Merz herfielen und ihn beschuldigten, die „Brandmauer“ zur AfD niederzureißen, wies er nicht etwa auf die Heuchelei hin – sondern ruderte öffentlichkeitswirksam zurück. Auch in Gemeinden und Kreistagen, schob Merz nach, stehe die Brandmauer der CDU. Ohne jede Not versicherte er damit etwas, was er in der Realität überhaupt nicht durchzusetzen vermag. Folglich können seine Gegner in Zukunft jede gemeinsame Abstimmung von CDU-Gemeinderäten mit denen der AfD über ein Buswartehäuschen in Kleinposemuckel zur Autoritätskrise des Vorsitzenden aufblasen.

Als Bundeskanzler Olaf Scholz nur wenige Tage fast das Gleiche sagte wie Merz in dem Interview – den Gemeinplatz, dass in der Kommunalpolitik andere Regeln gelten –, sprang die Empörungsmaschine selbstredend nicht an. Das liegt an der Einseitigkeit der meisten Medien. Nur, fragen sich viele Merz eigentlich wohlgesonnene Unionler: Warum musste er den politischen Gegnern eine Vorlage auf dem Silbertablett servieren? Dieser Fehler, meint der führende Landespolitiker, habe noch nicht einmal etwas mit schlechter Beratung zu tun: „Dass diese Frage im Interview kommen würde, hätte ihm klar sein müssen.“

Friedrich Merz, das merken seine Freunde wie Gegner, fehlt eine für die Eroberung von Spitzenposten zentrale Qualität: die Fähigkeit, Schläge wegzustecken und gleichzeitig auszuteilen. Er besitzt nicht die Elefantenhaut eines Helmut Kohl, der Schmähungen stoisch an sich abtropfen ließ, und der Medienleute, die ihm nicht wohlgesonnen waren, schon mal rüde abbürstete: „Sie sind ein erbärmlicher Journalist.“ Der Pfälzer bemühte sich demonstrativ nicht um die Sympathie eines Milieus, in dem sowieso niemand im Traum daran dachte, CDU zu wählen. Er konzentrierte sich auf die Stammkundschaft der Union.

Der NRW-Regierungschef Wüst hatte in einem FAZ-Gastbeitrag nur leicht verklausuliert den Anspruch erhoben, bei der Auswahl des Unions-Kanzlerkandidaten zumindest mitbestimmen zu wollen. So dürfte es 2024 kommen – wenn auch nur indirekt. Als aussichtsreichen Kanzlerkandidaten nehmen die wenigsten in der Partei den Ministerpräsidenten wahr, der zusammen mit den Grünen in seinem Land Meldestellen für unkorrekte Äußerungen einrichtet und AfD-Wähler pauschal als Demokratiefeinde abschreibt. Sein großes politisches Vorbild Angela Merkel ehrte er im Mai demonstrativ mit dem Staatspreis von Nordrhein-Westfalen. Im Süden wäre der halbgrüne Merkel-Adept als Kandidat kaum, in Osten überhaupt nicht verkäuflich. Und selbst in NRW lagen die Zustimmungswerte zu seiner Regierung im Juni 2023 gerade bei 44 Prozent.

Genau diese Konstellation könnte in einem Jahr den Ausschlag geben. Sollten dann selbst seine Unterstützer an Merz zweifeln und gleichzeitig sehen, dass die Chancen mit der einzigen CDU-internen Alternative Wüst noch sehr viel schlechter stehen, hieße die Notlösung: Söder. Der von politischen Grundüberzeugungen unbelastete Franke verdient zwar den Titel des obersten Opportunisten Deutschlands. In der Corona-Zeit zeigte er außerdem einen ausgeprägt autoritären Zug. Aber niemand spricht ihm die Robustheit im politischen Kampf ab. Er kann Druck aushalten. Im Kampf um die Macht beherrscht er außerdem das, was sein Vorgänger Horst Seehofer einmal „Schmutzeleien“ nannte.

Auch wenn Markus Söder sich erst einmal ziert: Einer mehrheitlichen Bitte aus der Union, 2024 den K-Job zu übernehmen, würde er sich nicht verweigern.

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